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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Kün
redsamkeit, die bald hernach durch die aus dem
Oriente nach Jtalien geflüchteten Griechen allmäh-
lig bekaunt wurden. Da sah man die Früchte des
Geschmaks dieser Zweige der Kunst wieder in ihrer
Reife, und dadurch wurde man angetrieben auch
das, was in andern Gattungen noch hier und
da übrig geblieben war, aus den Ruinen wieder
hervor zu suchen. Der Geschmak der Künstler
wurde wieder geschärft; der Beyfall und Ruhm,
den einige durch Nachahmung alter Werke erhalten,
zündete auch in andern das Feuer der Nacheiferung
an, und so erhoben sich die Künste wieder aus dem
Staub empor, und breiteten sich aus Jtalien all-
mählig in dem ganzen Occident, und auch bis nach
Norden aus. Man merkte durchgehends, daß die
Werke der alten Kunst die Muster wären, an die
man sich zu halten hätte, um allen schönen Künsten
ihre beste Gestalt wieder zu geben. Da zugleich
eine gesundere Politik mehr Ruhe in die Staaten
eingeführet, denen sie eine grössere Festigkeit gegeben
hatte, so nahm auch die Liebe zu den schönen Kün-
sten dadurch zu, und so bekamen sie allmählig den
Flor, in welchem wir sie gegenwärtig sehen.

Damit wir uns einen bequemen Standort berei-
ten, aus welchem wir eine freye Aussicht über den
gegenwärtigen Zustand der schönen Künste haben,
müssen wir wieder zu allgemeinen Betrachtungen
über ihre Natur und Anwendung zurükekehren.

Wir haben gesehen, was sie in ihrer vollen
Kraft seyn können. Die eigentlichsten Mittel, die
Gemüther der Menschen mit Zuneigung für alles
Schöne und Gute zu erfüllen, -- die Wahrheit
würksam zu machen, und der Tugend Reizung zu
geben, -- den Menschen zu jedem Guten anzutrei-
ben, und von allen schädlichen Unternehmungen zu-
rück zu halten -- und überhaupt ihm, wenn er ein-
mal durch die Vernunft hinlänglich von seinem wah-
ten sittlichen Jnteresse unterrichtet worden, jede
Kraft zu unauf hörlicher Bewürkung desselben in
seine Seele zu legen.

Daß sie jemals unter irgend einem Volke diese Voll-
kommenheit erreicht haben, kann mit Gewißheit nicht
behauptet werden; daß aber eine Zeit gewesen sey,
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Kün
wo sie sich derselben genähert haben, scheinet gewiß.
Die Griechen hatten von den schönen Künsten den
richtigen Begriff, daß sie zu Bildung der Sitten
und zu Unterstützung der Philosophie, und selbst
der Religion dienen. Darum ließen sie es auch an
Aufmunterung der Künstler durch Ehre, Ruhm
und andre Belohnung, nicht ermangeln. Jn ei-
nigen griechischen Staaten war der größte Redner
oft der Mann, der mit der höchsten Würde des
Staats bekleidet wurde. Die Gesetzgeber und Re-
genten sahen große Dichter als wichtige Personen
an, die den Gesetzen selbst Kraft geben könnten.
Homer wurde für den besten Rathgeber des Staats-
mannes und des Heerführers, und für den besten
Hofmeister des Privatmannes angesehen, und in
dieser Absicht schrieb Lykurgus die zerstreuten Ge-
sänge dieses Dichters in Kreta zusammen. Eben
dieser Gesetzgeber gewann den Dichter und Sänger
Thales, daß er aus dieser Jnsel mit ihm nach Sparta
zog, und dort durch seine Gesänge die Gesetzge-
bung erleichterte. (*) Die Alten, sagt ein griechischer
Philosoph (**) hielten dafür, daß die Dichtkunst
einigermaaßen die erste Philosophie sey, die uns
von Kindheit an den Weg zu einem richtigen Leben
weise, und auf eine angenehme Weise Sitten, Em-
pfindungen und Thaten lehre, (+) die unsrigen
aber (die Pythagoräer) lehren, daß allein der Dich-
ter der wahre Weise sey." Daher haben auch die
Griechen ihre Kinder zuerst in der Dichtkunst unter-
richten lassen. Keinesweges zur Belustigung, son-
dern zur Bildung des Gemüthes. Dieses Verdien-
stes rühmen sich auch die Tonkünstler -- sie halten
sich für Lehrer und Verbesserer der Sitten -- darum
nennet auch Homer die Sänger Hofmeister. Ue-
berhaupt kann man von den Griechen sagen, was
ein Römer vielleicht mit weniger Recht von seinen
Vorältern rühmet, daß sie alle Künste zum gemeinen
Besten angewendet haben. (++)

Aber von der Ehre, dem Ruhme und den großen
Belohnungen, die in Griechenland allen rechtschaffe-
nen Künstlern zu Theil geworden, sind die Nachrich-
ten in den Schriften der Alten so bekannt, daß es un-
nöthig ist hier besondere Fälle anzuführen. (+++)

Man
(*) Plu-
tarchus im
Lykurgus.
(**) Stra-
be Lib. I.
(+) didaskalousan ethe kai pathe, kai praxas.
(++) Nullam majores nostri artem esse voluerunt, quae
non aliquid reipublicae commodaret. Servius ad Aeneid.
L. VI.
(+++) Eine Menge hieher gehöriger Anekdoten hat Ju-
nius gesammlet. Man sehe besonders in seinem Werke
de Pictura Veterum das XIII. Cap. des II. Buches.
J i i i 2

[Spaltenumbruch]

Kuͤn
redſamkeit, die bald hernach durch die aus dem
Oriente nach Jtalien gefluͤchteten Griechen allmaͤh-
lig bekaunt wurden. Da ſah man die Fruͤchte des
Geſchmaks dieſer Zweige der Kunſt wieder in ihrer
Reife, und dadurch wurde man angetrieben auch
das, was in andern Gattungen noch hier und
da uͤbrig geblieben war, aus den Ruinen wieder
hervor zu ſuchen. Der Geſchmak der Kuͤnſtler
wurde wieder geſchaͤrft; der Beyfall und Ruhm,
den einige durch Nachahmung alter Werke erhalten,
zuͤndete auch in andern das Feuer der Nacheiferung
an, und ſo erhoben ſich die Kuͤnſte wieder aus dem
Staub empor, und breiteten ſich aus Jtalien all-
maͤhlig in dem ganzen Occident, und auch bis nach
Norden aus. Man merkte durchgehends, daß die
Werke der alten Kunſt die Muſter waͤren, an die
man ſich zu halten haͤtte, um allen ſchoͤnen Kuͤnſten
ihre beſte Geſtalt wieder zu geben. Da zugleich
eine geſundere Politik mehr Ruhe in die Staaten
eingefuͤhret, denen ſie eine groͤſſere Feſtigkeit gegeben
hatte, ſo nahm auch die Liebe zu den ſchoͤnen Kuͤn-
ſten dadurch zu, und ſo bekamen ſie allmaͤhlig den
Flor, in welchem wir ſie gegenwaͤrtig ſehen.

Damit wir uns einen bequemen Standort berei-
ten, aus welchem wir eine freye Ausſicht uͤber den
gegenwaͤrtigen Zuſtand der ſchoͤnen Kuͤnſte haben,
muͤſſen wir wieder zu allgemeinen Betrachtungen
uͤber ihre Natur und Anwendung zuruͤkekehren.

Wir haben geſehen, was ſie in ihrer vollen
Kraft ſeyn koͤnnen. Die eigentlichſten Mittel, die
Gemuͤther der Menſchen mit Zuneigung fuͤr alles
Schoͤne und Gute zu erfuͤllen, — die Wahrheit
wuͤrkſam zu machen, und der Tugend Reizung zu
geben, — den Menſchen zu jedem Guten anzutrei-
ben, und von allen ſchaͤdlichen Unternehmungen zu-
ruͤck zu halten — und uͤberhaupt ihm, wenn er ein-
mal durch die Vernunft hinlaͤnglich von ſeinem wah-
ten ſittlichen Jntereſſe unterrichtet worden, jede
Kraft zu unauf hoͤrlicher Bewuͤrkung deſſelben in
ſeine Seele zu legen.

Daß ſie jemals unter irgend einem Volke dieſe Voll-
kommenheit erreicht haben, kann mit Gewißheit nicht
behauptet werden; daß aber eine Zeit geweſen ſey,
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Kuͤn
wo ſie ſich derſelben genaͤhert haben, ſcheinet gewiß.
Die Griechen hatten von den ſchoͤnen Kuͤnſten den
richtigen Begriff, daß ſie zu Bildung der Sitten
und zu Unterſtuͤtzung der Philoſophie, und ſelbſt
der Religion dienen. Darum ließen ſie es auch an
Aufmunterung der Kuͤnſtler durch Ehre, Ruhm
und andre Belohnung, nicht ermangeln. Jn ei-
nigen griechiſchen Staaten war der groͤßte Redner
oft der Mann, der mit der hoͤchſten Wuͤrde des
Staats bekleidet wurde. Die Geſetzgeber und Re-
genten ſahen große Dichter als wichtige Perſonen
an, die den Geſetzen ſelbſt Kraft geben koͤnnten.
Homer wurde fuͤr den beſten Rathgeber des Staats-
mannes und des Heerfuͤhrers, und fuͤr den beſten
Hofmeiſter des Privatmannes angeſehen, und in
dieſer Abſicht ſchrieb Lykurgus die zerſtreuten Ge-
ſaͤnge dieſes Dichters in Kreta zuſammen. Eben
dieſer Geſetzgeber gewann den Dichter und Saͤnger
Thales, daß er aus dieſer Jnſel mit ihm nach Sparta
zog, und dort durch ſeine Geſaͤnge die Geſetzge-
bung erleichterte. (*) Die Alten, ſagt ein griechiſcher
Philoſoph (**) hielten dafuͤr, daß die Dichtkunſt
einigermaaßen die erſte Philoſophie ſey, die uns
von Kindheit an den Weg zu einem richtigen Leben
weiſe, und auf eine angenehme Weiſe Sitten, Em-
pfindungen und Thaten lehre, (†) die unſrigen
aber (die Pythagoraͤer) lehren, daß allein der Dich-
ter der wahre Weiſe ſey.„ Daher haben auch die
Griechen ihre Kinder zuerſt in der Dichtkunſt unter-
richten laſſen. Keinesweges zur Beluſtigung, ſon-
dern zur Bildung des Gemuͤthes. Dieſes Verdien-
ſtes ruͤhmen ſich auch die Tonkuͤnſtler — ſie halten
ſich fuͤr Lehrer und Verbeſſerer der Sitten — darum
nennet auch Homer die Saͤnger Hofmeiſter. Ue-
berhaupt kann man von den Griechen ſagen, was
ein Roͤmer vielleicht mit weniger Recht von ſeinen
Voraͤltern ruͤhmet, daß ſie alle Kuͤnſte zum gemeinen
Beſten angewendet haben. (††)

Aber von der Ehre, dem Ruhme und den großen
Belohnungen, die in Griechenland allen rechtſchaffe-
nen Kuͤnſtlern zu Theil geworden, ſind die Nachrich-
ten in den Schriften der Alten ſo bekannt, daß es un-
noͤthig iſt hier beſondere Faͤlle anzufuͤhren. (†††)

Man
(*) Plu-
tarchus im
Lykurgus.
(**) Stra-
be Lib. I.
(†) διδασκαλȣσαν ἠϑη και παϑη, και πραξας.
(††) Nullam majores noſtri artem eſſe voluerunt, quae
non aliquid reipublicae commodaret. Servius ad Aeneid.
L. VI.
(†††) Eine Menge hieher gehoͤriger Anekdoten hat Ju-
nius geſammlet. Man ſehe beſonders in ſeinem Werke
de Pictura Veterum das XIII. Cap. des II. Buches.
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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 619. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/54>, abgerufen am 22.11.2024.