Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

und über das Denken.
schiedene Philosophen es als ausgemacht an, daß die
Verstandes- und Vernunftfähigkeit eine Eigenheit
der menschlichen Seele sey, in Vergleichung mit den
blos empfindenden und sinnlichen Thierseelen. Nach
dieser Voraussetzung haben sie sich der Vergleichung
der Menschen mit den Thieren bedienet, um hinter die
Grundbeschaffenheit des Verstandes, und also auch ihrer
Quelle der Denkkraft und des Beziehungsvermögens zu
kommen. Aber es scheinet nicht, als wenn dieser Weg
bisher zum Ziel hingebracht hätte. So manche gute
und fruchtbare Bemerkungen über das Unterscheidungs-
merkmal der Menschheit, und so manche schöne Aufklä-
rungen über die Natur des Verstandes, und der Denk-
kraft, die außer Zweifel unter den Eigenheiten des Men-
schen einer der wesentlichsten und vorzüglichsten, und
wohl der Mittelpunkt aller übrigen ist, dadurch entdecket
sind, so getraue ich mich doch nicht, von dieser Ver-
gleichung vorher etwas erhebliches zu versprechen, als
bis die Natur und der Grund des Verstandes, aus sei-
nen Wirkungen in uns selbst, in unsern Denkarten und
Kenntnissen, so weit es angehet, aus Beobachtungen
sorgfältig zergliedert ist. Der vornehmste Charakter
der Menschheit ist wohl in der Denkkraft. Aber ob diese
darum die einzige sey, und ob nicht die menschliche Seele
auch allein als empfindendes und fühlendes Wesen, schon
Eigenheiten und Vorzüge an Stärke, Feinheit, Aus-
dehnung, Vielseitigkeit u. s. w. vor den Thieren besitze,
ist noch unausgemacht, wenn auch vorausgesetzet wird,
was schon vieles zugegeben heißt, daß die Grenzen zwi-
schen Menschheit und Thierheit genau und bestimmt er-
kannt werden können.

Auch diesen Weg habe ich also nicht wählen wollen.
Wenn wir zuvörderst in unserm Jnnern selbst die Aeuße-
rungen der Denkkraft aufgesucht, diese zergliedert, und

nach
T 5

und uͤber das Denken.
ſchiedene Philoſophen es als ausgemacht an, daß die
Verſtandes- und Vernunftfaͤhigkeit eine Eigenheit
der menſchlichen Seele ſey, in Vergleichung mit den
blos empfindenden und ſinnlichen Thierſeelen. Nach
dieſer Vorausſetzung haben ſie ſich der Vergleichung
der Menſchen mit den Thieren bedienet, um hinter die
Grundbeſchaffenheit des Verſtandes, und alſo auch ihrer
Quelle der Denkkraft und des Beziehungsvermoͤgens zu
kommen. Aber es ſcheinet nicht, als wenn dieſer Weg
bisher zum Ziel hingebracht haͤtte. So manche gute
und fruchtbare Bemerkungen uͤber das Unterſcheidungs-
merkmal der Menſchheit, und ſo manche ſchoͤne Aufklaͤ-
rungen uͤber die Natur des Verſtandes, und der Denk-
kraft, die außer Zweifel unter den Eigenheiten des Men-
ſchen einer der weſentlichſten und vorzuͤglichſten, und
wohl der Mittelpunkt aller uͤbrigen iſt, dadurch entdecket
ſind, ſo getraue ich mich doch nicht, von dieſer Ver-
gleichung vorher etwas erhebliches zu verſprechen, als
bis die Natur und der Grund des Verſtandes, aus ſei-
nen Wirkungen in uns ſelbſt, in unſern Denkarten und
Kenntniſſen, ſo weit es angehet, aus Beobachtungen
ſorgfaͤltig zergliedert iſt. Der vornehmſte Charakter
der Menſchheit iſt wohl in der Denkkraft. Aber ob dieſe
darum die einzige ſey, und ob nicht die menſchliche Seele
auch allein als empfindendes und fuͤhlendes Weſen, ſchon
Eigenheiten und Vorzuͤge an Staͤrke, Feinheit, Aus-
dehnung, Vielſeitigkeit u. ſ. w. vor den Thieren beſitze,
iſt noch unausgemacht, wenn auch vorausgeſetzet wird,
was ſchon vieles zugegeben heißt, daß die Grenzen zwi-
ſchen Menſchheit und Thierheit genau und beſtimmt er-
kannt werden koͤnnen.

Auch dieſen Weg habe ich alſo nicht waͤhlen wollen.
Wenn wir zuvoͤrderſt in unſerm Jnnern ſelbſt die Aeuße-
rungen der Denkkraft aufgeſucht, dieſe zergliedert, und

nach
T 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0357" n="297"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">und u&#x0364;ber das Denken.</hi></fw><lb/>
&#x017F;chiedene Philo&#x017F;ophen es als ausgemacht an, daß die<lb/><hi rendition="#fr">Ver&#x017F;tandes</hi>- und <hi rendition="#fr">Vernunftfa&#x0364;higkeit</hi> eine Eigenheit<lb/>
der men&#x017F;chlichen Seele &#x017F;ey, in Vergleichung mit den<lb/>
blos empfindenden und &#x017F;innlichen Thier&#x017F;eelen. Nach<lb/>
die&#x017F;er Voraus&#x017F;etzung haben &#x017F;ie &#x017F;ich der Vergleichung<lb/>
der Men&#x017F;chen mit den Thieren bedienet, um hinter die<lb/>
Grundbe&#x017F;chaffenheit des Ver&#x017F;tandes, und al&#x017F;o auch ihrer<lb/>
Quelle der Denkkraft und des Beziehungsvermo&#x0364;gens zu<lb/>
kommen. Aber es &#x017F;cheinet nicht, als wenn die&#x017F;er Weg<lb/>
bisher zum Ziel hingebracht ha&#x0364;tte. So manche gute<lb/>
und fruchtbare Bemerkungen u&#x0364;ber das Unter&#x017F;cheidungs-<lb/>
merkmal der Men&#x017F;chheit, und &#x017F;o manche &#x017F;cho&#x0364;ne Aufkla&#x0364;-<lb/>
rungen u&#x0364;ber die Natur des Ver&#x017F;tandes, und der Denk-<lb/>
kraft, die außer Zweifel unter den Eigenheiten des Men-<lb/>
&#x017F;chen einer der we&#x017F;entlich&#x017F;ten und vorzu&#x0364;glich&#x017F;ten, und<lb/>
wohl der Mittelpunkt aller u&#x0364;brigen i&#x017F;t, dadurch entdecket<lb/>
&#x017F;ind, &#x017F;o getraue ich mich doch nicht, von die&#x017F;er Ver-<lb/>
gleichung vorher etwas erhebliches zu ver&#x017F;prechen, als<lb/>
bis die Natur und der Grund des Ver&#x017F;tandes, aus &#x017F;ei-<lb/>
nen Wirkungen in uns &#x017F;elb&#x017F;t, in un&#x017F;ern Denkarten und<lb/>
Kenntni&#x017F;&#x017F;en, &#x017F;o weit es angehet, aus Beobachtungen<lb/>
&#x017F;orgfa&#x0364;ltig zergliedert i&#x017F;t. Der vornehm&#x017F;te Charakter<lb/>
der Men&#x017F;chheit i&#x017F;t wohl in der Denkkraft. Aber ob die&#x017F;e<lb/>
darum die einzige &#x017F;ey, und ob nicht die men&#x017F;chliche Seele<lb/>
auch allein als empfindendes und fu&#x0364;hlendes We&#x017F;en, &#x017F;chon<lb/>
Eigenheiten und Vorzu&#x0364;ge an Sta&#x0364;rke, Feinheit, Aus-<lb/>
dehnung, Viel&#x017F;eitigkeit u. &#x017F;. w. vor den Thieren be&#x017F;itze,<lb/>
i&#x017F;t noch unausgemacht, wenn auch vorausge&#x017F;etzet wird,<lb/>
was &#x017F;chon vieles zugegeben heißt, daß die Grenzen zwi-<lb/>
&#x017F;chen Men&#x017F;chheit und Thierheit genau und be&#x017F;timmt er-<lb/>
kannt werden ko&#x0364;nnen.</p><lb/>
          <p>Auch die&#x017F;en Weg habe ich al&#x017F;o nicht wa&#x0364;hlen wollen.<lb/>
Wenn wir zuvo&#x0364;rder&#x017F;t in un&#x017F;erm Jnnern &#x017F;elb&#x017F;t die Aeuße-<lb/>
rungen der Denkkraft aufge&#x017F;ucht, die&#x017F;e zergliedert, und<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">T 5</fw><fw place="bottom" type="catch">nach</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[297/0357] und uͤber das Denken. ſchiedene Philoſophen es als ausgemacht an, daß die Verſtandes- und Vernunftfaͤhigkeit eine Eigenheit der menſchlichen Seele ſey, in Vergleichung mit den blos empfindenden und ſinnlichen Thierſeelen. Nach dieſer Vorausſetzung haben ſie ſich der Vergleichung der Menſchen mit den Thieren bedienet, um hinter die Grundbeſchaffenheit des Verſtandes, und alſo auch ihrer Quelle der Denkkraft und des Beziehungsvermoͤgens zu kommen. Aber es ſcheinet nicht, als wenn dieſer Weg bisher zum Ziel hingebracht haͤtte. So manche gute und fruchtbare Bemerkungen uͤber das Unterſcheidungs- merkmal der Menſchheit, und ſo manche ſchoͤne Aufklaͤ- rungen uͤber die Natur des Verſtandes, und der Denk- kraft, die außer Zweifel unter den Eigenheiten des Men- ſchen einer der weſentlichſten und vorzuͤglichſten, und wohl der Mittelpunkt aller uͤbrigen iſt, dadurch entdecket ſind, ſo getraue ich mich doch nicht, von dieſer Ver- gleichung vorher etwas erhebliches zu verſprechen, als bis die Natur und der Grund des Verſtandes, aus ſei- nen Wirkungen in uns ſelbſt, in unſern Denkarten und Kenntniſſen, ſo weit es angehet, aus Beobachtungen ſorgfaͤltig zergliedert iſt. Der vornehmſte Charakter der Menſchheit iſt wohl in der Denkkraft. Aber ob dieſe darum die einzige ſey, und ob nicht die menſchliche Seele auch allein als empfindendes und fuͤhlendes Weſen, ſchon Eigenheiten und Vorzuͤge an Staͤrke, Feinheit, Aus- dehnung, Vielſeitigkeit u. ſ. w. vor den Thieren beſitze, iſt noch unausgemacht, wenn auch vorausgeſetzet wird, was ſchon vieles zugegeben heißt, daß die Grenzen zwi- ſchen Menſchheit und Thierheit genau und beſtimmt er- kannt werden koͤnnen. Auch dieſen Weg habe ich alſo nicht waͤhlen wollen. Wenn wir zuvoͤrderſt in unſerm Jnnern ſelbſt die Aeuße- rungen der Denkkraft aufgeſucht, dieſe zergliedert, und nach T 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/357
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 297. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/357>, abgerufen am 21.11.2024.