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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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I. Versuch. Ueber die Natur

Man saget, die Wiedervorstellung des Verdrusses
solle von Vorstellungen abhangen, die uns jetzo nicht
genug gegenwärtig sind, denn eine Vorstellung könne
wirksam seyn, ohne daß wir sie gewahrnehmen. Die
bewegenden Vorstellungen sollen wirklich in uns re-
produciret werden, ohne daß wir uns ihrer bewußt sind.
Jenen Satz läugne ich nicht. Aber da ich nach der ge-
nauesten Untersuchung keine von den ehemals bewe-
genden
Vorstellungen jetzo in mir antreffe, und viel-
mehr sehe, ich würde von dem derzeitigen Gemüthsstan-
de nicht einmal wissen, daß er vorhanden gewesen ist,
wenn ich nicht auf diese Wiedererinnerung durch Vor-
stellungen gebracht wäre, welche nicht die Ursachen,
sondern die Folgen und Aeusserungen von ihm gewesen
sind, so ist es viel gefodert, daß ich die gegebene Erklä-
rung als die wahre annehmen soll.

Die vorigen verursachenden Vorstellungen sind
entweder jetzo nicht vorhanden, oder doch so dunkel, daß
ich sie nicht gewahrnehme; und doch sollen sie in dem
Grade thätig seyn, daß sie von neuem einen Ansatz zu
der ehemaligen Gemüthsbewegung hervorbringen.

Dieß nicht allein. Mich deucht, in solchen Fällen
könne man es oftmals wissen, daß wir uns der ehema-
ligen Gemüthsbewegung nicht wieder erinnern würden,
wenn nicht solche Vorstellungen ihr Andenken erneuerten,
welche der Zeit keine wirkende Ursachen von ihr gewesen
sind; wie z. B. die Vorstellungen von äußern Ausbrü-
chen der Freude in Bewegungen des Körpers. Ver-
langet man mehr, um sich zu überzeugen, daß ein sol-
cher vergangener Gemüthszustand wieder vorgestellet
werde, durch die Association mit andern Vorstellungen,
von denen er nicht mehr abhängt, als die Jdee von dem
Thurm von der Jdee der Kirche? daß also die Wie-
dervorstellung hier eben so etwas sey, als sie es bey den
Vorstellungen äußerer gesehener Objekte ist.

Es
I. Verſuch. Ueber die Natur

Man ſaget, die Wiedervorſtellung des Verdruſſes
ſolle von Vorſtellungen abhangen, die uns jetzo nicht
genug gegenwaͤrtig ſind, denn eine Vorſtellung koͤnne
wirkſam ſeyn, ohne daß wir ſie gewahrnehmen. Die
bewegenden Vorſtellungen ſollen wirklich in uns re-
produciret werden, ohne daß wir uns ihrer bewußt ſind.
Jenen Satz laͤugne ich nicht. Aber da ich nach der ge-
naueſten Unterſuchung keine von den ehemals bewe-
genden
Vorſtellungen jetzo in mir antreffe, und viel-
mehr ſehe, ich wuͤrde von dem derzeitigen Gemuͤthsſtan-
de nicht einmal wiſſen, daß er vorhanden geweſen iſt,
wenn ich nicht auf dieſe Wiedererinnerung durch Vor-
ſtellungen gebracht waͤre, welche nicht die Urſachen,
ſondern die Folgen und Aeuſſerungen von ihm geweſen
ſind, ſo iſt es viel gefodert, daß ich die gegebene Erklaͤ-
rung als die wahre annehmen ſoll.

Die vorigen verurſachenden Vorſtellungen ſind
entweder jetzo nicht vorhanden, oder doch ſo dunkel, daß
ich ſie nicht gewahrnehme; und doch ſollen ſie in dem
Grade thaͤtig ſeyn, daß ſie von neuem einen Anſatz zu
der ehemaligen Gemuͤthsbewegung hervorbringen.

Dieß nicht allein. Mich deucht, in ſolchen Faͤllen
koͤnne man es oftmals wiſſen, daß wir uns der ehema-
ligen Gemuͤthsbewegung nicht wieder erinnern wuͤrden,
wenn nicht ſolche Vorſtellungen ihr Andenken erneuerten,
welche der Zeit keine wirkende Urſachen von ihr geweſen
ſind; wie z. B. die Vorſtellungen von aͤußern Ausbruͤ-
chen der Freude in Bewegungen des Koͤrpers. Ver-
langet man mehr, um ſich zu uͤberzeugen, daß ein ſol-
cher vergangener Gemuͤthszuſtand wieder vorgeſtellet
werde, durch die Aſſociation mit andern Vorſtellungen,
von denen er nicht mehr abhaͤngt, als die Jdee von dem
Thurm von der Jdee der Kirche? daß alſo die Wie-
dervorſtellung hier eben ſo etwas ſey, als ſie es bey den
Vorſtellungen aͤußerer geſehener Objekte iſt.

Es
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[70/0130] I. Verſuch. Ueber die Natur Man ſaget, die Wiedervorſtellung des Verdruſſes ſolle von Vorſtellungen abhangen, die uns jetzo nicht genug gegenwaͤrtig ſind, denn eine Vorſtellung koͤnne wirkſam ſeyn, ohne daß wir ſie gewahrnehmen. Die bewegenden Vorſtellungen ſollen wirklich in uns re- produciret werden, ohne daß wir uns ihrer bewußt ſind. Jenen Satz laͤugne ich nicht. Aber da ich nach der ge- naueſten Unterſuchung keine von den ehemals bewe- genden Vorſtellungen jetzo in mir antreffe, und viel- mehr ſehe, ich wuͤrde von dem derzeitigen Gemuͤthsſtan- de nicht einmal wiſſen, daß er vorhanden geweſen iſt, wenn ich nicht auf dieſe Wiedererinnerung durch Vor- ſtellungen gebracht waͤre, welche nicht die Urſachen, ſondern die Folgen und Aeuſſerungen von ihm geweſen ſind, ſo iſt es viel gefodert, daß ich die gegebene Erklaͤ- rung als die wahre annehmen ſoll. Die vorigen verurſachenden Vorſtellungen ſind entweder jetzo nicht vorhanden, oder doch ſo dunkel, daß ich ſie nicht gewahrnehme; und doch ſollen ſie in dem Grade thaͤtig ſeyn, daß ſie von neuem einen Anſatz zu der ehemaligen Gemuͤthsbewegung hervorbringen. Dieß nicht allein. Mich deucht, in ſolchen Faͤllen koͤnne man es oftmals wiſſen, daß wir uns der ehema- ligen Gemuͤthsbewegung nicht wieder erinnern wuͤrden, wenn nicht ſolche Vorſtellungen ihr Andenken erneuerten, welche der Zeit keine wirkende Urſachen von ihr geweſen ſind; wie z. B. die Vorſtellungen von aͤußern Ausbruͤ- chen der Freude in Bewegungen des Koͤrpers. Ver- langet man mehr, um ſich zu uͤberzeugen, daß ein ſol- cher vergangener Gemuͤthszuſtand wieder vorgeſtellet werde, durch die Aſſociation mit andern Vorſtellungen, von denen er nicht mehr abhaͤngt, als die Jdee von dem Thurm von der Jdee der Kirche? daß alſo die Wie- dervorſtellung hier eben ſo etwas ſey, als ſie es bey den Vorſtellungen aͤußerer geſehener Objekte iſt. Es

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/130>, abgerufen am 25.11.2024.