dem Physiologen begegnet. Geht man den einfachen Fasern bis auf ihren Ursprung nach, so verlieren sie sich auch vor dem bewafneten Auge, und zwar noch ehe man zu dem Anfangspunkt hinkommt, bey dem sich ihre Ab- stammung aus einem gemeinschaftlichen Princip bemer- ken ließe. So gehts auch in der Seele. Löset man das Beziehungsvermögen auf, und geht rückwärts auf die ersten Grundthätigkeiten, worinn es sich offenbaret, so entziehen sie sich endlich aller Bemerkung. Sie wer- den immer bey einander gefunden, aber als verschiedene Seelenfasern, so lange sie beobachtbar sind, ohne daß man deutlich die Grundsache sehen könne, aus der sie alle, und mit ihnen zur Seite das Gefühl und das Vorstel- lungsvermögen hervorgehen. Dieß hat mich bewogen, mit der Untersuchung umzuwenden, und aufwärts den Wirkungen der Denkkraft nachzugehen, und die letztere in ihrer Verbindung mit den Wirkungen der übrigen Vermögen zu betrachten. Laß also das Beziehungsver- mögen oder die Denkkraft anfangs als ein eigenes Grund- vermögen angesehen werden. Dieses verbindet, vermi- schet und durchschlängelt sich mit dem Gefühl und der vorstellenden Kraft, und macht in dieser Vereinigung dasjenige aus, was unter dem Namen von Erkennt- nißkraft die Ursache von Jdeen, Urtheilen, Schlüssen, überhaupt von Gedanken und Kenntnissen ist. Es wird sich zeigen, ob nicht hiebey in den Beziehungen dieser Vermögen, die sie in ihren Wirkungen auf einander ha- ben, Anzeigen vorkommen, woraus ihre Beziehung auf einander in ihren ersten Anfängen, in ihrem Keim, in der Grundkraft der Seele, einigermaßen sich verrathe?
Die Denkkraft, das Vermögen, Verhältnisse und Beziehungen zu erkennen, ist dasselbige Vermögen, was zu einer merkbaren Größe entwickelt, wenn es sich in seinen Wirkungen deutlicher offenbaret, den Namen von Verstand und Vernunft annimmt. Nun sehen ver-
schiedene
IV. Verſuch. Ueber die Denkkraft
dem Phyſiologen begegnet. Geht man den einfachen Faſern bis auf ihren Urſprung nach, ſo verlieren ſie ſich auch vor dem bewafneten Auge, und zwar noch ehe man zu dem Anfangspunkt hinkommt, bey dem ſich ihre Ab- ſtammung aus einem gemeinſchaftlichen Princip bemer- ken ließe. So gehts auch in der Seele. Loͤſet man das Beziehungsvermoͤgen auf, und geht ruͤckwaͤrts auf die erſten Grundthaͤtigkeiten, worinn es ſich offenbaret, ſo entziehen ſie ſich endlich aller Bemerkung. Sie wer- den immer bey einander gefunden, aber als verſchiedene Seelenfaſern, ſo lange ſie beobachtbar ſind, ohne daß man deutlich die Grundſache ſehen koͤnne, aus der ſie alle, und mit ihnen zur Seite das Gefuͤhl und das Vorſtel- lungsvermoͤgen hervorgehen. Dieß hat mich bewogen, mit der Unterſuchung umzuwenden, und aufwaͤrts den Wirkungen der Denkkraft nachzugehen, und die letztere in ihrer Verbindung mit den Wirkungen der uͤbrigen Vermoͤgen zu betrachten. Laß alſo das Beziehungsver- moͤgen oder die Denkkraft anfangs als ein eigenes Grund- vermoͤgen angeſehen werden. Dieſes verbindet, vermi- ſchet und durchſchlaͤngelt ſich mit dem Gefuͤhl und der vorſtellenden Kraft, und macht in dieſer Vereinigung dasjenige aus, was unter dem Namen von Erkennt- nißkraft die Urſache von Jdeen, Urtheilen, Schluͤſſen, uͤberhaupt von Gedanken und Kenntniſſen iſt. Es wird ſich zeigen, ob nicht hiebey in den Beziehungen dieſer Vermoͤgen, die ſie in ihren Wirkungen auf einander ha- ben, Anzeigen vorkommen, woraus ihre Beziehung auf einander in ihren erſten Anfaͤngen, in ihrem Keim, in der Grundkraft der Seele, einigermaßen ſich verrathe?
Die Denkkraft, das Vermoͤgen, Verhaͤltniſſe und Beziehungen zu erkennen, iſt daſſelbige Vermoͤgen, was zu einer merkbaren Groͤße entwickelt, wenn es ſich in ſeinen Wirkungen deutlicher offenbaret, den Namen von Verſtand und Vernunft annimmt. Nun ſehen ver-
ſchiedene
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IV. Verſuch. Ueber die Denkkraft
dem Phyſiologen begegnet. Geht man den einfachen
Faſern bis auf ihren Urſprung nach, ſo verlieren ſie ſich
auch vor dem bewafneten Auge, und zwar noch ehe man
zu dem Anfangspunkt hinkommt, bey dem ſich ihre Ab-
ſtammung aus einem gemeinſchaftlichen Princip bemer-
ken ließe. So gehts auch in der Seele. Loͤſet man das
Beziehungsvermoͤgen auf, und geht ruͤckwaͤrts auf
die erſten Grundthaͤtigkeiten, worinn es ſich offenbaret,
ſo entziehen ſie ſich endlich aller Bemerkung. Sie wer-
den immer bey einander gefunden, aber als verſchiedene
Seelenfaſern, ſo lange ſie beobachtbar ſind, ohne daß
man deutlich die Grundſache ſehen koͤnne, aus der ſie alle,
und mit ihnen zur Seite das Gefuͤhl und das Vorſtel-
lungsvermoͤgen hervorgehen. Dieß hat mich bewogen,
mit der Unterſuchung umzuwenden, und aufwaͤrts den
Wirkungen der Denkkraft nachzugehen, und die letztere
in ihrer Verbindung mit den Wirkungen der uͤbrigen
Vermoͤgen zu betrachten. Laß alſo das Beziehungsver-
moͤgen oder die Denkkraft anfangs als ein eigenes Grund-
vermoͤgen angeſehen werden. Dieſes verbindet, vermi-
ſchet und durchſchlaͤngelt ſich mit dem Gefuͤhl und der
vorſtellenden Kraft, und macht in dieſer Vereinigung
dasjenige aus, was unter dem Namen von Erkennt-
nißkraft die Urſache von Jdeen, Urtheilen, Schluͤſſen,
uͤberhaupt von Gedanken und Kenntniſſen iſt. Es wird
ſich zeigen, ob nicht hiebey in den Beziehungen dieſer
Vermoͤgen, die ſie in ihren Wirkungen auf einander ha-
ben, Anzeigen vorkommen, woraus ihre Beziehung auf
einander in ihren erſten Anfaͤngen, in ihrem Keim, in
der Grundkraft der Seele, einigermaßen ſich verrathe?
Die Denkkraft, das Vermoͤgen, Verhaͤltniſſe und
Beziehungen zu erkennen, iſt daſſelbige Vermoͤgen, was
zu einer merkbaren Groͤße entwickelt, wenn es ſich in
ſeinen Wirkungen deutlicher offenbaret, den Namen von
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 296. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/356>, abgerufen am 26.06.2024.
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