Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

IV. Versuch. Ueber die Denkkraft
ner gegenwärtigen Modifikation, als vielmehr mit der
Nachempfindung oder der Empfindungsvorstel-
lung
verbindet; aber er kann doch an sich schon statt fin-
den, ehe eine allgemeine Vorstellung abgesondert ist, und
sich bey bloßen Empfindungsvorstellungen von einzelnen
Dingen schon äußern; ob wir gleich die Aktion des Ge-
wahrnehmens und den Gedanken von dem Verhältniß,
in uns nicht beobachten können, als nur dann, wenn
viele Gemeinbilder schon vorhanden sind. Wie die letz-
tern das Gewahrnehmen befördern, ist aus dem klar,
was anderswo über sie gesagt worden ist. *) Aber es
würde übereilt seyn, zu behaupten, daß ihre Beyhülfe
schlechthin zu der erstern Hervorlockung des Gewahrneh-
mens und des Unterscheidens unentbehrlich sey. Sollte
nicht der Eindruck von dem Berg gegen den Eindruck
von dem Wasser, und die Gegeneinanderstellung dieser
ersten simpeln individuellen Empfindungsideen genug
seyn, den Aktus des Unterscheidens zu erregen? Aber
wahr ist es, daß in dem Augenblick, wenn wir auch ein-
zelne Empfindungsvorstellungen vergleichen, viele von
den einzelnen Zügen in ihnen entweder zugleich wegfallen,
oder nicht geachtet werden, so daß sie das völlig Bestimm-
te der ersten Empfindungsvorstellungen nicht mehr an sich
haben, und also, von dieser Seite betrachtet, auf et-
was, das in mehrern Empfindungen gemeinschaftlich ist,
das ist, auf etwas Allgemeines eingeschränkt sind. Da-
her wird es wahrscheinlich, daß sich schon Gemeinbilder
abgesondert und geformet haben, ehe die Thätigkeit der
Seele im Gewahrnehmen in einer bemerkbaren Größe
hervorgeht.

Die übrigen Verhältnißgedanken, die Gedanken
von der ursachlichen Beziehung, von der Beziehung
des einen auf ein anders, als ein Prädikat auf sein

Sub-
*) Erster Versuch XV. 6.

IV. Verſuch. Ueber die Denkkraft
ner gegenwaͤrtigen Modifikation, als vielmehr mit der
Nachempfindung oder der Empfindungsvorſtel-
lung
verbindet; aber er kann doch an ſich ſchon ſtatt fin-
den, ehe eine allgemeine Vorſtellung abgeſondert iſt, und
ſich bey bloßen Empfindungsvorſtellungen von einzelnen
Dingen ſchon aͤußern; ob wir gleich die Aktion des Ge-
wahrnehmens und den Gedanken von dem Verhaͤltniß,
in uns nicht beobachten koͤnnen, als nur dann, wenn
viele Gemeinbilder ſchon vorhanden ſind. Wie die letz-
tern das Gewahrnehmen befoͤrdern, iſt aus dem klar,
was anderswo uͤber ſie geſagt worden iſt. *) Aber es
wuͤrde uͤbereilt ſeyn, zu behaupten, daß ihre Beyhuͤlfe
ſchlechthin zu der erſtern Hervorlockung des Gewahrneh-
mens und des Unterſcheidens unentbehrlich ſey. Sollte
nicht der Eindruck von dem Berg gegen den Eindruck
von dem Waſſer, und die Gegeneinanderſtellung dieſer
erſten ſimpeln individuellen Empfindungsideen genug
ſeyn, den Aktus des Unterſcheidens zu erregen? Aber
wahr iſt es, daß in dem Augenblick, wenn wir auch ein-
zelne Empfindungsvorſtellungen vergleichen, viele von
den einzelnen Zuͤgen in ihnen entweder zugleich wegfallen,
oder nicht geachtet werden, ſo daß ſie das voͤllig Beſtimm-
te der erſten Empfindungsvorſtellungen nicht mehr an ſich
haben, und alſo, von dieſer Seite betrachtet, auf et-
was, das in mehrern Empfindungen gemeinſchaftlich iſt,
das iſt, auf etwas Allgemeines eingeſchraͤnkt ſind. Da-
her wird es wahrſcheinlich, daß ſich ſchon Gemeinbilder
abgeſondert und geformet haben, ehe die Thaͤtigkeit der
Seele im Gewahrnehmen in einer bemerkbaren Groͤße
hervorgeht.

Die uͤbrigen Verhaͤltnißgedanken, die Gedanken
von der urſachlichen Beziehung, von der Beziehung
des einen auf ein anders, als ein Praͤdikat auf ſein

Sub-
*) Erſter Verſuch XV. 6.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0364" n="304"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">IV.</hi> Ver&#x017F;uch. Ueber die Denkkraft</hi></fw><lb/>
ner gegenwa&#x0364;rtigen Modifikation, als vielmehr mit der<lb/><hi rendition="#fr">Nachempfindung</hi> oder der <hi rendition="#fr">Empfindungsvor&#x017F;tel-<lb/>
lung</hi> verbindet; aber er kann doch an &#x017F;ich &#x017F;chon &#x017F;tatt fin-<lb/>
den, ehe eine allgemeine Vor&#x017F;tellung abge&#x017F;ondert i&#x017F;t, und<lb/>
&#x017F;ich bey bloßen Empfindungsvor&#x017F;tellungen von einzelnen<lb/>
Dingen &#x017F;chon a&#x0364;ußern; ob wir gleich die Aktion des Ge-<lb/>
wahrnehmens und den Gedanken von dem Verha&#x0364;ltniß,<lb/>
in uns nicht beobachten ko&#x0364;nnen, als nur dann, wenn<lb/>
viele Gemeinbilder &#x017F;chon vorhanden &#x017F;ind. Wie die letz-<lb/>
tern das Gewahrnehmen befo&#x0364;rdern, i&#x017F;t aus dem klar,<lb/>
was anderswo u&#x0364;ber &#x017F;ie ge&#x017F;agt worden i&#x017F;t. <note place="foot" n="*)">Er&#x017F;ter Ver&#x017F;uch <hi rendition="#aq">XV.</hi> 6.</note> Aber es<lb/>
wu&#x0364;rde u&#x0364;bereilt &#x017F;eyn, zu behaupten, daß ihre Beyhu&#x0364;lfe<lb/>
&#x017F;chlechthin zu der er&#x017F;tern Hervorlockung des Gewahrneh-<lb/>
mens und des Unter&#x017F;cheidens unentbehrlich &#x017F;ey. Sollte<lb/>
nicht der Eindruck von dem Berg gegen den Eindruck<lb/>
von dem Wa&#x017F;&#x017F;er, und die Gegeneinander&#x017F;tellung die&#x017F;er<lb/>
er&#x017F;ten &#x017F;impeln individuellen Empfindungsideen genug<lb/>
&#x017F;eyn, den Aktus des Unter&#x017F;cheidens zu erregen? Aber<lb/>
wahr i&#x017F;t es, daß in dem Augenblick, wenn wir auch ein-<lb/>
zelne Empfindungsvor&#x017F;tellungen vergleichen, viele von<lb/>
den einzelnen Zu&#x0364;gen in ihnen entweder zugleich wegfallen,<lb/>
oder nicht geachtet werden, &#x017F;o daß &#x017F;ie das vo&#x0364;llig Be&#x017F;timm-<lb/>
te der er&#x017F;ten Empfindungsvor&#x017F;tellungen nicht mehr an &#x017F;ich<lb/>
haben, und al&#x017F;o, von die&#x017F;er Seite betrachtet, auf et-<lb/>
was, das in mehrern Empfindungen gemein&#x017F;chaftlich i&#x017F;t,<lb/>
das i&#x017F;t, auf etwas Allgemeines einge&#x017F;chra&#x0364;nkt &#x017F;ind. Da-<lb/>
her wird es wahr&#x017F;cheinlich, daß &#x017F;ich &#x017F;chon Gemeinbilder<lb/>
abge&#x017F;ondert und geformet haben, ehe die Tha&#x0364;tigkeit der<lb/>
Seele im Gewahrnehmen in einer bemerkbaren Gro&#x0364;ße<lb/>
hervorgeht.</p><lb/>
            <p>Die u&#x0364;brigen Verha&#x0364;ltnißgedanken, die Gedanken<lb/>
von der <hi rendition="#fr">ur&#x017F;achlichen</hi> Beziehung, von der Beziehung<lb/>
des einen auf ein anders, als ein <hi rendition="#fr">Pra&#x0364;dikat auf &#x017F;ein</hi><lb/>
<fw place="bottom" type="catch"><hi rendition="#fr">Sub-</hi></fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[304/0364] IV. Verſuch. Ueber die Denkkraft ner gegenwaͤrtigen Modifikation, als vielmehr mit der Nachempfindung oder der Empfindungsvorſtel- lung verbindet; aber er kann doch an ſich ſchon ſtatt fin- den, ehe eine allgemeine Vorſtellung abgeſondert iſt, und ſich bey bloßen Empfindungsvorſtellungen von einzelnen Dingen ſchon aͤußern; ob wir gleich die Aktion des Ge- wahrnehmens und den Gedanken von dem Verhaͤltniß, in uns nicht beobachten koͤnnen, als nur dann, wenn viele Gemeinbilder ſchon vorhanden ſind. Wie die letz- tern das Gewahrnehmen befoͤrdern, iſt aus dem klar, was anderswo uͤber ſie geſagt worden iſt. *) Aber es wuͤrde uͤbereilt ſeyn, zu behaupten, daß ihre Beyhuͤlfe ſchlechthin zu der erſtern Hervorlockung des Gewahrneh- mens und des Unterſcheidens unentbehrlich ſey. Sollte nicht der Eindruck von dem Berg gegen den Eindruck von dem Waſſer, und die Gegeneinanderſtellung dieſer erſten ſimpeln individuellen Empfindungsideen genug ſeyn, den Aktus des Unterſcheidens zu erregen? Aber wahr iſt es, daß in dem Augenblick, wenn wir auch ein- zelne Empfindungsvorſtellungen vergleichen, viele von den einzelnen Zuͤgen in ihnen entweder zugleich wegfallen, oder nicht geachtet werden, ſo daß ſie das voͤllig Beſtimm- te der erſten Empfindungsvorſtellungen nicht mehr an ſich haben, und alſo, von dieſer Seite betrachtet, auf et- was, das in mehrern Empfindungen gemeinſchaftlich iſt, das iſt, auf etwas Allgemeines eingeſchraͤnkt ſind. Da- her wird es wahrſcheinlich, daß ſich ſchon Gemeinbilder abgeſondert und geformet haben, ehe die Thaͤtigkeit der Seele im Gewahrnehmen in einer bemerkbaren Groͤße hervorgeht. Die uͤbrigen Verhaͤltnißgedanken, die Gedanken von der urſachlichen Beziehung, von der Beziehung des einen auf ein anders, als ein Praͤdikat auf ſein Sub- *) Erſter Verſuch XV. 6.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/364
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 304. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/364>, abgerufen am 23.12.2024.