Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite
über Empfindungen u. Empfindnisse.

Eine solche Aehnlichkeit des Fühlens mit einer kör-
perlichen Reaktion kann unmittelbar nicht wahrgenom-
men werden. Es ist Erfahrung, daß es etwas leident-
liches sey, was die Seele fühlet; aber wo, und in wel-
chem Subjekt ist die gefühlte Modification? Nach der
reinen Erfahrung können wir nichts anders antworten,
als dieß: sie ist in dem Menschen, oder in dem Seelen-
wesen. Zuverlässig; aber in welchem Theil von uns?
kann sie nicht eine Modifikation der unkörperlichen Seele
seyn? eine Bestimmung, Einschränkung ihrer Kraft,
die doch allemal mit einer entsprechenden Beschaffenheit
des Gehirns vergesellschaftet ist? Kann die Seele sich
nicht selbst fühlen, sich unmittelbar fühlen, da sie sich
selbst doch noch näher ist, als ihr Gehirn? Können
nicht beyde Veränderungen, die materielle Gehirnsbe-
schaffenheit und die immaterielle Modifikation der Seele
zugleich, für das unmittelbare Objekt des Gefühls ange-
nommen werden? Denn die Meinung des Hrn. Home
und einiger andern brittischen Philosophen übergehe ich,
welche sich vorstellen, daß wir auch wohl äußere Dinge,
die außer unserm Körper vorhanden sind, unmittelbar
empfinden könnten, und die deswegen den Grundsatz der
Lockischen und einer jeden andern Philosophie, in der
über Erfahrungen raisonniret wird, daß wir nemlich die
äußern Gegenstände nur allein vermittelst ihrer Eindrücke
auf uns fühlen, und durch die Jdeen in uns erkennen,
als eine unrichtige und zum Skepticismus führende Leh-
re vorzustellen suchen. Es kann hierüber kein Zweifel
mehr Statt finden, ob nicht das, was unmittelbar ge-
fühlet wird, entweder selbst etwas in der Seele als in
seinem Subjekt seyn müsse, oder doch in demjenigen
Theil ihres Empfindungswerkzeuges vorhanden sey, auf
welchen sie zunächst und unmittelbar ihr Vermögen zu
fühlen anwendet. Aber welches von diesen beiden nun
wirklich ist, darüber belehret uns die Beobachtung selbst

nicht.
I. Band. R
uͤber Empfindungen u. Empfindniſſe.

Eine ſolche Aehnlichkeit des Fuͤhlens mit einer koͤr-
perlichen Reaktion kann unmittelbar nicht wahrgenom-
men werden. Es iſt Erfahrung, daß es etwas leident-
liches ſey, was die Seele fuͤhlet; aber wo, und in wel-
chem Subjekt iſt die gefuͤhlte Modification? Nach der
reinen Erfahrung koͤnnen wir nichts anders antworten,
als dieß: ſie iſt in dem Menſchen, oder in dem Seelen-
weſen. Zuverlaͤſſig; aber in welchem Theil von uns?
kann ſie nicht eine Modifikation der unkoͤrperlichen Seele
ſeyn? eine Beſtimmung, Einſchraͤnkung ihrer Kraft,
die doch allemal mit einer entſprechenden Beſchaffenheit
des Gehirns vergeſellſchaftet iſt? Kann die Seele ſich
nicht ſelbſt fuͤhlen, ſich unmittelbar fuͤhlen, da ſie ſich
ſelbſt doch noch naͤher iſt, als ihr Gehirn? Koͤnnen
nicht beyde Veraͤnderungen, die materielle Gehirnsbe-
ſchaffenheit und die immaterielle Modifikation der Seele
zugleich, fuͤr das unmittelbare Objekt des Gefuͤhls ange-
nommen werden? Denn die Meinung des Hrn. Home
und einiger andern brittiſchen Philoſophen uͤbergehe ich,
welche ſich vorſtellen, daß wir auch wohl aͤußere Dinge,
die außer unſerm Koͤrper vorhanden ſind, unmittelbar
empfinden koͤnnten, und die deswegen den Grundſatz der
Lockiſchen und einer jeden andern Philoſophie, in der
uͤber Erfahrungen raiſonniret wird, daß wir nemlich die
aͤußern Gegenſtaͤnde nur allein vermittelſt ihrer Eindruͤcke
auf uns fuͤhlen, und durch die Jdeen in uns erkennen,
als eine unrichtige und zum Skepticismus fuͤhrende Leh-
re vorzuſtellen ſuchen. Es kann hieruͤber kein Zweifel
mehr Statt finden, ob nicht das, was unmittelbar ge-
fuͤhlet wird, entweder ſelbſt etwas in der Seele als in
ſeinem Subjekt ſeyn muͤſſe, oder doch in demjenigen
Theil ihres Empfindungswerkzeuges vorhanden ſey, auf
welchen ſie zunaͤchſt und unmittelbar ihr Vermoͤgen zu
fuͤhlen anwendet. Aber welches von dieſen beiden nun
wirklich iſt, daruͤber belehret uns die Beobachtung ſelbſt

nicht.
I. Band. R
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0317" n="257"/>
          <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">u&#x0364;ber Empfindungen u. Empfindni&#x017F;&#x017F;e.</hi> </fw><lb/>
          <p>Eine &#x017F;olche Aehnlichkeit des Fu&#x0364;hlens mit einer ko&#x0364;r-<lb/>
perlichen Reaktion kann unmittelbar nicht wahrgenom-<lb/>
men werden. Es i&#x017F;t Erfahrung, daß es etwas leident-<lb/>
liches &#x017F;ey, was die Seele fu&#x0364;hlet; aber wo, und in wel-<lb/>
chem Subjekt i&#x017F;t die gefu&#x0364;hlte Modification? Nach der<lb/>
reinen Erfahrung ko&#x0364;nnen wir nichts anders antworten,<lb/>
als dieß: &#x017F;ie i&#x017F;t in dem Men&#x017F;chen, oder in dem Seelen-<lb/>
we&#x017F;en. Zuverla&#x0364;&#x017F;&#x017F;ig; aber in welchem Theil von uns?<lb/>
kann &#x017F;ie nicht eine Modifikation der unko&#x0364;rperlichen Seele<lb/>
&#x017F;eyn? eine Be&#x017F;timmung, Ein&#x017F;chra&#x0364;nkung ihrer Kraft,<lb/>
die doch allemal mit einer ent&#x017F;prechenden Be&#x017F;chaffenheit<lb/>
des Gehirns verge&#x017F;ell&#x017F;chaftet i&#x017F;t? Kann die Seele &#x017F;ich<lb/>
nicht &#x017F;elb&#x017F;t fu&#x0364;hlen, &#x017F;ich unmittelbar fu&#x0364;hlen, da &#x017F;ie &#x017F;ich<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t doch noch na&#x0364;her i&#x017F;t, als ihr Gehirn? Ko&#x0364;nnen<lb/>
nicht beyde Vera&#x0364;nderungen, die materielle Gehirnsbe-<lb/>
&#x017F;chaffenheit und die immaterielle Modifikation der Seele<lb/>
zugleich, fu&#x0364;r das unmittelbare Objekt des Gefu&#x0364;hls ange-<lb/>
nommen werden? Denn die Meinung des Hrn. <hi rendition="#fr">Home</hi><lb/>
und einiger andern britti&#x017F;chen Philo&#x017F;ophen u&#x0364;bergehe ich,<lb/>
welche &#x017F;ich vor&#x017F;tellen, daß wir auch wohl a&#x0364;ußere Dinge,<lb/>
die außer un&#x017F;erm Ko&#x0364;rper vorhanden &#x017F;ind, unmittelbar<lb/>
empfinden ko&#x0364;nnten, und die deswegen den Grund&#x017F;atz der<lb/>
Locki&#x017F;chen und einer jeden andern Philo&#x017F;ophie, in der<lb/>
u&#x0364;ber Erfahrungen rai&#x017F;onniret wird, daß wir nemlich die<lb/>
a&#x0364;ußern Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde nur allein vermittel&#x017F;t ihrer Eindru&#x0364;cke<lb/>
auf uns fu&#x0364;hlen, und durch die Jdeen in uns erkennen,<lb/>
als eine unrichtige und zum Skepticismus fu&#x0364;hrende Leh-<lb/>
re vorzu&#x017F;tellen &#x017F;uchen. Es kann hieru&#x0364;ber kein Zweifel<lb/>
mehr Statt finden, ob nicht das, was unmittelbar ge-<lb/>
fu&#x0364;hlet wird, entweder &#x017F;elb&#x017F;t etwas in der Seele als in<lb/>
&#x017F;einem Subjekt &#x017F;eyn mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e, oder doch in demjenigen<lb/>
Theil ihres Empfindungswerkzeuges vorhanden &#x017F;ey, auf<lb/>
welchen &#x017F;ie zuna&#x0364;ch&#x017F;t und unmittelbar ihr Vermo&#x0364;gen zu<lb/>
fu&#x0364;hlen anwendet. Aber welches von die&#x017F;en beiden nun<lb/>
wirklich i&#x017F;t, daru&#x0364;ber belehret uns die Beobachtung &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#aq">I.</hi><hi rendition="#fr">Band.</hi> R</fw><fw place="bottom" type="catch">nicht.</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[257/0317] uͤber Empfindungen u. Empfindniſſe. Eine ſolche Aehnlichkeit des Fuͤhlens mit einer koͤr- perlichen Reaktion kann unmittelbar nicht wahrgenom- men werden. Es iſt Erfahrung, daß es etwas leident- liches ſey, was die Seele fuͤhlet; aber wo, und in wel- chem Subjekt iſt die gefuͤhlte Modification? Nach der reinen Erfahrung koͤnnen wir nichts anders antworten, als dieß: ſie iſt in dem Menſchen, oder in dem Seelen- weſen. Zuverlaͤſſig; aber in welchem Theil von uns? kann ſie nicht eine Modifikation der unkoͤrperlichen Seele ſeyn? eine Beſtimmung, Einſchraͤnkung ihrer Kraft, die doch allemal mit einer entſprechenden Beſchaffenheit des Gehirns vergeſellſchaftet iſt? Kann die Seele ſich nicht ſelbſt fuͤhlen, ſich unmittelbar fuͤhlen, da ſie ſich ſelbſt doch noch naͤher iſt, als ihr Gehirn? Koͤnnen nicht beyde Veraͤnderungen, die materielle Gehirnsbe- ſchaffenheit und die immaterielle Modifikation der Seele zugleich, fuͤr das unmittelbare Objekt des Gefuͤhls ange- nommen werden? Denn die Meinung des Hrn. Home und einiger andern brittiſchen Philoſophen uͤbergehe ich, welche ſich vorſtellen, daß wir auch wohl aͤußere Dinge, die außer unſerm Koͤrper vorhanden ſind, unmittelbar empfinden koͤnnten, und die deswegen den Grundſatz der Lockiſchen und einer jeden andern Philoſophie, in der uͤber Erfahrungen raiſonniret wird, daß wir nemlich die aͤußern Gegenſtaͤnde nur allein vermittelſt ihrer Eindruͤcke auf uns fuͤhlen, und durch die Jdeen in uns erkennen, als eine unrichtige und zum Skepticismus fuͤhrende Leh- re vorzuſtellen ſuchen. Es kann hieruͤber kein Zweifel mehr Statt finden, ob nicht das, was unmittelbar ge- fuͤhlet wird, entweder ſelbſt etwas in der Seele als in ſeinem Subjekt ſeyn muͤſſe, oder doch in demjenigen Theil ihres Empfindungswerkzeuges vorhanden ſey, auf welchen ſie zunaͤchſt und unmittelbar ihr Vermoͤgen zu fuͤhlen anwendet. Aber welches von dieſen beiden nun wirklich iſt, daruͤber belehret uns die Beobachtung ſelbſt nicht. I. Band. R

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/317
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/317>, abgerufen am 22.11.2024.