Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

IV. Versuch. Ueber die Denkkraft
ist nicht ihr Werk. Es sey indeß Phantasie oder Ver-
nunft; genug es ist innere Erkenntnißkraft, auf deren
Bestreben der Schlußgedanke wirklich wird. Begreif-
lich
ist also die Folge aus ihrem Grunde, darum, weil
der letztere ein solcher Gedanke ist, auf welchen in der
thätigen Ueberlegungskraft, die ihn bearbeitet, ein ande-
rer, der seine Folge ist, hervorkommt.

Viertens. Wir sehen so viele Dinge außer uns
und in uns für Ursachen und Wirkungen von einander
an, und sagen nicht, daß wir diese aus jenen begreifen.
Das können wir auch nicht sagen, wenn wir aus un-
sern Denkthätigkeiten wissen, was Begreifen heiße.
Es lieget auch nicht allemal daran, daß wir etwan das-
jenige, was in der Reihe zwischen der Ursache und ihrer
Wirkung lieget, nicht genau und deutlich genug empfin-
den und uns vorstellen. Fontenelle hatte den Einfall,
das Philosophiren würde unnütz seyn, wenn der Mensch
schärfere Sinne hätte, und alle kleine Uebergänge von
einer Veränderung zur andern, die während ihrer Aktion
in einander, in dem Jnnern der Dinge vorgehen, mit
Augen beschauen könnte. Die deutliche Empfindung
befördert das Begreifen; aber wir würden bey der
schärfsten, eindringendsten, microscopischen Empfindung
dennoch nichts begreifen, wenn nicht zugleich auch die
vorhergehende Vorstellung, von dem Verstande bear-
beitet, die nachfolgende so aus sich erzeugte, wie ein
Grundsatz sein Korollarium. Wo das Wie einer Sa-
che erkannt, das heißt, wo begriffen werden soll, da
muß dieses letztere nicht fehlen; sonsten bleibet es nur
bey der Erkenntniß, daß die Sache sey, aber wir be-
greifen nicht, wodurch und wie sie so sey?

Jn solchen Fällen, wo wir aus der Vorstellung des
Vorhergehenden eine nachfolgende wirklich werdende Sa-
che begreifen, da nehmen wir ohne Bedenken eine wir-
kende
Verbindung, eine physische Abhängigkeit in

den

IV. Verſuch. Ueber die Denkkraft
iſt nicht ihr Werk. Es ſey indeß Phantaſie oder Ver-
nunft; genug es iſt innere Erkenntnißkraft, auf deren
Beſtreben der Schlußgedanke wirklich wird. Begreif-
lich
iſt alſo die Folge aus ihrem Grunde, darum, weil
der letztere ein ſolcher Gedanke iſt, auf welchen in der
thaͤtigen Ueberlegungskraft, die ihn bearbeitet, ein ande-
rer, der ſeine Folge iſt, hervorkommt.

Viertens. Wir ſehen ſo viele Dinge außer uns
und in uns fuͤr Urſachen und Wirkungen von einander
an, und ſagen nicht, daß wir dieſe aus jenen begreifen.
Das koͤnnen wir auch nicht ſagen, wenn wir aus un-
ſern Denkthaͤtigkeiten wiſſen, was Begreifen heiße.
Es lieget auch nicht allemal daran, daß wir etwan das-
jenige, was in der Reihe zwiſchen der Urſache und ihrer
Wirkung lieget, nicht genau und deutlich genug empfin-
den und uns vorſtellen. Fontenelle hatte den Einfall,
das Philoſophiren wuͤrde unnuͤtz ſeyn, wenn der Menſch
ſchaͤrfere Sinne haͤtte, und alle kleine Uebergaͤnge von
einer Veraͤnderung zur andern, die waͤhrend ihrer Aktion
in einander, in dem Jnnern der Dinge vorgehen, mit
Augen beſchauen koͤnnte. Die deutliche Empfindung
befoͤrdert das Begreifen; aber wir wuͤrden bey der
ſchaͤrfſten, eindringendſten, microſcopiſchen Empfindung
dennoch nichts begreifen, wenn nicht zugleich auch die
vorhergehende Vorſtellung, von dem Verſtande bear-
beitet, die nachfolgende ſo aus ſich erzeugte, wie ein
Grundſatz ſein Korollarium. Wo das Wie einer Sa-
che erkannt, das heißt, wo begriffen werden ſoll, da
muß dieſes letztere nicht fehlen; ſonſten bleibet es nur
bey der Erkenntniß, daß die Sache ſey, aber wir be-
greifen nicht, wodurch und wie ſie ſo ſey?

Jn ſolchen Faͤllen, wo wir aus der Vorſtellung des
Vorhergehenden eine nachfolgende wirklich werdende Sa-
che begreifen, da nehmen wir ohne Bedenken eine wir-
kende
Verbindung, eine phyſiſche Abhaͤngigkeit in

den
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0386" n="326"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">IV.</hi> Ver&#x017F;uch. Ueber die Denkkraft</hi></fw><lb/>
i&#x017F;t nicht ihr Werk. Es &#x017F;ey indeß Phanta&#x017F;ie oder Ver-<lb/>
nunft; genug es i&#x017F;t innere Erkenntnißkraft, auf deren<lb/>
Be&#x017F;treben der Schlußgedanke wirklich wird. <hi rendition="#fr">Begreif-<lb/>
lich</hi> i&#x017F;t al&#x017F;o die Folge aus ihrem Grunde, darum, weil<lb/>
der letztere ein &#x017F;olcher Gedanke i&#x017F;t, auf welchen in der<lb/>
tha&#x0364;tigen Ueberlegungskraft, die ihn bearbeitet, ein ande-<lb/>
rer, der &#x017F;eine Folge i&#x017F;t, hervorkommt.</p><lb/>
            <p><hi rendition="#fr">Viertens.</hi> Wir &#x017F;ehen &#x017F;o viele Dinge außer uns<lb/>
und in uns fu&#x0364;r Ur&#x017F;achen und Wirkungen von einander<lb/>
an, und &#x017F;agen nicht, daß wir die&#x017F;e aus jenen <hi rendition="#fr">begreifen.</hi><lb/>
Das ko&#x0364;nnen wir auch nicht &#x017F;agen, wenn wir aus un-<lb/>
&#x017F;ern Denktha&#x0364;tigkeiten wi&#x017F;&#x017F;en, was Begreifen heiße.<lb/>
Es lieget auch nicht allemal daran, daß wir etwan das-<lb/>
jenige, was in der Reihe zwi&#x017F;chen der Ur&#x017F;ache und ihrer<lb/>
Wirkung lieget, nicht genau und deutlich genug empfin-<lb/>
den und uns vor&#x017F;tellen. <hi rendition="#fr">Fontenelle</hi> hatte den Einfall,<lb/>
das Philo&#x017F;ophiren wu&#x0364;rde unnu&#x0364;tz &#x017F;eyn, wenn der Men&#x017F;ch<lb/>
&#x017F;cha&#x0364;rfere Sinne ha&#x0364;tte, und alle kleine Ueberga&#x0364;nge von<lb/>
einer Vera&#x0364;nderung zur andern, die wa&#x0364;hrend ihrer Aktion<lb/>
in einander, in dem Jnnern der Dinge vorgehen, mit<lb/>
Augen be&#x017F;chauen ko&#x0364;nnte. Die deutliche Empfindung<lb/>
befo&#x0364;rdert das <hi rendition="#fr">Begreifen;</hi> aber wir wu&#x0364;rden bey der<lb/>
&#x017F;cha&#x0364;rf&#x017F;ten, eindringend&#x017F;ten, micro&#x017F;copi&#x017F;chen Empfindung<lb/>
dennoch nichts <hi rendition="#fr">begreifen,</hi> wenn nicht zugleich auch die<lb/>
vorhergehende Vor&#x017F;tellung, von dem Ver&#x017F;tande bear-<lb/>
beitet, die nachfolgende &#x017F;o aus &#x017F;ich erzeugte, wie ein<lb/>
Grund&#x017F;atz &#x017F;ein Korollarium. Wo das <hi rendition="#fr">Wie</hi> einer Sa-<lb/>
che erkannt, das heißt, wo <hi rendition="#fr">begriffen</hi> werden &#x017F;oll, da<lb/>
muß die&#x017F;es letztere nicht fehlen; &#x017F;on&#x017F;ten bleibet es nur<lb/>
bey der Erkenntniß, <hi rendition="#fr">daß</hi> die Sache &#x017F;ey, aber wir be-<lb/>
greifen nicht, <hi rendition="#fr">wodurch</hi> und <hi rendition="#fr">wie</hi> &#x017F;ie &#x017F;o &#x017F;ey?</p><lb/>
            <p>Jn &#x017F;olchen Fa&#x0364;llen, wo wir aus der Vor&#x017F;tellung des<lb/>
Vorhergehenden eine nachfolgende wirklich werdende Sa-<lb/>
che begreifen, da nehmen wir ohne Bedenken eine <hi rendition="#fr">wir-<lb/>
kende</hi> Verbindung, eine phy&#x017F;i&#x017F;che <hi rendition="#fr">Abha&#x0364;ngigkeit</hi> in<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">den</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[326/0386] IV. Verſuch. Ueber die Denkkraft iſt nicht ihr Werk. Es ſey indeß Phantaſie oder Ver- nunft; genug es iſt innere Erkenntnißkraft, auf deren Beſtreben der Schlußgedanke wirklich wird. Begreif- lich iſt alſo die Folge aus ihrem Grunde, darum, weil der letztere ein ſolcher Gedanke iſt, auf welchen in der thaͤtigen Ueberlegungskraft, die ihn bearbeitet, ein ande- rer, der ſeine Folge iſt, hervorkommt. Viertens. Wir ſehen ſo viele Dinge außer uns und in uns fuͤr Urſachen und Wirkungen von einander an, und ſagen nicht, daß wir dieſe aus jenen begreifen. Das koͤnnen wir auch nicht ſagen, wenn wir aus un- ſern Denkthaͤtigkeiten wiſſen, was Begreifen heiße. Es lieget auch nicht allemal daran, daß wir etwan das- jenige, was in der Reihe zwiſchen der Urſache und ihrer Wirkung lieget, nicht genau und deutlich genug empfin- den und uns vorſtellen. Fontenelle hatte den Einfall, das Philoſophiren wuͤrde unnuͤtz ſeyn, wenn der Menſch ſchaͤrfere Sinne haͤtte, und alle kleine Uebergaͤnge von einer Veraͤnderung zur andern, die waͤhrend ihrer Aktion in einander, in dem Jnnern der Dinge vorgehen, mit Augen beſchauen koͤnnte. Die deutliche Empfindung befoͤrdert das Begreifen; aber wir wuͤrden bey der ſchaͤrfſten, eindringendſten, microſcopiſchen Empfindung dennoch nichts begreifen, wenn nicht zugleich auch die vorhergehende Vorſtellung, von dem Verſtande bear- beitet, die nachfolgende ſo aus ſich erzeugte, wie ein Grundſatz ſein Korollarium. Wo das Wie einer Sa- che erkannt, das heißt, wo begriffen werden ſoll, da muß dieſes letztere nicht fehlen; ſonſten bleibet es nur bey der Erkenntniß, daß die Sache ſey, aber wir be- greifen nicht, wodurch und wie ſie ſo ſey? Jn ſolchen Faͤllen, wo wir aus der Vorſtellung des Vorhergehenden eine nachfolgende wirklich werdende Sa- che begreifen, da nehmen wir ohne Bedenken eine wir- kende Verbindung, eine phyſiſche Abhaͤngigkeit in den

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/386
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 326. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/386>, abgerufen am 23.12.2024.