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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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V. Versuch. Ueber den Urspr. unserer
Verstande Jnstinkt, wie die Urtheile von unserm existi-
renden Selbst, und von dem, was in diesem ist?

Auf dem Rückweg von den vorhergehenden Bemer-
kungen über die allgemeinen Begriffe zu der Art und Wei-
se, wie sie mit unsern Empfindungen verbunden werden,
und die Urtheile über das Daseyn der Dinge hervorbrin-
gen, liegt noch manches, was nicht übersehen werden
muß, wenn der natürliche Weg des Verstandes deutlich
beobachtet werden soll.

Allgemeine Begriffe können aus andern Abstraktio-
nen zusammengesetzet werden; und daher erfodern nicht
alle eine Mehrheit von ähnlichen Empfindungen, aus de-
nen ihr Gemeinschaftliches abstrahiret werden müßte.
Aber sind nicht die vorhergehende Grundbegriffe von Sub-
jekt und Beschaffenheit, von einem wirklichen Dinge
und von einem Objekt für sich, wahre Abstraktionen, die
also auch verschiedenartige Empfindungen voraussetzen,
bey welchen das Gemeinschaftliche, oder der Gemeinbe-
grif, angetroffen worden ist? die Abstraktion setzet zwar
keine eigentliche Vergleichung voraus, aber doch ein
Analogon davon, ein Zusammenfallen mehrerer ein-
zelnen Empfindungen oder Vorstellungen an Punkten,
wo sie einander ähnlich sind.

Vorausgesetzt also, daß der ganze Jnbegrif von
Empfindungen und Vorstellungen sich schon in unterschie-
dene Haufen und abgesonderte Ganze zertheilet hat; daß
die innern Selbstgefühle der Seele von den Gefühlen des
Körpers, und von diesen wiederum die Empfindungen
der äußern Gegenstände, eines Baums, eines Vogels,
eines Bergs, eines Flusses u. s. w. unterschieden, und
als unterschiedene Ganze und Subjekte dargestellet wer-
den; aus welchen von diesen vertheilten Haufen konnte
und mußte der Stoff zu dem Gemeinbegrif von einem
wirklichen Objekt gezogen werden? Diejenigen, von
welchen die Abstraktion geschehen ist, müssen auch noth-

wendig

V. Verſuch. Ueber den Urſpr. unſerer
Verſtande Jnſtinkt, wie die Urtheile von unſerm exiſti-
renden Selbſt, und von dem, was in dieſem iſt?

Auf dem Ruͤckweg von den vorhergehenden Bemer-
kungen uͤber die allgemeinen Begriffe zu der Art und Wei-
ſe, wie ſie mit unſern Empfindungen verbunden werden,
und die Urtheile uͤber das Daſeyn der Dinge hervorbrin-
gen, liegt noch manches, was nicht uͤberſehen werden
muß, wenn der natuͤrliche Weg des Verſtandes deutlich
beobachtet werden ſoll.

Allgemeine Begriffe koͤnnen aus andern Abſtraktio-
nen zuſammengeſetzet werden; und daher erfodern nicht
alle eine Mehrheit von aͤhnlichen Empfindungen, aus de-
nen ihr Gemeinſchaftliches abſtrahiret werden muͤßte.
Aber ſind nicht die vorhergehende Grundbegriffe von Sub-
jekt und Beſchaffenheit, von einem wirklichen Dinge
und von einem Objekt fuͤr ſich, wahre Abſtraktionen, die
alſo auch verſchiedenartige Empfindungen vorausſetzen,
bey welchen das Gemeinſchaftliche, oder der Gemeinbe-
grif, angetroffen worden iſt? die Abſtraktion ſetzet zwar
keine eigentliche Vergleichung voraus, aber doch ein
Analogon davon, ein Zuſammenfallen mehrerer ein-
zelnen Empfindungen oder Vorſtellungen an Punkten,
wo ſie einander aͤhnlich ſind.

Vorausgeſetzt alſo, daß der ganze Jnbegrif von
Empfindungen und Vorſtellungen ſich ſchon in unterſchie-
dene Haufen und abgeſonderte Ganze zertheilet hat; daß
die innern Selbſtgefuͤhle der Seele von den Gefuͤhlen des
Koͤrpers, und von dieſen wiederum die Empfindungen
der aͤußern Gegenſtaͤnde, eines Baums, eines Vogels,
eines Bergs, eines Fluſſes u. ſ. w. unterſchieden, und
als unterſchiedene Ganze und Subjekte dargeſtellet wer-
den; aus welchen von dieſen vertheilten Haufen konnte
und mußte der Stoff zu dem Gemeinbegrif von einem
wirklichen Objekt gezogen werden? Diejenigen, von
welchen die Abſtraktion geſchehen iſt, muͤſſen auch noth-

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[404/0464] V. Verſuch. Ueber den Urſpr. unſerer Verſtande Jnſtinkt, wie die Urtheile von unſerm exiſti- renden Selbſt, und von dem, was in dieſem iſt? Auf dem Ruͤckweg von den vorhergehenden Bemer- kungen uͤber die allgemeinen Begriffe zu der Art und Wei- ſe, wie ſie mit unſern Empfindungen verbunden werden, und die Urtheile uͤber das Daſeyn der Dinge hervorbrin- gen, liegt noch manches, was nicht uͤberſehen werden muß, wenn der natuͤrliche Weg des Verſtandes deutlich beobachtet werden ſoll. Allgemeine Begriffe koͤnnen aus andern Abſtraktio- nen zuſammengeſetzet werden; und daher erfodern nicht alle eine Mehrheit von aͤhnlichen Empfindungen, aus de- nen ihr Gemeinſchaftliches abſtrahiret werden muͤßte. Aber ſind nicht die vorhergehende Grundbegriffe von Sub- jekt und Beſchaffenheit, von einem wirklichen Dinge und von einem Objekt fuͤr ſich, wahre Abſtraktionen, die alſo auch verſchiedenartige Empfindungen vorausſetzen, bey welchen das Gemeinſchaftliche, oder der Gemeinbe- grif, angetroffen worden iſt? die Abſtraktion ſetzet zwar keine eigentliche Vergleichung voraus, aber doch ein Analogon davon, ein Zuſammenfallen mehrerer ein- zelnen Empfindungen oder Vorſtellungen an Punkten, wo ſie einander aͤhnlich ſind. Vorausgeſetzt alſo, daß der ganze Jnbegrif von Empfindungen und Vorſtellungen ſich ſchon in unterſchie- dene Haufen und abgeſonderte Ganze zertheilet hat; daß die innern Selbſtgefuͤhle der Seele von den Gefuͤhlen des Koͤrpers, und von dieſen wiederum die Empfindungen der aͤußern Gegenſtaͤnde, eines Baums, eines Vogels, eines Bergs, eines Fluſſes u. ſ. w. unterſchieden, und als unterſchiedene Ganze und Subjekte dargeſtellet wer- den; aus welchen von dieſen vertheilten Haufen konnte und mußte der Stoff zu dem Gemeinbegrif von einem wirklichen Objekt gezogen werden? Diejenigen, von welchen die Abſtraktion geſchehen iſt, muͤſſen auch noth- wendig

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 404. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/464>, abgerufen am 27.11.2024.