Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.VI. Versuch. Ueber den Unterschied Naturlehre und Seelenlehre; aber da, wo dieselbigeDenkkraft einen höhern Flug in den allgemeinen Theori- en nimmt, und Wahrheiten zu Wissenschaften zusam- menkettet; auf dieser Bahn, die in der Philosophie so schlüpfrig, als sie fest und eben in der Mathematik ist, wie da ihr Gang und was die Richtschnur ihres Verfah- rens sey, das hat man nicht so scharf, so innig, so an- schauend nachgespüret. Und dieß ist die Quelle so man- cher einseitigen Urtheile. Ob die Denkkraft dann viel- leicht nicht mehr in einer ihr natürlichen Beschäftigung sich befinde, wann sie spekuliret? Ob die allgemeinen Abstraktionen und deren Verbindung nicht etwan außer ihrer Atmosphäre liegen? ob sie hier in einer zu dünnen Luft, oder auch beständig mit Nebel und Wolken umge- ben sey, und jemals sichere Kenntnisse erhalten könne? Dieß, meine ich, sind keine Fragen mehr, und Dank sey es den mathematischen Wissenfchaften, daß sie es nicht mehr sind. Auf eine allgemeine Grundwissen- schaft, die in der Philosophie die Algeber seyn soll, will ich mich hier nicht berufen, weil von ihr noch die Frage ist, was man an ihr hat? Hume hat ihr zum voraus ihr Urtheil gesprochen, und nach so mächtigen Versuchen, welche die Metaphysiker und unter diesen Leibnitz und Wolf gemacht haben, sie einzurichten, würde vielleicht die Mehrheit der neuern Philosophen sie aus der Liste der möglichen Wissenschaften ausgestrichen haben wollen. Aber die Geometrie, die Optik, die Astronomie, diese Werke des menschlichen Geistes und unwiderlegliche Beweise seiner Größe, sind doch reelle und feststehende Kenntnisse. Nach welchen Grundregeln bauet denn Menschenvernunft diese ungeheuren Gebäude? Wo fin- det sie dazu den festen Boden, und wie kann sie aus ih- ren einzelnen Empfindungen Allgemeine Grundideen und Principe ziehen, die als ein unerschütterliches Funda- ment so hohen Werken untergeleget werden. Hiebey muß
VI. Verſuch. Ueber den Unterſchied Naturlehre und Seelenlehre; aber da, wo dieſelbigeDenkkraft einen hoͤhern Flug in den allgemeinen Theori- en nimmt, und Wahrheiten zu Wiſſenſchaften zuſam- menkettet; auf dieſer Bahn, die in der Philoſophie ſo ſchluͤpfrig, als ſie feſt und eben in der Mathematik iſt, wie da ihr Gang und was die Richtſchnur ihres Verfah- rens ſey, das hat man nicht ſo ſcharf, ſo innig, ſo an- ſchauend nachgeſpuͤret. Und dieß iſt die Quelle ſo man- cher einſeitigen Urtheile. Ob die Denkkraft dann viel- leicht nicht mehr in einer ihr natuͤrlichen Beſchaͤftigung ſich befinde, wann ſie ſpekuliret? Ob die allgemeinen Abſtraktionen und deren Verbindung nicht etwan außer ihrer Atmoſphaͤre liegen? ob ſie hier in einer zu duͤnnen Luft, oder auch beſtaͤndig mit Nebel und Wolken umge- ben ſey, und jemals ſichere Kenntniſſe erhalten koͤnne? Dieß, meine ich, ſind keine Fragen mehr, und Dank ſey es den mathematiſchen Wiſſenfchaften, daß ſie es nicht mehr ſind. Auf eine allgemeine Grundwiſſen- ſchaft, die in der Philoſophie die Algeber ſeyn ſoll, will ich mich hier nicht berufen, weil von ihr noch die Frage iſt, was man an ihr hat? Hume hat ihr zum voraus ihr Urtheil geſprochen, und nach ſo maͤchtigen Verſuchen, welche die Metaphyſiker und unter dieſen Leibnitz und Wolf gemacht haben, ſie einzurichten, wuͤrde vielleicht die Mehrheit der neuern Philoſophen ſie aus der Liſte der moͤglichen Wiſſenſchaften ausgeſtrichen haben wollen. Aber die Geometrie, die Optik, die Aſtronomie, dieſe Werke des menſchlichen Geiſtes und unwiderlegliche Beweiſe ſeiner Groͤße, ſind doch reelle und feſtſtehende Kenntniſſe. Nach welchen Grundregeln bauet denn Menſchenvernunft dieſe ungeheuren Gebaͤude? Wo fin- det ſie dazu den feſten Boden, und wie kann ſie aus ih- ren einzelnen Empfindungen Allgemeine Grundideen und Principe ziehen, die als ein unerſchuͤtterliches Funda- ment ſo hohen Werken untergeleget werden. Hiebey muß
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VI. Verſuch. Ueber den Unterſchied
Naturlehre und Seelenlehre; aber da, wo dieſelbige
Denkkraft einen hoͤhern Flug in den allgemeinen Theori-
en nimmt, und Wahrheiten zu Wiſſenſchaften zuſam-
menkettet; auf dieſer Bahn, die in der Philoſophie ſo
ſchluͤpfrig, als ſie feſt und eben in der Mathematik iſt,
wie da ihr Gang und was die Richtſchnur ihres Verfah-
rens ſey, das hat man nicht ſo ſcharf, ſo innig, ſo an-
ſchauend nachgeſpuͤret. Und dieß iſt die Quelle ſo man-
cher einſeitigen Urtheile. Ob die Denkkraft dann viel-
leicht nicht mehr in einer ihr natuͤrlichen Beſchaͤftigung
ſich befinde, wann ſie ſpekuliret? Ob die allgemeinen
Abſtraktionen und deren Verbindung nicht etwan außer
ihrer Atmoſphaͤre liegen? ob ſie hier in einer zu duͤnnen
Luft, oder auch beſtaͤndig mit Nebel und Wolken umge-
ben ſey, und jemals ſichere Kenntniſſe erhalten koͤnne?
Dieß, meine ich, ſind keine Fragen mehr, und Dank
ſey es den mathematiſchen Wiſſenfchaften, daß ſie es
nicht mehr ſind. Auf eine allgemeine Grundwiſſen-
ſchaft, die in der Philoſophie die Algeber ſeyn ſoll, will
ich mich hier nicht berufen, weil von ihr noch die Frage
iſt, was man an ihr hat? Hume hat ihr zum voraus
ihr Urtheil geſprochen, und nach ſo maͤchtigen Verſuchen,
welche die Metaphyſiker und unter dieſen Leibnitz und
Wolf gemacht haben, ſie einzurichten, wuͤrde vielleicht
die Mehrheit der neuern Philoſophen ſie aus der Liſte
der moͤglichen Wiſſenſchaften ausgeſtrichen haben wollen.
Aber die Geometrie, die Optik, die Aſtronomie, dieſe
Werke des menſchlichen Geiſtes und unwiderlegliche
Beweiſe ſeiner Groͤße, ſind doch reelle und feſtſtehende
Kenntniſſe. Nach welchen Grundregeln bauet denn
Menſchenvernunft dieſe ungeheuren Gebaͤude? Wo fin-
det ſie dazu den feſten Boden, und wie kann ſie aus ih-
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