Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

II. Versuch. Ueber das Gefühl,
gefähr aufstößet und wider Willen in mir bleibet. Und
es ist nicht schwer, in solchen Fällen zu bemerken, daß, je
weniger wir dabey thun, und je mehr wir uns passive
verhalten, desto leichter und desto lebhafter lasse sich die
Vorstellung in uns als eine gegenwärtige fühlen und ge-
wahrnehmen. Solche Bilder, die unwillkührlich und
ohne Anstrengung vorhanden sind, füllen den größten
Theil unserer Phantasie aus, und sind unsere gewöhnli-
che Unterhaltungen, und außerordentlich wichtig für
uns.

Das nämliche wird bey den übrigen wirksamen
Kraftäußerungen wahrgenommen. Jn dem Augenblick,
in welchem wir den Körper zu bewegen uns bestreben,
fühlen wir diese intensive Anstrengung unserer Kraft
nicht. Jn allen starken Affekten und in Gemüthsbewe-
gungen, die mit mächtigen Tendenzen etwas hervorzu-
bringen verbunden sind, zeiget es sich, daß unser Selbst-
gefühl nur alsdenn sie gewahrnehmen kann, wenn sie
schon gebrochen und geschwächet sind; oder auch nur in
den Zwischenmomenten, wenn die thätige Kraft ruhet,
und der Seele Gelegenheit giebt, sich zu begreifen, ihre
Kraft aufzuhalten, und anders wohin zu lenken. Jed-
weder Affekt hinterläßt seine Nachwallung, oder seine
Veränderung, man setze sie, wohin man wolle, in die
innern Organe des Gehirns, oder in die Substanz der
Seele, oder in beide zugleich. Diese Nachwallungen
sind etwas passives, das ohne eine selbstthätige Anstren-
gung der Seelenkraft in uns bestehet. Und sie sind es
nur, was wir fühlen und empfinden. Wenn der Affekt
in der Seele selbst schon ausgestürmet hat, so kommen
doch die vorigen Vorstellungen von neuem zurück, reizen
von neuem, und nicht selten bringen sie das Gemüth noch
einmal auf. Der Magen kochet noch, wenn die Seele
schon in Ruhe ist, und führet Vorstellungen und Re-
gungen wieder herbey, auf eine Art, die es leicht be-

greiflich

II. Verſuch. Ueber das Gefuͤhl,
gefaͤhr aufſtoͤßet und wider Willen in mir bleibet. Und
es iſt nicht ſchwer, in ſolchen Faͤllen zu bemerken, daß, je
weniger wir dabey thun, und je mehr wir uns paſſive
verhalten, deſto leichter und deſto lebhafter laſſe ſich die
Vorſtellung in uns als eine gegenwaͤrtige fuͤhlen und ge-
wahrnehmen. Solche Bilder, die unwillkuͤhrlich und
ohne Anſtrengung vorhanden ſind, fuͤllen den groͤßten
Theil unſerer Phantaſie aus, und ſind unſere gewoͤhnli-
che Unterhaltungen, und außerordentlich wichtig fuͤr
uns.

Das naͤmliche wird bey den uͤbrigen wirkſamen
Kraftaͤußerungen wahrgenommen. Jn dem Augenblick,
in welchem wir den Koͤrper zu bewegen uns beſtreben,
fuͤhlen wir dieſe intenſive Anſtrengung unſerer Kraft
nicht. Jn allen ſtarken Affekten und in Gemuͤthsbewe-
gungen, die mit maͤchtigen Tendenzen etwas hervorzu-
bringen verbunden ſind, zeiget es ſich, daß unſer Selbſt-
gefuͤhl nur alsdenn ſie gewahrnehmen kann, wenn ſie
ſchon gebrochen und geſchwaͤchet ſind; oder auch nur in
den Zwiſchenmomenten, wenn die thaͤtige Kraft ruhet,
und der Seele Gelegenheit giebt, ſich zu begreifen, ihre
Kraft aufzuhalten, und anders wohin zu lenken. Jed-
weder Affekt hinterlaͤßt ſeine Nachwallung, oder ſeine
Veraͤnderung, man ſetze ſie, wohin man wolle, in die
innern Organe des Gehirns, oder in die Subſtanz der
Seele, oder in beide zugleich. Dieſe Nachwallungen
ſind etwas paſſives, das ohne eine ſelbſtthaͤtige Anſtren-
gung der Seelenkraft in uns beſtehet. Und ſie ſind es
nur, was wir fuͤhlen und empfinden. Wenn der Affekt
in der Seele ſelbſt ſchon ausgeſtuͤrmet hat, ſo kommen
doch die vorigen Vorſtellungen von neuem zuruͤck, reizen
von neuem, und nicht ſelten bringen ſie das Gemuͤth noch
einmal auf. Der Magen kochet noch, wenn die Seele
ſchon in Ruhe iſt, und fuͤhret Vorſtellungen und Re-
gungen wieder herbey, auf eine Art, die es leicht be-

greiflich
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0240" n="180"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">II.</hi> Ver&#x017F;uch. Ueber das Gefu&#x0364;hl,</hi></fw><lb/>
gefa&#x0364;hr auf&#x017F;to&#x0364;ßet und wider Willen in mir bleibet. Und<lb/>
es i&#x017F;t nicht &#x017F;chwer, in &#x017F;olchen Fa&#x0364;llen zu bemerken, daß, je<lb/>
weniger wir dabey thun, und je mehr wir uns pa&#x017F;&#x017F;ive<lb/>
verhalten, de&#x017F;to leichter und de&#x017F;to lebhafter la&#x017F;&#x017F;e &#x017F;ich die<lb/>
Vor&#x017F;tellung in uns als eine gegenwa&#x0364;rtige fu&#x0364;hlen und ge-<lb/>
wahrnehmen. Solche Bilder, die unwillku&#x0364;hrlich und<lb/>
ohne An&#x017F;trengung vorhanden &#x017F;ind, fu&#x0364;llen den gro&#x0364;ßten<lb/>
Theil un&#x017F;erer Phanta&#x017F;ie aus, und &#x017F;ind un&#x017F;ere gewo&#x0364;hnli-<lb/>
che Unterhaltungen, und außerordentlich wichtig fu&#x0364;r<lb/>
uns.</p><lb/>
            <p>Das na&#x0364;mliche wird bey den u&#x0364;brigen wirk&#x017F;amen<lb/>
Krafta&#x0364;ußerungen wahrgenommen. Jn dem Augenblick,<lb/>
in welchem wir den Ko&#x0364;rper zu bewegen uns be&#x017F;treben,<lb/>
fu&#x0364;hlen wir die&#x017F;e inten&#x017F;ive An&#x017F;trengung un&#x017F;erer Kraft<lb/>
nicht. Jn allen &#x017F;tarken Affekten und in Gemu&#x0364;thsbewe-<lb/>
gungen, die mit ma&#x0364;chtigen Tendenzen etwas hervorzu-<lb/>
bringen verbunden &#x017F;ind, zeiget es &#x017F;ich, daß un&#x017F;er Selb&#x017F;t-<lb/>
gefu&#x0364;hl nur alsdenn &#x017F;ie gewahrnehmen kann, wenn &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;chon gebrochen und ge&#x017F;chwa&#x0364;chet &#x017F;ind; oder auch nur in<lb/>
den Zwi&#x017F;chenmomenten, wenn die tha&#x0364;tige Kraft ruhet,<lb/>
und der Seele Gelegenheit giebt, &#x017F;ich zu begreifen, ihre<lb/>
Kraft aufzuhalten, und anders wohin zu lenken. Jed-<lb/>
weder Affekt hinterla&#x0364;ßt &#x017F;eine Nachwallung, oder &#x017F;eine<lb/>
Vera&#x0364;nderung, man &#x017F;etze &#x017F;ie, wohin man wolle, in die<lb/>
innern Organe des Gehirns, oder in die Sub&#x017F;tanz der<lb/>
Seele, oder in beide zugleich. Die&#x017F;e Nachwallungen<lb/>
&#x017F;ind etwas pa&#x017F;&#x017F;ives, das ohne eine &#x017F;elb&#x017F;ttha&#x0364;tige An&#x017F;tren-<lb/>
gung der Seelenkraft in uns be&#x017F;tehet. Und &#x017F;ie &#x017F;ind es<lb/>
nur, was wir fu&#x0364;hlen und empfinden. Wenn der Affekt<lb/>
in der Seele &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;chon ausge&#x017F;tu&#x0364;rmet hat, &#x017F;o kommen<lb/>
doch die vorigen Vor&#x017F;tellungen von neuem zuru&#x0364;ck, reizen<lb/>
von neuem, und nicht &#x017F;elten bringen &#x017F;ie das Gemu&#x0364;th noch<lb/>
einmal auf. Der Magen kochet noch, wenn die Seele<lb/>
&#x017F;chon in Ruhe i&#x017F;t, und fu&#x0364;hret Vor&#x017F;tellungen und Re-<lb/>
gungen wieder herbey, auf eine Art, die es leicht be-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">greiflich</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[180/0240] II. Verſuch. Ueber das Gefuͤhl, gefaͤhr aufſtoͤßet und wider Willen in mir bleibet. Und es iſt nicht ſchwer, in ſolchen Faͤllen zu bemerken, daß, je weniger wir dabey thun, und je mehr wir uns paſſive verhalten, deſto leichter und deſto lebhafter laſſe ſich die Vorſtellung in uns als eine gegenwaͤrtige fuͤhlen und ge- wahrnehmen. Solche Bilder, die unwillkuͤhrlich und ohne Anſtrengung vorhanden ſind, fuͤllen den groͤßten Theil unſerer Phantaſie aus, und ſind unſere gewoͤhnli- che Unterhaltungen, und außerordentlich wichtig fuͤr uns. Das naͤmliche wird bey den uͤbrigen wirkſamen Kraftaͤußerungen wahrgenommen. Jn dem Augenblick, in welchem wir den Koͤrper zu bewegen uns beſtreben, fuͤhlen wir dieſe intenſive Anſtrengung unſerer Kraft nicht. Jn allen ſtarken Affekten und in Gemuͤthsbewe- gungen, die mit maͤchtigen Tendenzen etwas hervorzu- bringen verbunden ſind, zeiget es ſich, daß unſer Selbſt- gefuͤhl nur alsdenn ſie gewahrnehmen kann, wenn ſie ſchon gebrochen und geſchwaͤchet ſind; oder auch nur in den Zwiſchenmomenten, wenn die thaͤtige Kraft ruhet, und der Seele Gelegenheit giebt, ſich zu begreifen, ihre Kraft aufzuhalten, und anders wohin zu lenken. Jed- weder Affekt hinterlaͤßt ſeine Nachwallung, oder ſeine Veraͤnderung, man ſetze ſie, wohin man wolle, in die innern Organe des Gehirns, oder in die Subſtanz der Seele, oder in beide zugleich. Dieſe Nachwallungen ſind etwas paſſives, das ohne eine ſelbſtthaͤtige Anſtren- gung der Seelenkraft in uns beſtehet. Und ſie ſind es nur, was wir fuͤhlen und empfinden. Wenn der Affekt in der Seele ſelbſt ſchon ausgeſtuͤrmet hat, ſo kommen doch die vorigen Vorſtellungen von neuem zuruͤck, reizen von neuem, und nicht ſelten bringen ſie das Gemuͤth noch einmal auf. Der Magen kochet noch, wenn die Seele ſchon in Ruhe iſt, und fuͤhret Vorſtellungen und Re- gungen wieder herbey, auf eine Art, die es leicht be- greiflich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/240
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 180. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/240>, abgerufen am 19.05.2024.