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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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und Bewußtseyn.
der Urtheilsgedanke hervorkommen soll; und dieß Ge-
fühl entstehe nicht, oder doch nicht mit der nöthigen
Stärke, weil die Vorstellungen in uns noch in eine sol-
che Lage nicht gebracht sind, in der sie seyn müssen, wenn
der Uebergang von Einer zur andern in uns diejenige
absolute Modifikation verursachen soll, deren Gefühl ei-
gentlich das Gefühl ihres Verhältnisses, welches wir
denken wollen, ausmachet.

Zufolge dieser Erklärungsart wird für das Wesent-
liche und Unterscheidende des Gewahrnehmens, wenn
die Absonderung der Vorstellungen als eine Thätigkeit
der vorstellenden Kraft angesehen und dieser zugeeignet
wird, nichts mehr, als die leidentliche Empfindung
oder das Gefühl der Verschiedenheit zurücke bleiben.

Jst diese Erklärung richtig aus Beobachtungen her-
geleitet, oder ist sie nur von dem Geist des Systems er-
dichtet, und in die Beobachtungen hineingetragen? Der
Gedanke von einem Verhältniß sollte doch nur ein Ge-
fühl des Verhältnisses seyn? dieß ist mir unbegreiflich.
Das Gefühl der Verhältnisse ist ja eine Reaktion gegen
eine absolute Veränderung in der Seele. Eine solche
Reaktion, deren Objekt etwas Absolutes ist, sollte einer-
ley mit einem Verhältnißgedanken seyn, in welchem die
Seelenkraft sich wie eine aus sich selbst hervorgehende
Kraft beweiset, die in den relativen Prädikaten den
Dingen etwas hinzu setzet, das sie sonsten nicht hatten,
und das von ihrem Absoluten, womit sich das Gefühl be-
schäftiget, ganz und gar verschieden ist? Mir ist es
weit wahrscheinlicher, daß der Aktus des Gewahrneh-
mens eine neue Aktion ist, bey der die Seele sich nach
dem vorhergehenden Gefühl und der Vorstellung auf die
letztere noch weiter fort äußert und selbstthätig sich ver-
wendet. Aber ich gebe gerne zu, und so viel lehret auch
nur die Beobachtung, daß jenes Gefühl des Verhält-
nisses die nächstvorhergehende Veranlassung sey,

wodurch
T 3

und Bewußtſeyn.
der Urtheilsgedanke hervorkommen ſoll; und dieß Ge-
fuͤhl entſtehe nicht, oder doch nicht mit der noͤthigen
Staͤrke, weil die Vorſtellungen in uns noch in eine ſol-
che Lage nicht gebracht ſind, in der ſie ſeyn muͤſſen, wenn
der Uebergang von Einer zur andern in uns diejenige
abſolute Modifikation verurſachen ſoll, deren Gefuͤhl ei-
gentlich das Gefuͤhl ihres Verhaͤltniſſes, welches wir
denken wollen, ausmachet.

Zufolge dieſer Erklaͤrungsart wird fuͤr das Weſent-
liche und Unterſcheidende des Gewahrnehmens, wenn
die Abſonderung der Vorſtellungen als eine Thaͤtigkeit
der vorſtellenden Kraft angeſehen und dieſer zugeeignet
wird, nichts mehr, als die leidentliche Empfindung
oder das Gefuͤhl der Verſchiedenheit zuruͤcke bleiben.

Jſt dieſe Erklaͤrung richtig aus Beobachtungen her-
geleitet, oder iſt ſie nur von dem Geiſt des Syſtems er-
dichtet, und in die Beobachtungen hineingetragen? Der
Gedanke von einem Verhaͤltniß ſollte doch nur ein Ge-
fuͤhl des Verhaͤltniſſes ſeyn? dieß iſt mir unbegreiflich.
Das Gefuͤhl der Verhaͤltniſſe iſt ja eine Reaktion gegen
eine abſolute Veraͤnderung in der Seele. Eine ſolche
Reaktion, deren Objekt etwas Abſolutes iſt, ſollte einer-
ley mit einem Verhaͤltnißgedanken ſeyn, in welchem die
Seelenkraft ſich wie eine aus ſich ſelbſt hervorgehende
Kraft beweiſet, die in den relativen Praͤdikaten den
Dingen etwas hinzu ſetzet, das ſie ſonſten nicht hatten,
und das von ihrem Abſoluten, womit ſich das Gefuͤhl be-
ſchaͤftiget, ganz und gar verſchieden iſt? Mir iſt es
weit wahrſcheinlicher, daß der Aktus des Gewahrneh-
mens eine neue Aktion iſt, bey der die Seele ſich nach
dem vorhergehenden Gefuͤhl und der Vorſtellung auf die
letztere noch weiter fort aͤußert und ſelbſtthaͤtig ſich ver-
wendet. Aber ich gebe gerne zu, und ſo viel lehret auch
nur die Beobachtung, daß jenes Gefuͤhl des Verhaͤlt-
niſſes die naͤchſtvorhergehende Veranlaſſung ſey,

wodurch
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[293/0353] und Bewußtſeyn. der Urtheilsgedanke hervorkommen ſoll; und dieß Ge- fuͤhl entſtehe nicht, oder doch nicht mit der noͤthigen Staͤrke, weil die Vorſtellungen in uns noch in eine ſol- che Lage nicht gebracht ſind, in der ſie ſeyn muͤſſen, wenn der Uebergang von Einer zur andern in uns diejenige abſolute Modifikation verurſachen ſoll, deren Gefuͤhl ei- gentlich das Gefuͤhl ihres Verhaͤltniſſes, welches wir denken wollen, ausmachet. Zufolge dieſer Erklaͤrungsart wird fuͤr das Weſent- liche und Unterſcheidende des Gewahrnehmens, wenn die Abſonderung der Vorſtellungen als eine Thaͤtigkeit der vorſtellenden Kraft angeſehen und dieſer zugeeignet wird, nichts mehr, als die leidentliche Empfindung oder das Gefuͤhl der Verſchiedenheit zuruͤcke bleiben. Jſt dieſe Erklaͤrung richtig aus Beobachtungen her- geleitet, oder iſt ſie nur von dem Geiſt des Syſtems er- dichtet, und in die Beobachtungen hineingetragen? Der Gedanke von einem Verhaͤltniß ſollte doch nur ein Ge- fuͤhl des Verhaͤltniſſes ſeyn? dieß iſt mir unbegreiflich. Das Gefuͤhl der Verhaͤltniſſe iſt ja eine Reaktion gegen eine abſolute Veraͤnderung in der Seele. Eine ſolche Reaktion, deren Objekt etwas Abſolutes iſt, ſollte einer- ley mit einem Verhaͤltnißgedanken ſeyn, in welchem die Seelenkraft ſich wie eine aus ſich ſelbſt hervorgehende Kraft beweiſet, die in den relativen Praͤdikaten den Dingen etwas hinzu ſetzet, das ſie ſonſten nicht hatten, und das von ihrem Abſoluten, womit ſich das Gefuͤhl be- ſchaͤftiget, ganz und gar verſchieden iſt? Mir iſt es weit wahrſcheinlicher, daß der Aktus des Gewahrneh- mens eine neue Aktion iſt, bey der die Seele ſich nach dem vorhergehenden Gefuͤhl und der Vorſtellung auf die letztere noch weiter fort aͤußert und ſelbſtthaͤtig ſich ver- wendet. Aber ich gebe gerne zu, und ſo viel lehret auch nur die Beobachtung, daß jenes Gefuͤhl des Verhaͤlt- niſſes die naͤchſtvorhergehende Veranlaſſung ſey, wodurch T 3

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 293. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/353>, abgerufen am 21.11.2024.