Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

Bild:
<< vorherige Seite

[Spaltenumbruch]

Zei
giebt zwischen der ersten Anwendung dieser Künste,
die blos auf ein unschuldiges, weiter nichts auf sich
habendes Ergözen des Auges abziehlt, und ihrem
Mißbrauch, der sie blos zur Unterstüzung einer über-
müthigen Pracht angewendet hat, eine Mittelstrasse,
die uns die zeichnenden Künste in ihrem höchsten
Werthe zeigen, da sie so wol zu allgemeiner Erhe-
bung oder Erhöhung des Gemüthes, als zu kräfti-
ger Lenkung desselben in besondern Fällen können
angewendet werden. Davon aber haben wir an
andern Orten hinlänglich gesprochen. (*) Wir be-
rufen uns hier nur deswegen darauf, damit man
sich überzeuge, daß die Aufnahm und Vollkommen-
heit dieser Künste, da sie das ihrige zu Vervollkomm-
nung des menschlichen Geschlechts beyträgt, keine
gleichgültige Sache sey.

Die strengern Sittenlehrer, die die zeichnenden
Künste ihres Mißbrauchs halber völlig verwerfen,
bedenken nicht, wohin ihre Grundsätze führen.
Wenn man alles, was blos unsern Geschmak am
Schönen nährt, unterdrüken sollte, so würde der
Mensch gerade die Vorzüge verliehren, die ihn am
höchsten über die Thiere empor heben. Man macht
uns reizende Schilderungen von der Glükseeligkeit
der noch an der ersten rohen Natur hangenden Völ-
ker, die bey gänzlichem Mangel jener Künste, die
nächsten und dringendsten Bedürfnisse der Natur in
sorgeloser Ruhe befriedigen. Aber man bedenkt
nicht, wie nahe solche Menschen den Thieren sind,
die eben so sorgefrey gerade die Bedürfnisse, die man
für die wichtigsten hält, befriedigen. Die so man-
nigfaltigen Talente des Menschen geben einen offen-
baren Beweiß, daß er zu einer Vollkommenheit be-
stimmt sey, von welcher der höchste Wolstand, der
blos Ruh und völligen Genuß aller Nothdurft
verstattet, noch unendlich entfernt ist. Aber diese
Betrachtung kann hier nicht weiter ausgeführt
werden.

Die allgemeine Benennung der Künste von denen
hier die Red ist, zeiget an, daß die Zeichnung das
Fundament derselben ist, und daß sie ihren eigent-
lichen Werth daher haben: deswegen haben wir
diese besonders zu betrachten.

Zeichnung.
(Zeichnende Künste.)

Daß die Zeichnung bey den bildenden Künsten die
Hauptsach sey, ist zu offenbar, als daß es eines
[Spaltenumbruch]

Zei
Beweises bedürfe; nur in Ansehung der Mahlerey,
sind deswegen Zweifel entstanden, weil es einigen
geschienen hat, daß das Colorit eben so wichtig, als
die Zeichnung sey. Es ist nicht selten, daß Ge-
mählde darin die Zeichnung unter dem mittelmäßi-
gen ist, wegen der Fürtreff lichkeit des Colorits un-
ter die ersten Werke der zeichnenden Künste gesezt
worden. Wenn man die Sache genau beurtheilen
will, muß man nur bedenken, ob durch Zeichnung,
oder durch Colorit das meiste ausgerichtet werde.
Daß in der Form der Körper überhaupt mehr Kraft
liege, als in ihrer Farb, ist wol keinem Zweifel
unterworfen. Die Form hängt aber größtentheils
von der Zeichnung ab. Aber in den Gemählden
scheinet eben diese Kraft der Form, ihren Nachdruk
vom Colorit zu bekommen. Die vollkommene Täu-
schung, der zufolge man im Gemählde, nicht einen
blos abgebildeten, sondern würklich vorhandenen
Gegenstand zu sehen glaubt, erhöhet und vollendet
die Kraft der Formen. Wer wird sagen können,
daß ein blos gezeichnetes Portrait bey der höchsten
Vollkommenheit der Zeichnung, so viel Eindruk
auf ihn mache, als wenn zu dieser Zeichnung noch
die völlige Wahrheit der Farben, und die daher ent-
springende Haltung und das Leben noch hinzukommt?
Man kann das Colorit mit der Schönheit des Aus-
druks, die Zeichnung aber mit dem Sinn, oder
dem nakenden Gedanken vergleichen. Der richtigste
und wichtigste Gedanken, thut erst alsdenn seine
volle Würkung, wenn er in einem vollkommenen
Ausdruk erscheint. Es giebt Gemählde, die bey
einer sehr mangelhaften Zeichnung, blos wegen der
ungemeinen Wahrheit, die das Colorit ihnen giebt,
nicht die Bewundrung der Kunst, (denn davon ist
hier nicht die Rede) sondern den lebhaftesten Eindruk
des Gegenstandes selbst bewürken. Doch davon haben
wir bereits anderswo gesprochen. (*) Wir wollen
hier nur so viel anmerken, daß dem Mahler Zeich-
nung und Colorit, eines so wichtig, wie das an-
dere seyn müsse, und daß er bey merklichem Mangel
sowol des einen, als des andern, kein vollkomme-
ner Mahler seyn könne. Wie der Redner mit den
fürtreflichsten Gedanken, die er elend vorträgt,
nichts ausrichtet; und wie der beredteste Mensch,
durch den höchsten Glanz des Ausdruks das gedan-
lose der Rede nicht würde verbergen können; so ver-
hält es sich auch mit dem Mahler, dem es an Colo-
rit oder an Zeichnung fehlte.

Zur
(*) S.
Baukunst;
Bildhau-
erkunst,
Mahlerey;
Stein- und
Stempel-
schneider-
kunst.
(*) S.
Colorit.

[Spaltenumbruch]

Zei
giebt zwiſchen der erſten Anwendung dieſer Kuͤnſte,
die blos auf ein unſchuldiges, weiter nichts auf ſich
habendes Ergoͤzen des Auges abziehlt, und ihrem
Mißbrauch, der ſie blos zur Unterſtuͤzung einer uͤber-
muͤthigen Pracht angewendet hat, eine Mittelſtraſſe,
die uns die zeichnenden Kuͤnſte in ihrem hoͤchſten
Werthe zeigen, da ſie ſo wol zu allgemeiner Erhe-
bung oder Erhoͤhung des Gemuͤthes, als zu kraͤfti-
ger Lenkung deſſelben in beſondern Faͤllen koͤnnen
angewendet werden. Davon aber haben wir an
andern Orten hinlaͤnglich geſprochen. (*) Wir be-
rufen uns hier nur deswegen darauf, damit man
ſich uͤberzeuge, daß die Aufnahm und Vollkommen-
heit dieſer Kuͤnſte, da ſie das ihrige zu Vervollkomm-
nung des menſchlichen Geſchlechts beytraͤgt, keine
gleichguͤltige Sache ſey.

Die ſtrengern Sittenlehrer, die die zeichnenden
Kuͤnſte ihres Mißbrauchs halber voͤllig verwerfen,
bedenken nicht, wohin ihre Grundſaͤtze fuͤhren.
Wenn man alles, was blos unſern Geſchmak am
Schoͤnen naͤhrt, unterdruͤken ſollte, ſo wuͤrde der
Menſch gerade die Vorzuͤge verliehren, die ihn am
hoͤchſten uͤber die Thiere empor heben. Man macht
uns reizende Schilderungen von der Gluͤkſeeligkeit
der noch an der erſten rohen Natur hangenden Voͤl-
ker, die bey gaͤnzlichem Mangel jener Kuͤnſte, die
naͤchſten und dringendſten Beduͤrfniſſe der Natur in
ſorgeloſer Ruhe befriedigen. Aber man bedenkt
nicht, wie nahe ſolche Menſchen den Thieren ſind,
die eben ſo ſorgefrey gerade die Beduͤrfniſſe, die man
fuͤr die wichtigſten haͤlt, befriedigen. Die ſo man-
nigfaltigen Talente des Menſchen geben einen offen-
baren Beweiß, daß er zu einer Vollkommenheit be-
ſtimmt ſey, von welcher der hoͤchſte Wolſtand, der
blos Ruh und voͤlligen Genuß aller Nothdurft
verſtattet, noch unendlich entfernt iſt. Aber dieſe
Betrachtung kann hier nicht weiter ausgefuͤhrt
werden.

Die allgemeine Benennung der Kuͤnſte von denen
hier die Red iſt, zeiget an, daß die Zeichnung das
Fundament derſelben iſt, und daß ſie ihren eigent-
lichen Werth daher haben: deswegen haben wir
dieſe beſonders zu betrachten.

Zeichnung.
(Zeichnende Kuͤnſte.)

Daß die Zeichnung bey den bildenden Kuͤnſten die
Hauptſach ſey, iſt zu offenbar, als daß es eines
[Spaltenumbruch]

Zei
Beweiſes beduͤrfe; nur in Anſehung der Mahlerey,
ſind deswegen Zweifel entſtanden, weil es einigen
geſchienen hat, daß das Colorit eben ſo wichtig, als
die Zeichnung ſey. Es iſt nicht ſelten, daß Ge-
maͤhlde darin die Zeichnung unter dem mittelmaͤßi-
gen iſt, wegen der Fuͤrtreff lichkeit des Colorits un-
ter die erſten Werke der zeichnenden Kuͤnſte geſezt
worden. Wenn man die Sache genau beurtheilen
will, muß man nur bedenken, ob durch Zeichnung,
oder durch Colorit das meiſte ausgerichtet werde.
Daß in der Form der Koͤrper uͤberhaupt mehr Kraft
liege, als in ihrer Farb, iſt wol keinem Zweifel
unterworfen. Die Form haͤngt aber groͤßtentheils
von der Zeichnung ab. Aber in den Gemaͤhlden
ſcheinet eben dieſe Kraft der Form, ihren Nachdruk
vom Colorit zu bekommen. Die vollkommene Taͤu-
ſchung, der zufolge man im Gemaͤhlde, nicht einen
blos abgebildeten, ſondern wuͤrklich vorhandenen
Gegenſtand zu ſehen glaubt, erhoͤhet und vollendet
die Kraft der Formen. Wer wird ſagen koͤnnen,
daß ein blos gezeichnetes Portrait bey der hoͤchſten
Vollkommenheit der Zeichnung, ſo viel Eindruk
auf ihn mache, als wenn zu dieſer Zeichnung noch
die voͤllige Wahrheit der Farben, und die daher ent-
ſpringende Haltung und das Leben noch hinzukommt?
Man kann das Colorit mit der Schoͤnheit des Aus-
druks, die Zeichnung aber mit dem Sinn, oder
dem nakenden Gedanken vergleichen. Der richtigſte
und wichtigſte Gedanken, thut erſt alsdenn ſeine
volle Wuͤrkung, wenn er in einem vollkommenen
Ausdruk erſcheint. Es giebt Gemaͤhlde, die bey
einer ſehr mangelhaften Zeichnung, blos wegen der
ungemeinen Wahrheit, die das Colorit ihnen giebt,
nicht die Bewundrung der Kunſt, (denn davon iſt
hier nicht die Rede) ſondern den lebhafteſten Eindruk
des Gegenſtandes ſelbſt bewuͤrken. Doch davon haben
wir bereits anderswo geſprochen. (*) Wir wollen
hier nur ſo viel anmerken, daß dem Mahler Zeich-
nung und Colorit, eines ſo wichtig, wie das an-
dere ſeyn muͤſſe, und daß er bey merklichem Mangel
ſowol des einen, als des andern, kein vollkomme-
ner Mahler ſeyn koͤnne. Wie der Redner mit den
fuͤrtreflichſten Gedanken, die er elend vortraͤgt,
nichts ausrichtet; und wie der beredteſte Menſch,
durch den hoͤchſten Glanz des Ausdruks das gedan-
loſe der Rede nicht wuͤrde verbergen koͤnnen; ſo ver-
haͤlt es ſich auch mit dem Mahler, dem es an Colo-
rit oder an Zeichnung fehlte.

Zur
(*) S.
Baukunſt;
Bildhau-
erkunſt,
Mahlerey;
Stein- und
Stempel-
ſchneider-
kunſt.
(*) S.
Colorit.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0711" n="1282[1264]"/><cb/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Zei</hi></fw><lb/>
giebt zwi&#x017F;chen der er&#x017F;ten Anwendung die&#x017F;er Ku&#x0364;n&#x017F;te,<lb/>
die blos auf ein un&#x017F;chuldiges, weiter nichts auf &#x017F;ich<lb/>
habendes Ergo&#x0364;zen des Auges abziehlt, und ihrem<lb/>
Mißbrauch, der &#x017F;ie blos zur Unter&#x017F;tu&#x0364;zung einer u&#x0364;ber-<lb/>
mu&#x0364;thigen Pracht angewendet hat, eine Mittel&#x017F;tra&#x017F;&#x017F;e,<lb/>
die uns die zeichnenden Ku&#x0364;n&#x017F;te in ihrem ho&#x0364;ch&#x017F;ten<lb/>
Werthe zeigen, da &#x017F;ie &#x017F;o wol zu allgemeiner Erhe-<lb/>
bung oder Erho&#x0364;hung des Gemu&#x0364;thes, als zu kra&#x0364;fti-<lb/>
ger Lenkung de&#x017F;&#x017F;elben in be&#x017F;ondern Fa&#x0364;llen ko&#x0364;nnen<lb/>
angewendet werden. Davon aber haben wir an<lb/>
andern Orten hinla&#x0364;nglich ge&#x017F;prochen. <note place="foot" n="(*)">S.<lb/>
Baukun&#x017F;t;<lb/>
Bildhau-<lb/>
erkun&#x017F;t,<lb/>
Mahlerey;<lb/>
Stein- und<lb/>
Stempel-<lb/>
&#x017F;chneider-<lb/>
kun&#x017F;t.</note> Wir be-<lb/>
rufen uns hier nur deswegen darauf, damit man<lb/>
&#x017F;ich u&#x0364;berzeuge, daß die Aufnahm und Vollkommen-<lb/>
heit die&#x017F;er Ku&#x0364;n&#x017F;te, da &#x017F;ie das ihrige zu Vervollkomm-<lb/>
nung des men&#x017F;chlichen Ge&#x017F;chlechts beytra&#x0364;gt, keine<lb/>
gleichgu&#x0364;ltige Sache &#x017F;ey.</p><lb/>
          <p>Die &#x017F;trengern Sittenlehrer, die die zeichnenden<lb/>
Ku&#x0364;n&#x017F;te ihres Mißbrauchs halber vo&#x0364;llig verwerfen,<lb/>
bedenken nicht, wohin ihre Grund&#x017F;a&#x0364;tze fu&#x0364;hren.<lb/>
Wenn man alles, was blos un&#x017F;ern Ge&#x017F;chmak am<lb/>
Scho&#x0364;nen na&#x0364;hrt, unterdru&#x0364;ken &#x017F;ollte, &#x017F;o wu&#x0364;rde der<lb/>
Men&#x017F;ch gerade die Vorzu&#x0364;ge verliehren, die ihn am<lb/>
ho&#x0364;ch&#x017F;ten u&#x0364;ber die Thiere empor heben. Man macht<lb/>
uns reizende Schilderungen von der Glu&#x0364;k&#x017F;eeligkeit<lb/>
der noch an der er&#x017F;ten rohen Natur hangenden Vo&#x0364;l-<lb/>
ker, die bey ga&#x0364;nzlichem Mangel jener Ku&#x0364;n&#x017F;te, die<lb/>
na&#x0364;ch&#x017F;ten und dringend&#x017F;ten Bedu&#x0364;rfni&#x017F;&#x017F;e der Natur in<lb/>
&#x017F;orgelo&#x017F;er Ruhe befriedigen. Aber man bedenkt<lb/>
nicht, wie nahe &#x017F;olche Men&#x017F;chen den Thieren &#x017F;ind,<lb/>
die eben &#x017F;o &#x017F;orgefrey gerade die Bedu&#x0364;rfni&#x017F;&#x017F;e, die man<lb/>
fu&#x0364;r die wichtig&#x017F;ten ha&#x0364;lt, befriedigen. Die &#x017F;o man-<lb/>
nigfaltigen Talente des Men&#x017F;chen geben einen offen-<lb/>
baren Beweiß, daß er zu einer Vollkommenheit be-<lb/>
&#x017F;timmt &#x017F;ey, von welcher der ho&#x0364;ch&#x017F;te Wol&#x017F;tand, der<lb/>
blos Ruh und vo&#x0364;lligen Genuß aller Nothdurft<lb/>
ver&#x017F;tattet, noch unendlich entfernt i&#x017F;t. Aber die&#x017F;e<lb/>
Betrachtung kann hier nicht weiter ausgefu&#x0364;hrt<lb/>
werden.</p><lb/>
          <p>Die allgemeine Benennung der Ku&#x0364;n&#x017F;te von denen<lb/>
hier die Red i&#x017F;t, zeiget an, daß die Zeichnung das<lb/>
Fundament der&#x017F;elben i&#x017F;t, und daß &#x017F;ie ihren eigent-<lb/>
lichen Werth daher haben: deswegen haben wir<lb/>
die&#x017F;e be&#x017F;onders zu betrachten.</p>
        </div><lb/>
        <div n="2">
          <head><hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Zeichnung</hi>.</hi><lb/>
(Zeichnende Ku&#x0364;n&#x017F;te.)</head><lb/>
          <p><hi rendition="#in">D</hi>aß die Zeichnung bey den bildenden Ku&#x0364;n&#x017F;ten die<lb/>
Haupt&#x017F;ach &#x017F;ey, i&#x017F;t zu offenbar, als daß es eines<lb/><cb/>
<fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Zei</hi></fw><lb/>
Bewei&#x017F;es bedu&#x0364;rfe; nur in An&#x017F;ehung der Mahlerey,<lb/>
&#x017F;ind deswegen Zweifel ent&#x017F;tanden, weil es einigen<lb/>
ge&#x017F;chienen hat, daß das Colorit eben &#x017F;o wichtig, als<lb/>
die Zeichnung &#x017F;ey. Es i&#x017F;t nicht &#x017F;elten, daß Ge-<lb/>
ma&#x0364;hlde darin die Zeichnung unter dem mittelma&#x0364;ßi-<lb/>
gen i&#x017F;t, wegen der Fu&#x0364;rtreff lichkeit des Colorits un-<lb/>
ter die er&#x017F;ten Werke der zeichnenden Ku&#x0364;n&#x017F;te ge&#x017F;ezt<lb/>
worden. Wenn man die Sache genau beurtheilen<lb/>
will, muß man nur bedenken, ob durch Zeichnung,<lb/>
oder durch Colorit das mei&#x017F;te ausgerichtet werde.<lb/>
Daß in der Form der Ko&#x0364;rper u&#x0364;berhaupt mehr Kraft<lb/>
liege, als in ihrer Farb, i&#x017F;t wol keinem Zweifel<lb/>
unterworfen. Die Form ha&#x0364;ngt aber gro&#x0364;ßtentheils<lb/>
von der Zeichnung ab. Aber in den Gema&#x0364;hlden<lb/>
&#x017F;cheinet eben die&#x017F;e Kraft der Form, ihren Nachdruk<lb/>
vom Colorit zu bekommen. Die vollkommene Ta&#x0364;u-<lb/>
&#x017F;chung, der zufolge man im Gema&#x0364;hlde, nicht einen<lb/>
blos abgebildeten, &#x017F;ondern wu&#x0364;rklich vorhandenen<lb/>
Gegen&#x017F;tand zu &#x017F;ehen glaubt, erho&#x0364;het und vollendet<lb/>
die Kraft der Formen. Wer wird &#x017F;agen ko&#x0364;nnen,<lb/>
daß ein blos gezeichnetes Portrait bey der ho&#x0364;ch&#x017F;ten<lb/>
Vollkommenheit der Zeichnung, &#x017F;o viel Eindruk<lb/>
auf ihn mache, als wenn zu die&#x017F;er Zeichnung noch<lb/>
die vo&#x0364;llige Wahrheit der Farben, und die daher ent-<lb/>
&#x017F;pringende Haltung und das Leben noch hinzukommt?<lb/>
Man kann das Colorit mit der Scho&#x0364;nheit des Aus-<lb/>
druks, die Zeichnung aber mit dem Sinn, oder<lb/>
dem nakenden Gedanken vergleichen. Der richtig&#x017F;te<lb/>
und wichtig&#x017F;te Gedanken, thut er&#x017F;t alsdenn &#x017F;eine<lb/>
volle Wu&#x0364;rkung, wenn er in einem vollkommenen<lb/>
Ausdruk er&#x017F;cheint. Es giebt Gema&#x0364;hlde, die bey<lb/>
einer &#x017F;ehr mangelhaften Zeichnung, blos wegen der<lb/>
ungemeinen Wahrheit, die das Colorit ihnen giebt,<lb/>
nicht die Bewundrung der Kun&#x017F;t, (denn davon i&#x017F;t<lb/>
hier nicht die Rede) &#x017F;ondern den lebhafte&#x017F;ten Eindruk<lb/>
des Gegen&#x017F;tandes &#x017F;elb&#x017F;t bewu&#x0364;rken. Doch davon haben<lb/>
wir bereits anderswo ge&#x017F;prochen. <note place="foot" n="(*)">S.<lb/>
Colorit.</note> Wir wollen<lb/>
hier nur &#x017F;o viel anmerken, daß dem Mahler Zeich-<lb/>
nung und Colorit, eines &#x017F;o wichtig, wie das an-<lb/>
dere &#x017F;eyn mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e, und daß er bey merklichem Mangel<lb/>
&#x017F;owol des einen, als des andern, kein vollkomme-<lb/>
ner Mahler &#x017F;eyn ko&#x0364;nne. Wie der Redner mit den<lb/>
fu&#x0364;rtreflich&#x017F;ten Gedanken, die er elend vortra&#x0364;gt,<lb/>
nichts ausrichtet; und wie der beredte&#x017F;te Men&#x017F;ch,<lb/>
durch den ho&#x0364;ch&#x017F;ten Glanz des Ausdruks das gedan-<lb/>
lo&#x017F;e der Rede nicht wu&#x0364;rde verbergen ko&#x0364;nnen; &#x017F;o ver-<lb/>
ha&#x0364;lt es &#x017F;ich auch mit dem Mahler, dem es an Colo-<lb/>
rit oder an Zeichnung fehlte.</p><lb/>
          <fw place="bottom" type="catch">Zur</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[1282[1264]/0711] Zei Zei giebt zwiſchen der erſten Anwendung dieſer Kuͤnſte, die blos auf ein unſchuldiges, weiter nichts auf ſich habendes Ergoͤzen des Auges abziehlt, und ihrem Mißbrauch, der ſie blos zur Unterſtuͤzung einer uͤber- muͤthigen Pracht angewendet hat, eine Mittelſtraſſe, die uns die zeichnenden Kuͤnſte in ihrem hoͤchſten Werthe zeigen, da ſie ſo wol zu allgemeiner Erhe- bung oder Erhoͤhung des Gemuͤthes, als zu kraͤfti- ger Lenkung deſſelben in beſondern Faͤllen koͤnnen angewendet werden. Davon aber haben wir an andern Orten hinlaͤnglich geſprochen. (*) Wir be- rufen uns hier nur deswegen darauf, damit man ſich uͤberzeuge, daß die Aufnahm und Vollkommen- heit dieſer Kuͤnſte, da ſie das ihrige zu Vervollkomm- nung des menſchlichen Geſchlechts beytraͤgt, keine gleichguͤltige Sache ſey. Die ſtrengern Sittenlehrer, die die zeichnenden Kuͤnſte ihres Mißbrauchs halber voͤllig verwerfen, bedenken nicht, wohin ihre Grundſaͤtze fuͤhren. Wenn man alles, was blos unſern Geſchmak am Schoͤnen naͤhrt, unterdruͤken ſollte, ſo wuͤrde der Menſch gerade die Vorzuͤge verliehren, die ihn am hoͤchſten uͤber die Thiere empor heben. Man macht uns reizende Schilderungen von der Gluͤkſeeligkeit der noch an der erſten rohen Natur hangenden Voͤl- ker, die bey gaͤnzlichem Mangel jener Kuͤnſte, die naͤchſten und dringendſten Beduͤrfniſſe der Natur in ſorgeloſer Ruhe befriedigen. Aber man bedenkt nicht, wie nahe ſolche Menſchen den Thieren ſind, die eben ſo ſorgefrey gerade die Beduͤrfniſſe, die man fuͤr die wichtigſten haͤlt, befriedigen. Die ſo man- nigfaltigen Talente des Menſchen geben einen offen- baren Beweiß, daß er zu einer Vollkommenheit be- ſtimmt ſey, von welcher der hoͤchſte Wolſtand, der blos Ruh und voͤlligen Genuß aller Nothdurft verſtattet, noch unendlich entfernt iſt. Aber dieſe Betrachtung kann hier nicht weiter ausgefuͤhrt werden. Die allgemeine Benennung der Kuͤnſte von denen hier die Red iſt, zeiget an, daß die Zeichnung das Fundament derſelben iſt, und daß ſie ihren eigent- lichen Werth daher haben: deswegen haben wir dieſe beſonders zu betrachten. Zeichnung. (Zeichnende Kuͤnſte.) Daß die Zeichnung bey den bildenden Kuͤnſten die Hauptſach ſey, iſt zu offenbar, als daß es eines Beweiſes beduͤrfe; nur in Anſehung der Mahlerey, ſind deswegen Zweifel entſtanden, weil es einigen geſchienen hat, daß das Colorit eben ſo wichtig, als die Zeichnung ſey. Es iſt nicht ſelten, daß Ge- maͤhlde darin die Zeichnung unter dem mittelmaͤßi- gen iſt, wegen der Fuͤrtreff lichkeit des Colorits un- ter die erſten Werke der zeichnenden Kuͤnſte geſezt worden. Wenn man die Sache genau beurtheilen will, muß man nur bedenken, ob durch Zeichnung, oder durch Colorit das meiſte ausgerichtet werde. Daß in der Form der Koͤrper uͤberhaupt mehr Kraft liege, als in ihrer Farb, iſt wol keinem Zweifel unterworfen. Die Form haͤngt aber groͤßtentheils von der Zeichnung ab. Aber in den Gemaͤhlden ſcheinet eben dieſe Kraft der Form, ihren Nachdruk vom Colorit zu bekommen. Die vollkommene Taͤu- ſchung, der zufolge man im Gemaͤhlde, nicht einen blos abgebildeten, ſondern wuͤrklich vorhandenen Gegenſtand zu ſehen glaubt, erhoͤhet und vollendet die Kraft der Formen. Wer wird ſagen koͤnnen, daß ein blos gezeichnetes Portrait bey der hoͤchſten Vollkommenheit der Zeichnung, ſo viel Eindruk auf ihn mache, als wenn zu dieſer Zeichnung noch die voͤllige Wahrheit der Farben, und die daher ent- ſpringende Haltung und das Leben noch hinzukommt? Man kann das Colorit mit der Schoͤnheit des Aus- druks, die Zeichnung aber mit dem Sinn, oder dem nakenden Gedanken vergleichen. Der richtigſte und wichtigſte Gedanken, thut erſt alsdenn ſeine volle Wuͤrkung, wenn er in einem vollkommenen Ausdruk erſcheint. Es giebt Gemaͤhlde, die bey einer ſehr mangelhaften Zeichnung, blos wegen der ungemeinen Wahrheit, die das Colorit ihnen giebt, nicht die Bewundrung der Kunſt, (denn davon iſt hier nicht die Rede) ſondern den lebhafteſten Eindruk des Gegenſtandes ſelbſt bewuͤrken. Doch davon haben wir bereits anderswo geſprochen. (*) Wir wollen hier nur ſo viel anmerken, daß dem Mahler Zeich- nung und Colorit, eines ſo wichtig, wie das an- dere ſeyn muͤſſe, und daß er bey merklichem Mangel ſowol des einen, als des andern, kein vollkomme- ner Mahler ſeyn koͤnne. Wie der Redner mit den fuͤrtreflichſten Gedanken, die er elend vortraͤgt, nichts ausrichtet; und wie der beredteſte Menſch, durch den hoͤchſten Glanz des Ausdruks das gedan- loſe der Rede nicht wuͤrde verbergen koͤnnen; ſo ver- haͤlt es ſich auch mit dem Mahler, dem es an Colo- rit oder an Zeichnung fehlte. Zur (*) S. Baukunſt; Bildhau- erkunſt, Mahlerey; Stein- und Stempel- ſchneider- kunſt. (*) S. Colorit.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/711
Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1282[1264]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/711>, abgerufen am 25.11.2024.