Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

IV. Versuch. Ueber die Denkkraft
zu können? dieß geht so wenig an, als einem Blinden
die Vorstellung von der rothen Farbe zu verschaffen.

3.

Alle Jdeen und Begriffe sind also ohne Ausnahme
bearbeitete Empfindungsvorstellungen, wie die
Vorstellungen bearbeitete Empfindungen sind. Aber
diese Bearbeitung ist von der Denkkraft geschehen. Und
ist es da nun wohl zu verwundern, daß manche Jdeen,
wenn man sie gegen ihre Empfindungsvorstellungen hält,
von diesen so weit unterschieden zu seyn scheinen; als ir-
gend ein Kunstwerk von seiner rohen Materie? und daß,
es oft so schwer ist, bey ihnen herauszubringen, aus wel-
cher Gattung von Empfindungen ihr erster Stoff herrüh-
ret? Es ist nicht zu läugnen, und wenn man die inne-
re Werkstatt der Denkkraft und die Operationen erweget,
wodurch Empfindungen zu Jdeen verarbeitet werden, zum
voraus zu vermuthen, daß man viele Schwierigkeiten
antreffen werde, wenn man bey besondern Jdeen die
Art ihrer Entstehung deutlich angeben will.

Hr. Reid, und seine Nachfolger haben sich in die-
sen Schwierigkeiten verwickelt, und um herauszukom-
men, die Meinung angenommen, es lasse sich von den
ersten Empfindungsideen, die wir aus dem Gesicht und
dem Gefühl erlangen, weiter gar kein Grund noch eine
Entstehungsart angeben, als daß sie durch die Per-
ceptionskraft der Seele gemacht werden; daß sie von den
Sensationen zwar wesentlich unterschieden, aber Wir-
kungen eines Jnstinkts sind, bey denen man nur fragen
kann, wie sie beschaffen sind, nicht aber, wie sie ent-
stehen?
Es ist außer Zweifel, daß sie Wirkungen des
Jnstinkts sind, nemlich Wirkungen, die aus der Natur
der Denkkraft hervorgehen. Dieß haben Locke und
die übrigen Philosophen nicht geläugnet, denen man da-
durch hat widersprechen wollen. Aber die Frage, welche

jene

IV. Verſuch. Ueber die Denkkraft
zu koͤnnen? dieß geht ſo wenig an, als einem Blinden
die Vorſtellung von der rothen Farbe zu verſchaffen.

3.

Alle Jdeen und Begriffe ſind alſo ohne Ausnahme
bearbeitete Empfindungsvorſtellungen, wie die
Vorſtellungen bearbeitete Empfindungen ſind. Aber
dieſe Bearbeitung iſt von der Denkkraft geſchehen. Und
iſt es da nun wohl zu verwundern, daß manche Jdeen,
wenn man ſie gegen ihre Empfindungsvorſtellungen haͤlt,
von dieſen ſo weit unterſchieden zu ſeyn ſcheinen; als ir-
gend ein Kunſtwerk von ſeiner rohen Materie? und daß,
es oft ſo ſchwer iſt, bey ihnen herauszubringen, aus wel-
cher Gattung von Empfindungen ihr erſter Stoff herruͤh-
ret? Es iſt nicht zu laͤugnen, und wenn man die inne-
re Werkſtatt der Denkkraft und die Operationen erweget,
wodurch Empfindungen zu Jdeen verarbeitet werden, zum
voraus zu vermuthen, daß man viele Schwierigkeiten
antreffen werde, wenn man bey beſondern Jdeen die
Art ihrer Entſtehung deutlich angeben will.

Hr. Reid, und ſeine Nachfolger haben ſich in die-
ſen Schwierigkeiten verwickelt, und um herauszukom-
men, die Meinung angenommen, es laſſe ſich von den
erſten Empfindungsideen, die wir aus dem Geſicht und
dem Gefuͤhl erlangen, weiter gar kein Grund noch eine
Entſtehungsart angeben, als daß ſie durch die Per-
ceptionskraft der Seele gemacht werden; daß ſie von den
Senſationen zwar weſentlich unterſchieden, aber Wir-
kungen eines Jnſtinkts ſind, bey denen man nur fragen
kann, wie ſie beſchaffen ſind, nicht aber, wie ſie ent-
ſtehen?
Es iſt außer Zweifel, daß ſie Wirkungen des
Jnſtinkts ſind, nemlich Wirkungen, die aus der Natur
der Denkkraft hervorgehen. Dieß haben Locke und
die uͤbrigen Philoſophen nicht gelaͤugnet, denen man da-
durch hat widerſprechen wollen. Aber die Frage, welche

jene
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0400" n="340"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">IV.</hi> Ver&#x017F;uch. Ueber die Denkkraft</hi></fw><lb/>
zu ko&#x0364;nnen? dieß geht &#x017F;o wenig an, als einem Blinden<lb/>
die Vor&#x017F;tellung von der rothen Farbe zu ver&#x017F;chaffen.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>3.</head><lb/>
            <p>Alle Jdeen und Begriffe &#x017F;ind al&#x017F;o ohne Ausnahme<lb/><hi rendition="#fr">bearbeitete Empfindungsvor&#x017F;tellungen,</hi> wie die<lb/>
Vor&#x017F;tellungen bearbeitete Empfindungen &#x017F;ind. Aber<lb/>
die&#x017F;e Bearbeitung i&#x017F;t von der Denkkraft ge&#x017F;chehen. Und<lb/>
i&#x017F;t es da nun wohl zu verwundern, daß manche Jdeen,<lb/>
wenn man &#x017F;ie gegen ihre Empfindungsvor&#x017F;tellungen ha&#x0364;lt,<lb/>
von die&#x017F;en &#x017F;o weit unter&#x017F;chieden zu &#x017F;eyn &#x017F;cheinen; als ir-<lb/>
gend ein Kun&#x017F;twerk von &#x017F;einer rohen Materie? und daß,<lb/>
es oft &#x017F;o &#x017F;chwer i&#x017F;t, bey ihnen herauszubringen, aus wel-<lb/>
cher Gattung von Empfindungen ihr er&#x017F;ter Stoff herru&#x0364;h-<lb/>
ret? Es i&#x017F;t nicht zu la&#x0364;ugnen, und wenn man die inne-<lb/>
re Werk&#x017F;tatt der Denkkraft und die Operationen erweget,<lb/>
wodurch Empfindungen zu Jdeen verarbeitet werden, zum<lb/>
voraus zu vermuthen, daß man viele Schwierigkeiten<lb/>
antreffen werde, wenn man bey be&#x017F;ondern Jdeen die<lb/>
Art ihrer Ent&#x017F;tehung deutlich angeben will.</p><lb/>
            <p>Hr. <hi rendition="#fr">Reid,</hi> und &#x017F;eine Nachfolger haben &#x017F;ich in die-<lb/>
&#x017F;en Schwierigkeiten verwickelt, und um herauszukom-<lb/>
men, die Meinung angenommen, es la&#x017F;&#x017F;e &#x017F;ich von den<lb/>
er&#x017F;ten Empfindungsideen, die wir aus dem Ge&#x017F;icht und<lb/>
dem Gefu&#x0364;hl erlangen, weiter gar kein Grund noch eine<lb/>
Ent&#x017F;tehungsart angeben, als daß &#x017F;ie durch die Per-<lb/>
ceptionskraft der Seele gemacht werden; daß &#x017F;ie von den<lb/>
Sen&#x017F;ationen zwar we&#x017F;entlich unter&#x017F;chieden, aber Wir-<lb/>
kungen eines Jn&#x017F;tinkts &#x017F;ind, bey denen man nur fragen<lb/>
kann, <hi rendition="#fr">wie</hi> &#x017F;ie <hi rendition="#fr">be&#x017F;chaffen</hi> &#x017F;ind, nicht aber, wie &#x017F;ie <hi rendition="#fr">ent-<lb/>
&#x017F;tehen?</hi> Es i&#x017F;t außer Zweifel, daß &#x017F;ie Wirkungen des<lb/>
Jn&#x017F;tinkts &#x017F;ind, nemlich Wirkungen, die aus der Natur<lb/>
der Denkkraft hervorgehen. Dieß haben <hi rendition="#fr">Locke</hi> und<lb/>
die u&#x0364;brigen Philo&#x017F;ophen nicht gela&#x0364;ugnet, denen man da-<lb/>
durch hat wider&#x017F;prechen wollen. Aber die Frage, welche<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">jene</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[340/0400] IV. Verſuch. Ueber die Denkkraft zu koͤnnen? dieß geht ſo wenig an, als einem Blinden die Vorſtellung von der rothen Farbe zu verſchaffen. 3. Alle Jdeen und Begriffe ſind alſo ohne Ausnahme bearbeitete Empfindungsvorſtellungen, wie die Vorſtellungen bearbeitete Empfindungen ſind. Aber dieſe Bearbeitung iſt von der Denkkraft geſchehen. Und iſt es da nun wohl zu verwundern, daß manche Jdeen, wenn man ſie gegen ihre Empfindungsvorſtellungen haͤlt, von dieſen ſo weit unterſchieden zu ſeyn ſcheinen; als ir- gend ein Kunſtwerk von ſeiner rohen Materie? und daß, es oft ſo ſchwer iſt, bey ihnen herauszubringen, aus wel- cher Gattung von Empfindungen ihr erſter Stoff herruͤh- ret? Es iſt nicht zu laͤugnen, und wenn man die inne- re Werkſtatt der Denkkraft und die Operationen erweget, wodurch Empfindungen zu Jdeen verarbeitet werden, zum voraus zu vermuthen, daß man viele Schwierigkeiten antreffen werde, wenn man bey beſondern Jdeen die Art ihrer Entſtehung deutlich angeben will. Hr. Reid, und ſeine Nachfolger haben ſich in die- ſen Schwierigkeiten verwickelt, und um herauszukom- men, die Meinung angenommen, es laſſe ſich von den erſten Empfindungsideen, die wir aus dem Geſicht und dem Gefuͤhl erlangen, weiter gar kein Grund noch eine Entſtehungsart angeben, als daß ſie durch die Per- ceptionskraft der Seele gemacht werden; daß ſie von den Senſationen zwar weſentlich unterſchieden, aber Wir- kungen eines Jnſtinkts ſind, bey denen man nur fragen kann, wie ſie beſchaffen ſind, nicht aber, wie ſie ent- ſtehen? Es iſt außer Zweifel, daß ſie Wirkungen des Jnſtinkts ſind, nemlich Wirkungen, die aus der Natur der Denkkraft hervorgehen. Dieß haben Locke und die uͤbrigen Philoſophen nicht gelaͤugnet, denen man da- durch hat widerſprechen wollen. Aber die Frage, welche jene

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/400
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 340. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/400>, abgerufen am 24.11.2024.