"Wenn die gegenwärtige Jmpression, oder ein Zug "in ihr, nicht zu der Klasse von Eindrücken gehöret, aus "denen das Gemeinbild abstrahiret ist, sondern das letz- "tere durch eine Association anderer Eindrücke, woraus "es her ist, erwecket und mit dem gegenwärtigen verei- "niget ist, so ist die Empfindung der unter einem "solchen Gemeinbilde vorgestellte Sache oder Beschaf- "fenheit, nicht mehr eine reine Empfindung;" nicht mehr, was sie in dem erstern Fall war, man mag sie nun einen Schlußgedanken, ein mittelbares Ur- theil, einen mittelbaren Schein, eine unächte Em- pfindung -- wenn sie so schwer von einer reinen Em- pfindung zu unterscheiden ist, -- oder anders nennen, wie man will.
Wenn also die Frage ist, ob wir die reine Empfin- dungen von den mittelbaren Urtheilen aus Empfin- dungen unterscheiden können? so kommt es darauf an, ob wir die ehemaligen Empfindungen, aus denen die Abstraktion von einem Prädikat der Sache genom- men ist, kennen; ob wir solche, so weit jene Abstraktion sie nach ihrer Aehnlichkeit vorstellet, mit der gegenwärti- gen Jmpression von der Sache, vergleichen, und es alsdenn wissen können, in einem Fall, daß die vorigen Empfindungen von der jetzigen verschieden sind, und in einem andern, daß sie einander ähnlich und dieselbi- gen sind? *) Wir haben das Gemeinbild vor uns, und durch dieses sehen wir die ehemaligen Empfindungen, und die gegenwärtige mit. Lassen sich jene Empfindun- gen lebhafter reproduciren? lassen sich die gegenwärti- gen Eindrücke ohne das Gemeinbild lebhafter fühlen, ge- wahrnehmen, und dann, wo sie von jenen verschieden sind, auch wirklich unterscheiden? Das Gemeinbild ist wie ein Glas, das uns vor Augen tritt. Die vergan- gene Empfindungen können wir nur sehen durch dasselbe,
wenig-
*) Versuch 5. VIII.
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der ſinnlich. Kenntn. u. d. vernuͤnftigen.
„Wenn die gegenwaͤrtige Jmpreſſion, oder ein Zug „in ihr, nicht zu der Klaſſe von Eindruͤcken gehoͤret, aus „denen das Gemeinbild abſtrahiret iſt, ſondern das letz- „tere durch eine Aſſociation anderer Eindruͤcke, woraus „es her iſt, erwecket und mit dem gegenwaͤrtigen verei- „niget iſt, ſo iſt die Empfindung der unter einem „ſolchen Gemeinbilde vorgeſtellte Sache oder Beſchaf- „fenheit, nicht mehr eine reine Empfindung;“ nicht mehr, was ſie in dem erſtern Fall war, man mag ſie nun einen Schlußgedanken, ein mittelbares Ur- theil, einen mittelbaren Schein, eine unaͤchte Em- pfindung — wenn ſie ſo ſchwer von einer reinen Em- pfindung zu unterſcheiden iſt, — oder anders nennen, wie man will.
Wenn alſo die Frage iſt, ob wir die reine Empfin- dungen von den mittelbaren Urtheilen aus Empfin- dungen unterſcheiden koͤnnen? ſo kommt es darauf an, ob wir die ehemaligen Empfindungen, aus denen die Abſtraktion von einem Praͤdikat der Sache genom- men iſt, kennen; ob wir ſolche, ſo weit jene Abſtraktion ſie nach ihrer Aehnlichkeit vorſtellet, mit der gegenwaͤrti- gen Jmpreſſion von der Sache, vergleichen, und es alsdenn wiſſen koͤnnen, in einem Fall, daß die vorigen Empfindungen von der jetzigen verſchieden ſind, und in einem andern, daß ſie einander aͤhnlich und dieſelbi- gen ſind? *) Wir haben das Gemeinbild vor uns, und durch dieſes ſehen wir die ehemaligen Empfindungen, und die gegenwaͤrtige mit. Laſſen ſich jene Empfindun- gen lebhafter reproduciren? laſſen ſich die gegenwaͤrti- gen Eindruͤcke ohne das Gemeinbild lebhafter fuͤhlen, ge- wahrnehmen, und dann, wo ſie von jenen verſchieden ſind, auch wirklich unterſcheiden? Das Gemeinbild iſt wie ein Glas, das uns vor Augen tritt. Die vergan- gene Empfindungen koͤnnen wir nur ſehen durch daſſelbe,
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*) Verſuch 5. VIII.
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der ſinnlich. Kenntn. u. d. vernuͤnftigen.
„Wenn die gegenwaͤrtige Jmpreſſion, oder ein Zug
„in ihr, nicht zu der Klaſſe von Eindruͤcken gehoͤret, aus
„denen das Gemeinbild abſtrahiret iſt, ſondern das letz-
„tere durch eine Aſſociation anderer Eindruͤcke, woraus
„es her iſt, erwecket und mit dem gegenwaͤrtigen verei-
„niget iſt, ſo iſt die Empfindung der unter einem
„ſolchen Gemeinbilde vorgeſtellte Sache oder Beſchaf-
„fenheit, nicht mehr eine reine Empfindung;“ nicht
mehr, was ſie in dem erſtern Fall war, man mag ſie
nun einen Schlußgedanken, ein mittelbares Ur-
theil, einen mittelbaren Schein, eine unaͤchte Em-
pfindung — wenn ſie ſo ſchwer von einer reinen Em-
pfindung zu unterſcheiden iſt, — oder anders nennen,
wie man will.
Wenn alſo die Frage iſt, ob wir die reine Empfin-
dungen von den mittelbaren Urtheilen aus Empfin-
dungen unterſcheiden koͤnnen? ſo kommt es darauf an,
ob wir die ehemaligen Empfindungen, aus denen
die Abſtraktion von einem Praͤdikat der Sache genom-
men iſt, kennen; ob wir ſolche, ſo weit jene Abſtraktion
ſie nach ihrer Aehnlichkeit vorſtellet, mit der gegenwaͤrti-
gen Jmpreſſion von der Sache, vergleichen, und es
alsdenn wiſſen koͤnnen, in einem Fall, daß die vorigen
Empfindungen von der jetzigen verſchieden ſind, und
in einem andern, daß ſie einander aͤhnlich und dieſelbi-
gen ſind? *) Wir haben das Gemeinbild vor uns, und
durch dieſes ſehen wir die ehemaligen Empfindungen,
und die gegenwaͤrtige mit. Laſſen ſich jene Empfindun-
gen lebhafter reproduciren? laſſen ſich die gegenwaͤrti-
gen Eindruͤcke ohne das Gemeinbild lebhafter fuͤhlen, ge-
wahrnehmen, und dann, wo ſie von jenen verſchieden
ſind, auch wirklich unterſcheiden? Das Gemeinbild iſt
wie ein Glas, das uns vor Augen tritt. Die vergan-
gene Empfindungen koͤnnen wir nur ſehen durch daſſelbe,
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*) Verſuch 5. VIII.
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 437. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/497>, abgerufen am 23.11.2024.
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