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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Tan
das nicht seine Tänze der Fröhlichkeit hätte. Ob
aber gleich der natürliche Tanz blos aus Freud und
Fröhlichkeit entstehet, so schränket die Kunst sich
nicht blos auf diese Gattung ein, sondern bedienet
sich der ästhetischen Kraft, die in Stellung und Be-
wegung des Körpers liegt, so weit, als sie rei-
chen kann.

Nun ist offenbar, daß kaum etwas in dem sitt-
lichen Charakter der Menschen vorkommt, das nicht
durch Stellung und Bewegung des Körpers ver-
ständlich und lebhaft könnte ausgedrükt werden.
Deswegen ist der Tanz in seiner Art eben so fähig,
als Musik und die Rede selbst, zur sittlichen und
leidenschaftlichen Sprache gebildet zu werden. Wie
aber nicht jede leidenschaftliche Red ein Gedicht, noch
jede Folge leidenschaftlicher Töne ein Gesang ist, so
ist auch nicht jeder Ausdruk der Empfindung durch
Gang und Gebehrden ein Tanz. Also müssen wir
vor allen Dingen untersuchen, wodurch ein solcher
Gang zum Tanz wird. Die Rede wird durch Ein-
heit des Jnhalts und einen abgemessenen Gang der
Worte zum Gedicht, und eine Folge von Tönen
wird ebenfalls durch den abgemessenen Gang und
Einheit des Tones zum Gesange (*). Daher läßt
sich schließen, daß auch Einheit des Charakters,
oder Ausdruks mit abgemessener Bewegung oder
mit Rhythmus verbunden, den Gang zum Tanz
erhebe. Dieses bedärf keiner weitern Ausführung,
da es klar gnug ist.

Wir haben also bey jedem Tanz auf zwey Dinge
zu sehen, auf den Rhythmus, und auf den Charak-
ter, oder den Ausdruk, in so fern er von dem Rhyth-
mus unabhänglich ist. Schon der Rhythmus allein,
ohne allen andern Ausdruk, kann der Bewegung
nicht nur etwas angenehmes und unterhaltendes,
sondern auch etwas vom Ausdruk der Empfindung
geben. Dieses ist aus dem, was wir über die Na-
tur des Rhythmus angemerkt haben, offenbar (*).
Also könnte schon in leblosen Körpern eine Bewegung
statt haben, die durch Takt und Rhythmus nicht nur
schön und daher angenehm wäre, sondern auch ver-
schiedene Charaktere, als Lebhaftigkeit, Ernst, Ar-
tigkeit, Hoheit und mehr dergleichen, ausdrükte.
Wollte man diese ästhetische Kraft einer solchen Be-
wegung verstärken, so müßte man sie mit Musik
begleiten, deren Takt und Rhythmus genau mit de-
nen, die in der Bewegung sind, übereinkommen;
denn das Ohr vernihmt alles metrische weit leichter,
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Tan
als das Aug. Daß dieses das wesentliche des Tan-
zes sey, läßt sich so leicht fühlen, daß auch die Völ-
ker, bey denen der Geschmak noch völlig unentwi-
kelt ist, ihre Tänze mit Musik begleiten. Sezet
man nun noch hinzu, daß durch Minen, Stellung
und Gebehrden jede Art der Empfindung in dieser
rhythmischen Bewegung könne angebracht werden,
so begreift man gar leichte, wie der Tanz zu einem
Werk des Geschmaks werden könne, der an ästheti-
scher Kraft jedem andern den Vorzug streitig macht.
Es ist keine Gemüthslage, kein Gemüthscharakter,
keine Leidenschaft, die nicht durch den Tanz auf das
lebhafteste geschildert werden könne.

Aber der Tanz hat, wie der Gesang, vor allen
Werken der Künste noch dieses voraus, daß er nicht
blos durch die lebhafte Schilderung würket, sondern
über dem durch die Ausübung eine weit größere
Kraft erhält, als irgend ein anderes Werk der Kunst,
das wir blos durch das Anschauen, oder Anhören ge-
nießen. Wie das Lied, das wir selbst singen, un-
gleich mehr Kraft auf uns hat, als das, welches
wir blos anhören: so hat auch der Tanz nur auf
diejenigen, die ihn würklich ausüben, die volleste
Kraft. Man wird darum von keiner andern Kunst
so augenscheinliche und so lebhafte Würkung sehen,
als die ist, die der Tanz auf die tanzenden Personen
macht. Denn man hat, wo ich nicht irre, Bey-
spiehle, daß Menschen sich zu Tode getanzt haben; so
sehr groß ist die Begierde die Rührungen zu empfin-
den, die das Tanzen hervorbringt.

Hieraus folget nun, daß man durch die Tanz-
kunst ungemein viel auswürken könnte, wenn nur
Geschmak und Genie die Arbeiten und die Anwen-
dung der Kunst leiteten. Man ist zwar gewohnt,
das Tanzen, als eine bloße Lustbarkeit anzusehen,
die keine größere Wichtigkeit hat, als hundert andere
Ergözlichkeiten, denen Niemand großen Werth bey-
legt: und ich zweifle nicht, daß es manchem seltsam,
oder gar ungereimt vorkommen werde, wenn er
sehen wird, daß wir hier das Tauzen aus einem et-
was ernsthaften Gesichtspunkt betrachten. Da wir
aber in diesem ganzen Werke gar alle schönen Kün-
ste und selbst die geringern Werke derselben, die
man durchgehends nur, als Gegenstände des Zeit-
vertreibes ansieht, in dem vollen Werthe betrachtet
haben, den überlegende Vernunft ihnen geben kann;
so soll uns das Vorurtheil gar nicht abhalten, auch
den Tanz von seiner wichtigen Seite zu betrachten.

Wenn
(*) S.
Gesang.
(*) S.
Rhythmus
Zweyter Theil. C c c c c c c

[Spaltenumbruch]

Tan
das nicht ſeine Taͤnze der Froͤhlichkeit haͤtte. Ob
aber gleich der natuͤrliche Tanz blos aus Freud und
Froͤhlichkeit entſtehet, ſo ſchraͤnket die Kunſt ſich
nicht blos auf dieſe Gattung ein, ſondern bedienet
ſich der aͤſthetiſchen Kraft, die in Stellung und Be-
wegung des Koͤrpers liegt, ſo weit, als ſie rei-
chen kann.

Nun iſt offenbar, daß kaum etwas in dem ſitt-
lichen Charakter der Menſchen vorkommt, das nicht
durch Stellung und Bewegung des Koͤrpers ver-
ſtaͤndlich und lebhaft koͤnnte ausgedruͤkt werden.
Deswegen iſt der Tanz in ſeiner Art eben ſo faͤhig,
als Muſik und die Rede ſelbſt, zur ſittlichen und
leidenſchaftlichen Sprache gebildet zu werden. Wie
aber nicht jede leidenſchaftliche Red ein Gedicht, noch
jede Folge leidenſchaftlicher Toͤne ein Geſang iſt, ſo
iſt auch nicht jeder Ausdruk der Empfindung durch
Gang und Gebehrden ein Tanz. Alſo muͤſſen wir
vor allen Dingen unterſuchen, wodurch ein ſolcher
Gang zum Tanz wird. Die Rede wird durch Ein-
heit des Jnhalts und einen abgemeſſenen Gang der
Worte zum Gedicht, und eine Folge von Toͤnen
wird ebenfalls durch den abgemeſſenen Gang und
Einheit des Tones zum Geſange (*). Daher laͤßt
ſich ſchließen, daß auch Einheit des Charakters,
oder Ausdruks mit abgemeſſener Bewegung oder
mit Rhythmus verbunden, den Gang zum Tanz
erhebe. Dieſes bedaͤrf keiner weitern Ausfuͤhrung,
da es klar gnug iſt.

Wir haben alſo bey jedem Tanz auf zwey Dinge
zu ſehen, auf den Rhythmus, und auf den Charak-
ter, oder den Ausdruk, in ſo fern er von dem Rhyth-
mus unabhaͤnglich iſt. Schon der Rhythmus allein,
ohne allen andern Ausdruk, kann der Bewegung
nicht nur etwas angenehmes und unterhaltendes,
ſondern auch etwas vom Ausdruk der Empfindung
geben. Dieſes iſt aus dem, was wir uͤber die Na-
tur des Rhythmus angemerkt haben, offenbar (*).
Alſo koͤnnte ſchon in lebloſen Koͤrpern eine Bewegung
ſtatt haben, die durch Takt und Rhythmus nicht nur
ſchoͤn und daher angenehm waͤre, ſondern auch ver-
ſchiedene Charaktere, als Lebhaftigkeit, Ernſt, Ar-
tigkeit, Hoheit und mehr dergleichen, ausdruͤkte.
Wollte man dieſe aͤſthetiſche Kraft einer ſolchen Be-
wegung verſtaͤrken, ſo muͤßte man ſie mit Muſik
begleiten, deren Takt und Rhythmus genau mit de-
nen, die in der Bewegung ſind, uͤbereinkommen;
denn das Ohr vernihmt alles metriſche weit leichter,
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Tan
als das Aug. Daß dieſes das weſentliche des Tan-
zes ſey, laͤßt ſich ſo leicht fuͤhlen, daß auch die Voͤl-
ker, bey denen der Geſchmak noch voͤllig unentwi-
kelt iſt, ihre Taͤnze mit Muſik begleiten. Sezet
man nun noch hinzu, daß durch Minen, Stellung
und Gebehrden jede Art der Empfindung in dieſer
rhythmiſchen Bewegung koͤnne angebracht werden,
ſo begreift man gar leichte, wie der Tanz zu einem
Werk des Geſchmaks werden koͤnne, der an aͤſtheti-
ſcher Kraft jedem andern den Vorzug ſtreitig macht.
Es iſt keine Gemuͤthslage, kein Gemuͤthscharakter,
keine Leidenſchaft, die nicht durch den Tanz auf das
lebhafteſte geſchildert werden koͤnne.

Aber der Tanz hat, wie der Geſang, vor allen
Werken der Kuͤnſte noch dieſes voraus, daß er nicht
blos durch die lebhafte Schilderung wuͤrket, ſondern
uͤber dem durch die Ausuͤbung eine weit groͤßere
Kraft erhaͤlt, als irgend ein anderes Werk der Kunſt,
das wir blos durch das Anſchauen, oder Anhoͤren ge-
nießen. Wie das Lied, das wir ſelbſt ſingen, un-
gleich mehr Kraft auf uns hat, als das, welches
wir blos anhoͤren: ſo hat auch der Tanz nur auf
diejenigen, die ihn wuͤrklich ausuͤben, die volleſte
Kraft. Man wird darum von keiner andern Kunſt
ſo augenſcheinliche und ſo lebhafte Wuͤrkung ſehen,
als die iſt, die der Tanz auf die tanzenden Perſonen
macht. Denn man hat, wo ich nicht irre, Bey-
ſpiehle, daß Menſchen ſich zu Tode getanzt haben; ſo
ſehr groß iſt die Begierde die Ruͤhrungen zu empfin-
den, die das Tanzen hervorbringt.

Hieraus folget nun, daß man durch die Tanz-
kunſt ungemein viel auswuͤrken koͤnnte, wenn nur
Geſchmak und Genie die Arbeiten und die Anwen-
dung der Kunſt leiteten. Man iſt zwar gewohnt,
das Tanzen, als eine bloße Luſtbarkeit anzuſehen,
die keine groͤßere Wichtigkeit hat, als hundert andere
Ergoͤzlichkeiten, denen Niemand großen Werth bey-
legt: und ich zweifle nicht, daß es manchem ſeltſam,
oder gar ungereimt vorkommen werde, wenn er
ſehen wird, daß wir hier das Tauzen aus einem et-
was ernſthaften Geſichtspunkt betrachten. Da wir
aber in dieſem ganzen Werke gar alle ſchoͤnen Kuͤn-
ſte und ſelbſt die geringern Werke derſelben, die
man durchgehends nur, als Gegenſtaͤnde des Zeit-
vertreibes anſieht, in dem vollen Werthe betrachtet
haben, den uͤberlegende Vernunft ihnen geben kann;
ſo ſoll uns das Vorurtheil gar nicht abhalten, auch
den Tanz von ſeiner wichtigen Seite zu betrachten.

Wenn
(*) S.
Geſang.
(*) S.
Rhythmus
Zweyter Theil. C c c c c c c
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[1139[1121]/0568] Tan Tan das nicht ſeine Taͤnze der Froͤhlichkeit haͤtte. Ob aber gleich der natuͤrliche Tanz blos aus Freud und Froͤhlichkeit entſtehet, ſo ſchraͤnket die Kunſt ſich nicht blos auf dieſe Gattung ein, ſondern bedienet ſich der aͤſthetiſchen Kraft, die in Stellung und Be- wegung des Koͤrpers liegt, ſo weit, als ſie rei- chen kann. Nun iſt offenbar, daß kaum etwas in dem ſitt- lichen Charakter der Menſchen vorkommt, das nicht durch Stellung und Bewegung des Koͤrpers ver- ſtaͤndlich und lebhaft koͤnnte ausgedruͤkt werden. Deswegen iſt der Tanz in ſeiner Art eben ſo faͤhig, als Muſik und die Rede ſelbſt, zur ſittlichen und leidenſchaftlichen Sprache gebildet zu werden. Wie aber nicht jede leidenſchaftliche Red ein Gedicht, noch jede Folge leidenſchaftlicher Toͤne ein Geſang iſt, ſo iſt auch nicht jeder Ausdruk der Empfindung durch Gang und Gebehrden ein Tanz. Alſo muͤſſen wir vor allen Dingen unterſuchen, wodurch ein ſolcher Gang zum Tanz wird. Die Rede wird durch Ein- heit des Jnhalts und einen abgemeſſenen Gang der Worte zum Gedicht, und eine Folge von Toͤnen wird ebenfalls durch den abgemeſſenen Gang und Einheit des Tones zum Geſange (*). Daher laͤßt ſich ſchließen, daß auch Einheit des Charakters, oder Ausdruks mit abgemeſſener Bewegung oder mit Rhythmus verbunden, den Gang zum Tanz erhebe. Dieſes bedaͤrf keiner weitern Ausfuͤhrung, da es klar gnug iſt. Wir haben alſo bey jedem Tanz auf zwey Dinge zu ſehen, auf den Rhythmus, und auf den Charak- ter, oder den Ausdruk, in ſo fern er von dem Rhyth- mus unabhaͤnglich iſt. Schon der Rhythmus allein, ohne allen andern Ausdruk, kann der Bewegung nicht nur etwas angenehmes und unterhaltendes, ſondern auch etwas vom Ausdruk der Empfindung geben. Dieſes iſt aus dem, was wir uͤber die Na- tur des Rhythmus angemerkt haben, offenbar (*). Alſo koͤnnte ſchon in lebloſen Koͤrpern eine Bewegung ſtatt haben, die durch Takt und Rhythmus nicht nur ſchoͤn und daher angenehm waͤre, ſondern auch ver- ſchiedene Charaktere, als Lebhaftigkeit, Ernſt, Ar- tigkeit, Hoheit und mehr dergleichen, ausdruͤkte. Wollte man dieſe aͤſthetiſche Kraft einer ſolchen Be- wegung verſtaͤrken, ſo muͤßte man ſie mit Muſik begleiten, deren Takt und Rhythmus genau mit de- nen, die in der Bewegung ſind, uͤbereinkommen; denn das Ohr vernihmt alles metriſche weit leichter, als das Aug. Daß dieſes das weſentliche des Tan- zes ſey, laͤßt ſich ſo leicht fuͤhlen, daß auch die Voͤl- ker, bey denen der Geſchmak noch voͤllig unentwi- kelt iſt, ihre Taͤnze mit Muſik begleiten. Sezet man nun noch hinzu, daß durch Minen, Stellung und Gebehrden jede Art der Empfindung in dieſer rhythmiſchen Bewegung koͤnne angebracht werden, ſo begreift man gar leichte, wie der Tanz zu einem Werk des Geſchmaks werden koͤnne, der an aͤſtheti- ſcher Kraft jedem andern den Vorzug ſtreitig macht. Es iſt keine Gemuͤthslage, kein Gemuͤthscharakter, keine Leidenſchaft, die nicht durch den Tanz auf das lebhafteſte geſchildert werden koͤnne. Aber der Tanz hat, wie der Geſang, vor allen Werken der Kuͤnſte noch dieſes voraus, daß er nicht blos durch die lebhafte Schilderung wuͤrket, ſondern uͤber dem durch die Ausuͤbung eine weit groͤßere Kraft erhaͤlt, als irgend ein anderes Werk der Kunſt, das wir blos durch das Anſchauen, oder Anhoͤren ge- nießen. Wie das Lied, das wir ſelbſt ſingen, un- gleich mehr Kraft auf uns hat, als das, welches wir blos anhoͤren: ſo hat auch der Tanz nur auf diejenigen, die ihn wuͤrklich ausuͤben, die volleſte Kraft. Man wird darum von keiner andern Kunſt ſo augenſcheinliche und ſo lebhafte Wuͤrkung ſehen, als die iſt, die der Tanz auf die tanzenden Perſonen macht. Denn man hat, wo ich nicht irre, Bey- ſpiehle, daß Menſchen ſich zu Tode getanzt haben; ſo ſehr groß iſt die Begierde die Ruͤhrungen zu empfin- den, die das Tanzen hervorbringt. Hieraus folget nun, daß man durch die Tanz- kunſt ungemein viel auswuͤrken koͤnnte, wenn nur Geſchmak und Genie die Arbeiten und die Anwen- dung der Kunſt leiteten. Man iſt zwar gewohnt, das Tanzen, als eine bloße Luſtbarkeit anzuſehen, die keine groͤßere Wichtigkeit hat, als hundert andere Ergoͤzlichkeiten, denen Niemand großen Werth bey- legt: und ich zweifle nicht, daß es manchem ſeltſam, oder gar ungereimt vorkommen werde, wenn er ſehen wird, daß wir hier das Tauzen aus einem et- was ernſthaften Geſichtspunkt betrachten. Da wir aber in dieſem ganzen Werke gar alle ſchoͤnen Kuͤn- ſte und ſelbſt die geringern Werke derſelben, die man durchgehends nur, als Gegenſtaͤnde des Zeit- vertreibes anſieht, in dem vollen Werthe betrachtet haben, den uͤberlegende Vernunft ihnen geben kann; ſo ſoll uns das Vorurtheil gar nicht abhalten, auch den Tanz von ſeiner wichtigen Seite zu betrachten. Wenn (*) S. Geſang. (*) S. Rhythmus Zweyter Theil. C c c c c c c

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1139[1121]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/568>, abgerufen am 17.05.2024.