Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.über Empfindungen u. Empfindnisse. tende Frage, bey der die verschiedenen Meinungen derPhilosophen über die Natur des menschlichen Wohls, über dessen erste Quelle, und über die Würde und den Werth desselben von einander abgehen. Welche Arten von Empfindungen sind es nemlich, die ursprünglich an- genehm oder unangenehm sind? und welche sind es nur durch die Uebertragung, oder durch die Mittheilung ge- worden? Sind es die äußern sinnlichen Empfindun- gen des Gesichts, des Gehörs, des Geschmacks, des Geruchs und des Gefühls, welchen die Wollust oder der Schmerz für sich allein ursprünglich anklebet? Dieß ist das bekannte System des Helvetius, das auch von andern angenommen ist; das nur etwas verfeinerte Sy- stem von der blos thierischen Glückseligkeit des Menschen. Die moralischen Empfindungen gutthä- tiger Triebe, das Gefühl der Menschenliebe, das Mit- leiden, und die Ergötzungen aus der Beschäftigung des Verstandes sind wollustvolle Empfindungen, auch nach den Grundsätzen des Epikurs. Aber woher haben sie diese Beschaffenheit? Jst es ihr eigner Saft, der in ihnen abgesondert und zubereitet wird, oder muß er ih- nen anders woher zugeführet werden, und zwar von den äußern Empfindungen des Körpers, dessen Quelle also sogleich versieget, wenn die äußern Empfindungen ihn nicht mehr zuführen? Lebet der Mensch nur von dem Genuß dessen, was aus den äußern Empfindungen in seine Vorstellungen übergeleitet ist, so wird das, was den Archimedes an seine Betrachtungen fesselte, die inni- ge bis in das Mark der Seele dringende sanfte Lust, die mit dem ungehinderten Fortgang in der Erkenntniß, mit der Nachforschung und der Entdeckung der Wahrheit verbunden ist, die Wollust, die der Menschenfreund fühlet, der den Nothleidenden vom Elende befreyet hat, welche auch in der Wiedererinnerung das Herz nähret und groß machet; so werden alle diese intellektuellen und I. Band. P
uͤber Empfindungen u. Empfindniſſe. tende Frage, bey der die verſchiedenen Meinungen derPhiloſophen uͤber die Natur des menſchlichen Wohls, uͤber deſſen erſte Quelle, und uͤber die Wuͤrde und den Werth deſſelben von einander abgehen. Welche Arten von Empfindungen ſind es nemlich, die urſpruͤnglich an- genehm oder unangenehm ſind? und welche ſind es nur durch die Uebertragung, oder durch die Mittheilung ge- worden? Sind es die aͤußern ſinnlichen Empfindun- gen des Geſichts, des Gehoͤrs, des Geſchmacks, des Geruchs und des Gefuͤhls, welchen die Wolluſt oder der Schmerz fuͤr ſich allein urſpruͤnglich anklebet? Dieß iſt das bekannte Syſtem des Helvetius, das auch von andern angenommen iſt; das nur etwas verfeinerte Sy- ſtem von der blos thieriſchen Gluͤckſeligkeit des Menſchen. Die moraliſchen Empfindungen gutthaͤ- tiger Triebe, das Gefuͤhl der Menſchenliebe, das Mit- leiden, und die Ergoͤtzungen aus der Beſchaͤftigung des Verſtandes ſind wolluſtvolle Empfindungen, auch nach den Grundſaͤtzen des Epikurs. Aber woher haben ſie dieſe Beſchaffenheit? Jſt es ihr eigner Saft, der in ihnen abgeſondert und zubereitet wird, oder muß er ih- nen anders woher zugefuͤhret werden, und zwar von den aͤußern Empfindungen des Koͤrpers, deſſen Quelle alſo ſogleich verſieget, wenn die aͤußern Empfindungen ihn nicht mehr zufuͤhren? Lebet der Menſch nur von dem Genuß deſſen, was aus den aͤußern Empfindungen in ſeine Vorſtellungen uͤbergeleitet iſt, ſo wird das, was den Archimedes an ſeine Betrachtungen feſſelte, die inni- ge bis in das Mark der Seele dringende ſanfte Luſt, die mit dem ungehinderten Fortgang in der Erkenntniß, mit der Nachforſchung und der Entdeckung der Wahrheit verbunden iſt, die Wolluſt, die der Menſchenfreund fuͤhlet, der den Nothleidenden vom Elende befreyet hat, welche auch in der Wiedererinnerung das Herz naͤhret und groß machet; ſo werden alle dieſe intellektuellen und I. Band. P
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uͤber Empfindungen u. Empfindniſſe.
tende Frage, bey der die verſchiedenen Meinungen der
Philoſophen uͤber die Natur des menſchlichen Wohls,
uͤber deſſen erſte Quelle, und uͤber die Wuͤrde und den
Werth deſſelben von einander abgehen. Welche Arten
von Empfindungen ſind es nemlich, die urſpruͤnglich an-
genehm oder unangenehm ſind? und welche ſind es nur
durch die Uebertragung, oder durch die Mittheilung ge-
worden? Sind es die aͤußern ſinnlichen Empfindun-
gen des Geſichts, des Gehoͤrs, des Geſchmacks, des
Geruchs und des Gefuͤhls, welchen die Wolluſt oder
der Schmerz fuͤr ſich allein urſpruͤnglich anklebet? Dieß
iſt das bekannte Syſtem des Helvetius, das auch von
andern angenommen iſt; das nur etwas verfeinerte Sy-
ſtem von der blos thieriſchen Gluͤckſeligkeit des
Menſchen. Die moraliſchen Empfindungen gutthaͤ-
tiger Triebe, das Gefuͤhl der Menſchenliebe, das Mit-
leiden, und die Ergoͤtzungen aus der Beſchaͤftigung des
Verſtandes ſind wolluſtvolle Empfindungen, auch nach
den Grundſaͤtzen des Epikurs. Aber woher haben ſie
dieſe Beſchaffenheit? Jſt es ihr eigner Saft, der in
ihnen abgeſondert und zubereitet wird, oder muß er ih-
nen anders woher zugefuͤhret werden, und zwar von den
aͤußern Empfindungen des Koͤrpers, deſſen Quelle alſo
ſogleich verſieget, wenn die aͤußern Empfindungen ihn
nicht mehr zufuͤhren? Lebet der Menſch nur von dem
Genuß deſſen, was aus den aͤußern Empfindungen
in ſeine Vorſtellungen uͤbergeleitet iſt, ſo wird das, was
den Archimedes an ſeine Betrachtungen feſſelte, die inni-
ge bis in das Mark der Seele dringende ſanfte Luſt, die
mit dem ungehinderten Fortgang in der Erkenntniß, mit
der Nachforſchung und der Entdeckung der Wahrheit
verbunden iſt, die Wolluſt, die der Menſchenfreund
fuͤhlet, der den Nothleidenden vom Elende befreyet hat,
welche auch in der Wiedererinnerung das Herz naͤhret
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