Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

Bild:
<< vorherige Seite

[Spaltenumbruch]

Kün
und es gegen das Gemählde halten, das wir nach
dem Jdeal derselben, so eben entworfen haben.

Man muß sich nicht einbilden, daß die Künste,
wie gewisse mechanische Erfindungen, durch einen
glüklichen Zufall, oder durch methodisches Nachden-
ken von Männern von Genie erfunden worden, und
sich von dem Ort ihrer Geburt aus in andre Län-
der verbreitet haben. Sie sind in allen Ländern,
wo die Vernunft zu einiger Entwiklung gekommen
ist, einheimische Pflanzen, die ohne mühsames War-
ten hervorwachsen; aber so, wie die Früchte der
Erde, nehmen sie nach Beschaffenheit der Himmels-
gegend, wo sie auf keimen, und der Wartung, die
auf sie gewendet wird, sehr verschiedene Formen
an, bleiben in wilden Gegenden unansehnlich und
von geringem Werthe.

So wie noch gegenwärtig jedes Volk der Erde,
das den Verstand gehabt hat, sich aus der ersten
Wildheit herauszuwinden, Musik, Tanz, Bered-
samkeit und Dichtkunst kennet, so ist es ohne Zwei-
fel in allen Zeitaltern gewesen, seitdem die Men-
schen zu einer vernunftmäßigen Besonnenheit gekom-
men sind. Man hat nicht nöthig, um die schönen
Künste in ihrem ersten Ursprunge und in ihrer rohe-
sten Gestalt zu sehen, durch die Geschichte der Men-
schen, bis in das finstere Alterthum herauf zu stei-
gen; sie sind bey den ältesten Aegyptern und Grie-
chen das gewesen, was sie noch itzt bey den Huro-
nen
sind. Der allgemeine Hang der Menschen,
die Gegenstände sinnlicher Eindrüke, die sie in ihrer
Gewalt haben, zu verfeinern und angenehmer zu
machen, ist jedem Beobachter des menschlichen Ge-
nies bekannt. Wie dieser durch natürliche und zu-
fällige Veranlassungen, die ersten rohen Versuche
in jedem Zweige der Kunst hervorgebracht habe,
läßt sich leicht begreifen, und ist in einigen Artikeln
dieses Werks, besonders in denen über die einzelen
Künste (+) etwas näher entwikelt worden.

Man findet nicht blos die Hauptzweige der schö-
nen Künste, wenigstens im ersten Keime, sondern
sogar einzele Sprößlinge derselben bey Völkern die
[Spaltenumbruch]

Kün
keine mittelbare oder unmittelbare Gemeinschaft
mit einander gehabt haben. Man weiß, daß die
Chineser ihre Comödie und ihre Tragödie haben,
und selbst die ehemaligen Einwohner in Peru hatten
diese doppelte Art des Schauspiels, da sie in der
einen die Thaten ihrer Vncas, in der andern die
Scenen des gemeinen Lebens vorstellten. (++) Die
Griechen, die der Nationalstolz zu großen Prahle-
reyen verleitet hat, (+++) schreiben sich die Erfindung
aller Künste zu; aber einer der verständigsten Grie-
chen warnet uns ihnen in Ansehung der ganz alten
Nachrichten zu trauen. (++++) Es ist leicht zu erach-
ten, daß die Griechen, die sich noch von Eicheln ge-
nährt haben, als andre Völker schon in großem
Flor waren, die Künste gewiß nicht zuerst getrie-
ben haben.

Ob wir aber gleich den ersten Keim der Künste
unter allen Völkern anzutreffen glauben, so ist doch
der Weg, von den ersten Versuchen darinn, die
der noch rohen Natur zuzuschreiben sind, nur bis
dahin, wo ihre Ausübung anfängt methodisch zu
werden, und wo die Künstler anfangen, sie als eine
erlernte Kunst zu treiben, so weit entfernt, daß
man noch immer fragen könnte, welches Volk der
Erde ihn zuerst gemacht hat.

Aber wir haben von dem Ursprunge, von den
Einrichtungen und den Künsten der ältesten Völker
zu wenig Nachrichten, als daß diese Frage könnte
beantwortet werden. Man hält insgemein, doch
ohne völlige Zuverläßigkeit, die Chaldäer, bisweilen
auch die Aegypter für die ersten, welche die verschie-
denen Zweige der zeichnenden Künste methodisch ge-
trieben haben. So viel ist gewiß, daß sowol bey
diesen Völkern als bey den Hetruriern die schönen
Künste schon zu den Zeiten, in welche das, was
wir von der wahren Geschichte der Menschen wissen,
noch kein merkliches Licht verbreitet, im Flor gewe-
sen. Zu Abrahams Zeiten scheinen die zeichnen-
den Künste in Chaldäa schon aufgekeimt zu haben,
und in Aegypten war die Baukunst unter der Re-
gierung des Sesostris, der um die Zeiten des

jüdi-
(+) S. Baukunst I. Th. S. 129. Dichtkunst S. 253.
Mahlerey, Musik, Tanzkunst. Vers. Gesang.
(++) Histoire des Yncas des Garcil. da Vega Lib. II.
chap.
27.
(+++) Graeci omnia sua in immensum tollunt. Ma-
erob. Saturn. L. I. c.
24.
(++++) Strabo; der sehr vernünftig anmerkt, daß die älte-
sten Sammler der Nachrichten durch die griechische Fabel-
lehre, zu sehr viel Unwahrheiten versührt worden.
Polla kai me o[unleserliches Material - 1 Zeichen fehlt]ta lsgousin oi azkhaioi suggzapheis,
sunteth ramm[unleserliches Material - 1 Zeichen fehlt]noi t[a] pseud[unleserliches Material - 1 Zeichen fehlt]i dia tes muthographias.
Lib. VIII.

[Spaltenumbruch]

Kuͤn
und es gegen das Gemaͤhlde halten, das wir nach
dem Jdeal derſelben, ſo eben entworfen haben.

Man muß ſich nicht einbilden, daß die Kuͤnſte,
wie gewiſſe mechaniſche Erfindungen, durch einen
gluͤklichen Zufall, oder durch methodiſches Nachden-
ken von Maͤnnern von Genie erfunden worden, und
ſich von dem Ort ihrer Geburt aus in andre Laͤn-
der verbreitet haben. Sie ſind in allen Laͤndern,
wo die Vernunft zu einiger Entwiklung gekommen
iſt, einheimiſche Pflanzen, die ohne muͤhſames War-
ten hervorwachſen; aber ſo, wie die Fruͤchte der
Erde, nehmen ſie nach Beſchaffenheit der Himmels-
gegend, wo ſie auf keimen, und der Wartung, die
auf ſie gewendet wird, ſehr verſchiedene Formen
an, bleiben in wilden Gegenden unanſehnlich und
von geringem Werthe.

So wie noch gegenwaͤrtig jedes Volk der Erde,
das den Verſtand gehabt hat, ſich aus der erſten
Wildheit herauszuwinden, Muſik, Tanz, Bered-
ſamkeit und Dichtkunſt kennet, ſo iſt es ohne Zwei-
fel in allen Zeitaltern geweſen, ſeitdem die Men-
ſchen zu einer vernunftmaͤßigen Beſonnenheit gekom-
men ſind. Man hat nicht noͤthig, um die ſchoͤnen
Kuͤnſte in ihrem erſten Urſprunge und in ihrer rohe-
ſten Geſtalt zu ſehen, durch die Geſchichte der Men-
ſchen, bis in das finſtere Alterthum herauf zu ſtei-
gen; ſie ſind bey den aͤlteſten Aegyptern und Grie-
chen das geweſen, was ſie noch itzt bey den Huro-
nen
ſind. Der allgemeine Hang der Menſchen,
die Gegenſtaͤnde ſinnlicher Eindruͤke, die ſie in ihrer
Gewalt haben, zu verfeinern und angenehmer zu
machen, iſt jedem Beobachter des menſchlichen Ge-
nies bekannt. Wie dieſer durch natuͤrliche und zu-
faͤllige Veranlaſſungen, die erſten rohen Verſuche
in jedem Zweige der Kunſt hervorgebracht habe,
laͤßt ſich leicht begreifen, und iſt in einigen Artikeln
dieſes Werks, beſonders in denen uͤber die einzelen
Kuͤnſte (†) etwas naͤher entwikelt worden.

Man findet nicht blos die Hauptzweige der ſchoͤ-
nen Kuͤnſte, wenigſtens im erſten Keime, ſondern
ſogar einzele Sproͤßlinge derſelben bey Voͤlkern die
[Spaltenumbruch]

Kuͤn
keine mittelbare oder unmittelbare Gemeinſchaft
mit einander gehabt haben. Man weiß, daß die
Chineſer ihre Comoͤdie und ihre Tragoͤdie haben,
und ſelbſt die ehemaligen Einwohner in Peru hatten
dieſe doppelte Art des Schauſpiels, da ſie in der
einen die Thaten ihrer Vncas, in der andern die
Scenen des gemeinen Lebens vorſtellten. (††) Die
Griechen, die der Nationalſtolz zu großen Prahle-
reyen verleitet hat, (†††) ſchreiben ſich die Erfindung
aller Kuͤnſte zu; aber einer der verſtaͤndigſten Grie-
chen warnet uns ihnen in Anſehung der ganz alten
Nachrichten zu trauen. (††††) Es iſt leicht zu erach-
ten, daß die Griechen, die ſich noch von Eicheln ge-
naͤhrt haben, als andre Voͤlker ſchon in großem
Flor waren, die Kuͤnſte gewiß nicht zuerſt getrie-
ben haben.

Ob wir aber gleich den erſten Keim der Kuͤnſte
unter allen Voͤlkern anzutreffen glauben, ſo iſt doch
der Weg, von den erſten Verſuchen darinn, die
der noch rohen Natur zuzuſchreiben ſind, nur bis
dahin, wo ihre Ausuͤbung anfaͤngt methodiſch zu
werden, und wo die Kuͤnſtler anfangen, ſie als eine
erlernte Kunſt zu treiben, ſo weit entfernt, daß
man noch immer fragen koͤnnte, welches Volk der
Erde ihn zuerſt gemacht hat.

Aber wir haben von dem Urſprunge, von den
Einrichtungen und den Kuͤnſten der aͤlteſten Voͤlker
zu wenig Nachrichten, als daß dieſe Frage koͤnnte
beantwortet werden. Man haͤlt insgemein, doch
ohne voͤllige Zuverlaͤßigkeit, die Chaldaͤer, bisweilen
auch die Aegypter fuͤr die erſten, welche die verſchie-
denen Zweige der zeichnenden Kuͤnſte methodiſch ge-
trieben haben. So viel iſt gewiß, daß ſowol bey
dieſen Voͤlkern als bey den Hetruriern die ſchoͤnen
Kuͤnſte ſchon zu den Zeiten, in welche das, was
wir von der wahren Geſchichte der Menſchen wiſſen,
noch kein merkliches Licht verbreitet, im Flor gewe-
ſen. Zu Abrahams Zeiten ſcheinen die zeichnen-
den Kuͤnſte in Chaldaͤa ſchon aufgekeimt zu haben,
und in Aegypten war die Baukunſt unter der Re-
gierung des Seſoſtris, der um die Zeiten des

juͤdi-
(†) S. Baukunſt I. Th. S. 129. Dichtkunſt S. 253.
Mahlerey, Muſik, Tanzkunſt. Vers. Geſang.
(††) Hiſtoire des Yncas des Garcil. da Vega Lib. II.
chap.
27.
(†††) Graeci omnia ſua in immenſum tollunt. Ma-
erob. Saturn. L. I. c.
24.
(††††) Strabo; der ſehr vernuͤnftig anmerkt, daß die aͤlte-
ſten Sammler der Nachrichten durch die griechiſche Fabel-
lehre, zu ſehr viel Unwahrheiten verſuͤhrt worden.
Πολλα και μη ὀ[unleserliches Material – 1 Zeichen fehlt]τα λςγȣσιν ὀι ἀζχαιοι συγγζαφεις,
συντεϑ ραμμ[unleserliches Material – 1 Zeichen fehlt]νοι τ[ᾳ] ψευδ[unleserliches Material – 1 Zeichen fehlt]ι δια της μυϑογραφιας.
Lib. VIII.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0051" n="616"/><cb/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Ku&#x0364;n</hi></fw><lb/>
und es gegen das Gema&#x0364;hlde halten, das wir nach<lb/>
dem Jdeal der&#x017F;elben, &#x017F;o eben entworfen haben.</p><lb/>
          <p>Man muß &#x017F;ich nicht einbilden, daß die Ku&#x0364;n&#x017F;te,<lb/>
wie gewi&#x017F;&#x017F;e mechani&#x017F;che Erfindungen, durch einen<lb/>
glu&#x0364;klichen Zufall, oder durch methodi&#x017F;ches Nachden-<lb/>
ken von Ma&#x0364;nnern von Genie erfunden worden, und<lb/>
&#x017F;ich von dem Ort ihrer Geburt aus in andre La&#x0364;n-<lb/>
der verbreitet haben. Sie &#x017F;ind in allen La&#x0364;ndern,<lb/>
wo die Vernunft zu einiger Entwiklung gekommen<lb/>
i&#x017F;t, einheimi&#x017F;che Pflanzen, die ohne mu&#x0364;h&#x017F;ames War-<lb/>
ten hervorwach&#x017F;en; aber &#x017F;o, wie die Fru&#x0364;chte der<lb/>
Erde, nehmen &#x017F;ie nach Be&#x017F;chaffenheit der Himmels-<lb/>
gegend, wo &#x017F;ie auf keimen, und der Wartung, die<lb/>
auf &#x017F;ie gewendet wird, &#x017F;ehr ver&#x017F;chiedene Formen<lb/>
an, bleiben in wilden Gegenden unan&#x017F;ehnlich und<lb/>
von geringem Werthe.</p><lb/>
          <p>So wie noch gegenwa&#x0364;rtig jedes Volk der Erde,<lb/>
das den Ver&#x017F;tand gehabt hat, &#x017F;ich aus der er&#x017F;ten<lb/>
Wildheit herauszuwinden, Mu&#x017F;ik, Tanz, Bered-<lb/>
&#x017F;amkeit und Dichtkun&#x017F;t kennet, &#x017F;o i&#x017F;t es ohne Zwei-<lb/>
fel in allen Zeitaltern gewe&#x017F;en, &#x017F;eitdem die Men-<lb/>
&#x017F;chen zu einer vernunftma&#x0364;ßigen Be&#x017F;onnenheit gekom-<lb/>
men &#x017F;ind. Man hat nicht no&#x0364;thig, um die &#x017F;cho&#x0364;nen<lb/>
Ku&#x0364;n&#x017F;te in ihrem er&#x017F;ten Ur&#x017F;prunge und in ihrer rohe-<lb/>
&#x017F;ten Ge&#x017F;talt zu &#x017F;ehen, durch die Ge&#x017F;chichte der Men-<lb/>
&#x017F;chen, bis in das fin&#x017F;tere Alterthum herauf zu &#x017F;tei-<lb/>
gen; &#x017F;ie &#x017F;ind bey den a&#x0364;lte&#x017F;ten Aegyptern und Grie-<lb/>
chen das gewe&#x017F;en, was &#x017F;ie noch itzt bey den <hi rendition="#fr">Huro-<lb/>
nen</hi> &#x017F;ind. Der allgemeine Hang der Men&#x017F;chen,<lb/>
die Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde &#x017F;innlicher Eindru&#x0364;ke, die &#x017F;ie in ihrer<lb/>
Gewalt haben, zu verfeinern und angenehmer zu<lb/>
machen, i&#x017F;t jedem Beobachter des men&#x017F;chlichen Ge-<lb/>
nies bekannt. Wie die&#x017F;er durch natu&#x0364;rliche und zu-<lb/>
fa&#x0364;llige Veranla&#x017F;&#x017F;ungen, die er&#x017F;ten rohen Ver&#x017F;uche<lb/>
in jedem Zweige der Kun&#x017F;t hervorgebracht habe,<lb/>
la&#x0364;ßt &#x017F;ich leicht begreifen, und i&#x017F;t in einigen Artikeln<lb/>
die&#x017F;es Werks, be&#x017F;onders in denen u&#x0364;ber die einzelen<lb/>
Ku&#x0364;n&#x017F;te <note place="foot" n="(&#x2020;)">S. Baukun&#x017F;t <hi rendition="#aq">I.</hi> Th. S. 129. Dichtkun&#x017F;t S. 253.<lb/>
Mahlerey, Mu&#x017F;ik, Tanzkun&#x017F;t. Vers. Ge&#x017F;ang.</note> etwas na&#x0364;her entwikelt worden.</p><lb/>
          <p>Man findet nicht blos die Hauptzweige der &#x017F;cho&#x0364;-<lb/>
nen Ku&#x0364;n&#x017F;te, wenig&#x017F;tens im er&#x017F;ten Keime, &#x017F;ondern<lb/>
&#x017F;ogar einzele Spro&#x0364;ßlinge der&#x017F;elben bey Vo&#x0364;lkern die<lb/><cb/>
<fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Ku&#x0364;n</hi></fw><lb/>
keine mittelbare oder unmittelbare Gemein&#x017F;chaft<lb/>
mit einander gehabt haben. Man weiß, daß die<lb/>
Chine&#x017F;er ihre Como&#x0364;die und ihre Trago&#x0364;die haben,<lb/>
und &#x017F;elb&#x017F;t die ehemaligen Einwohner in Peru hatten<lb/>
die&#x017F;e doppelte Art des Schau&#x017F;piels, da &#x017F;ie in der<lb/>
einen die Thaten ihrer <hi rendition="#fr">Vncas,</hi> in der andern die<lb/>
Scenen des gemeinen Lebens vor&#x017F;tellten. <note place="foot" n="(&#x2020;&#x2020;)"><hi rendition="#aq">Hi&#x017F;toire des Yncas des Garcil. da Vega Lib. II.<lb/>
chap.</hi> 27.</note> Die<lb/>
Griechen, die der National&#x017F;tolz zu großen Prahle-<lb/>
reyen verleitet hat, <note place="foot" n="(&#x2020;&#x2020;&#x2020;)"><hi rendition="#aq">Graeci omnia &#x017F;ua in immen&#x017F;um tollunt. Ma-<lb/>
erob. Saturn. L. I. c.</hi> 24.</note> &#x017F;chreiben &#x017F;ich die Erfindung<lb/>
aller Ku&#x0364;n&#x017F;te zu; aber einer der ver&#x017F;ta&#x0364;ndig&#x017F;ten Grie-<lb/>
chen warnet uns ihnen in An&#x017F;ehung der ganz alten<lb/>
Nachrichten zu trauen. <note place="foot" n="(&#x2020;&#x2020;&#x2020;&#x2020;)">Strabo; der &#x017F;ehr vernu&#x0364;nftig anmerkt, daß die a&#x0364;lte-<lb/>
&#x017F;ten Sammler der Nachrichten durch die griechi&#x017F;che Fabel-<lb/>
lehre, zu &#x017F;ehr viel Unwahrheiten ver&#x017F;u&#x0364;hrt worden.<lb/><hi rendition="#et">&#x03A0;&#x03BF;&#x03BB;&#x03BB;&#x03B1; &#x03BA;&#x03B1;&#x03B9; &#x03BC;&#x03B7; &#x1F40;<gap reason="illegible" unit="chars" quantity="1"/>&#x03C4;&#x03B1; &#x03BB;&#x03C2;&#x03B3;&#x0223;&#x03C3;&#x03B9;&#x03BD; &#x1F40;&#x03B9; &#x1F00;&#x03B6;&#x03C7;&#x03B1;&#x03B9;&#x03BF;&#x03B9; &#x03C3;&#x03C5;&#x03B3;&#x03B3;&#x03B6;&#x03B1;&#x03C6;&#x03B5;&#x03B9;&#x03C2;,<lb/>
&#x03C3;&#x03C5;&#x03BD;&#x03C4;&#x03B5;&#x03D1; &#x03C1;&#x03B1;&#x03BC;&#x03BC;<gap reason="illegible" unit="chars" quantity="1"/>&#x03BD;&#x03BF;&#x03B9; &#x03C4;<supplied>&#x1FB3;</supplied> &#x03C8;&#x03B5;&#x03C5;&#x03B4;<gap reason="illegible" unit="chars" quantity="1"/>&#x03B9; &#x03B4;&#x03B9;&#x03B1; &#x03C4;&#x03B7;&#x03C2; &#x03BC;&#x03C5;&#x03D1;&#x03BF;&#x03B3;&#x03C1;&#x03B1;&#x03C6;&#x03B9;&#x03B1;&#x03C2;.<lb/><hi rendition="#aq">Lib. VIII.</hi></hi></note> Es i&#x017F;t leicht zu erach-<lb/>
ten, daß die Griechen, die &#x017F;ich noch von Eicheln ge-<lb/>
na&#x0364;hrt haben, als andre Vo&#x0364;lker &#x017F;chon in großem<lb/>
Flor waren, die Ku&#x0364;n&#x017F;te gewiß nicht zuer&#x017F;t getrie-<lb/>
ben haben.</p><lb/>
          <p>Ob wir aber gleich den er&#x017F;ten Keim der Ku&#x0364;n&#x017F;te<lb/>
unter allen Vo&#x0364;lkern anzutreffen glauben, &#x017F;o i&#x017F;t doch<lb/>
der Weg, von den er&#x017F;ten Ver&#x017F;uchen darinn, die<lb/>
der noch rohen Natur zuzu&#x017F;chreiben &#x017F;ind, nur bis<lb/>
dahin, wo ihre Ausu&#x0364;bung anfa&#x0364;ngt methodi&#x017F;ch zu<lb/>
werden, und wo die Ku&#x0364;n&#x017F;tler anfangen, &#x017F;ie als eine<lb/>
erlernte Kun&#x017F;t zu treiben, &#x017F;o weit entfernt, daß<lb/>
man noch immer fragen ko&#x0364;nnte, welches Volk der<lb/>
Erde ihn zuer&#x017F;t gemacht hat.</p><lb/>
          <p>Aber wir haben von dem Ur&#x017F;prunge, von den<lb/>
Einrichtungen und den Ku&#x0364;n&#x017F;ten der a&#x0364;lte&#x017F;ten Vo&#x0364;lker<lb/>
zu wenig Nachrichten, als daß die&#x017F;e Frage ko&#x0364;nnte<lb/>
beantwortet werden. Man ha&#x0364;lt insgemein, doch<lb/>
ohne vo&#x0364;llige Zuverla&#x0364;ßigkeit, die Chalda&#x0364;er, bisweilen<lb/>
auch die Aegypter fu&#x0364;r die er&#x017F;ten, welche die ver&#x017F;chie-<lb/>
denen Zweige der zeichnenden Ku&#x0364;n&#x017F;te methodi&#x017F;ch ge-<lb/>
trieben haben. So viel i&#x017F;t gewiß, daß &#x017F;owol bey<lb/>
die&#x017F;en Vo&#x0364;lkern als bey den Hetruriern die &#x017F;cho&#x0364;nen<lb/>
Ku&#x0364;n&#x017F;te &#x017F;chon zu den Zeiten, in welche das, was<lb/>
wir von der wahren Ge&#x017F;chichte der Men&#x017F;chen wi&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
noch kein merkliches Licht verbreitet, im Flor gewe-<lb/>
&#x017F;en. Zu Abrahams Zeiten &#x017F;cheinen die zeichnen-<lb/>
den Ku&#x0364;n&#x017F;te in Chalda&#x0364;a &#x017F;chon aufgekeimt zu haben,<lb/>
und in Aegypten war die Baukun&#x017F;t unter der Re-<lb/>
gierung des Se&#x017F;o&#x017F;tris, der um die Zeiten des<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ju&#x0364;di-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[616/0051] Kuͤn Kuͤn und es gegen das Gemaͤhlde halten, das wir nach dem Jdeal derſelben, ſo eben entworfen haben. Man muß ſich nicht einbilden, daß die Kuͤnſte, wie gewiſſe mechaniſche Erfindungen, durch einen gluͤklichen Zufall, oder durch methodiſches Nachden- ken von Maͤnnern von Genie erfunden worden, und ſich von dem Ort ihrer Geburt aus in andre Laͤn- der verbreitet haben. Sie ſind in allen Laͤndern, wo die Vernunft zu einiger Entwiklung gekommen iſt, einheimiſche Pflanzen, die ohne muͤhſames War- ten hervorwachſen; aber ſo, wie die Fruͤchte der Erde, nehmen ſie nach Beſchaffenheit der Himmels- gegend, wo ſie auf keimen, und der Wartung, die auf ſie gewendet wird, ſehr verſchiedene Formen an, bleiben in wilden Gegenden unanſehnlich und von geringem Werthe. So wie noch gegenwaͤrtig jedes Volk der Erde, das den Verſtand gehabt hat, ſich aus der erſten Wildheit herauszuwinden, Muſik, Tanz, Bered- ſamkeit und Dichtkunſt kennet, ſo iſt es ohne Zwei- fel in allen Zeitaltern geweſen, ſeitdem die Men- ſchen zu einer vernunftmaͤßigen Beſonnenheit gekom- men ſind. Man hat nicht noͤthig, um die ſchoͤnen Kuͤnſte in ihrem erſten Urſprunge und in ihrer rohe- ſten Geſtalt zu ſehen, durch die Geſchichte der Men- ſchen, bis in das finſtere Alterthum herauf zu ſtei- gen; ſie ſind bey den aͤlteſten Aegyptern und Grie- chen das geweſen, was ſie noch itzt bey den Huro- nen ſind. Der allgemeine Hang der Menſchen, die Gegenſtaͤnde ſinnlicher Eindruͤke, die ſie in ihrer Gewalt haben, zu verfeinern und angenehmer zu machen, iſt jedem Beobachter des menſchlichen Ge- nies bekannt. Wie dieſer durch natuͤrliche und zu- faͤllige Veranlaſſungen, die erſten rohen Verſuche in jedem Zweige der Kunſt hervorgebracht habe, laͤßt ſich leicht begreifen, und iſt in einigen Artikeln dieſes Werks, beſonders in denen uͤber die einzelen Kuͤnſte (†) etwas naͤher entwikelt worden. Man findet nicht blos die Hauptzweige der ſchoͤ- nen Kuͤnſte, wenigſtens im erſten Keime, ſondern ſogar einzele Sproͤßlinge derſelben bey Voͤlkern die keine mittelbare oder unmittelbare Gemeinſchaft mit einander gehabt haben. Man weiß, daß die Chineſer ihre Comoͤdie und ihre Tragoͤdie haben, und ſelbſt die ehemaligen Einwohner in Peru hatten dieſe doppelte Art des Schauſpiels, da ſie in der einen die Thaten ihrer Vncas, in der andern die Scenen des gemeinen Lebens vorſtellten. (††) Die Griechen, die der Nationalſtolz zu großen Prahle- reyen verleitet hat, (†††) ſchreiben ſich die Erfindung aller Kuͤnſte zu; aber einer der verſtaͤndigſten Grie- chen warnet uns ihnen in Anſehung der ganz alten Nachrichten zu trauen. (††††) Es iſt leicht zu erach- ten, daß die Griechen, die ſich noch von Eicheln ge- naͤhrt haben, als andre Voͤlker ſchon in großem Flor waren, die Kuͤnſte gewiß nicht zuerſt getrie- ben haben. Ob wir aber gleich den erſten Keim der Kuͤnſte unter allen Voͤlkern anzutreffen glauben, ſo iſt doch der Weg, von den erſten Verſuchen darinn, die der noch rohen Natur zuzuſchreiben ſind, nur bis dahin, wo ihre Ausuͤbung anfaͤngt methodiſch zu werden, und wo die Kuͤnſtler anfangen, ſie als eine erlernte Kunſt zu treiben, ſo weit entfernt, daß man noch immer fragen koͤnnte, welches Volk der Erde ihn zuerſt gemacht hat. Aber wir haben von dem Urſprunge, von den Einrichtungen und den Kuͤnſten der aͤlteſten Voͤlker zu wenig Nachrichten, als daß dieſe Frage koͤnnte beantwortet werden. Man haͤlt insgemein, doch ohne voͤllige Zuverlaͤßigkeit, die Chaldaͤer, bisweilen auch die Aegypter fuͤr die erſten, welche die verſchie- denen Zweige der zeichnenden Kuͤnſte methodiſch ge- trieben haben. So viel iſt gewiß, daß ſowol bey dieſen Voͤlkern als bey den Hetruriern die ſchoͤnen Kuͤnſte ſchon zu den Zeiten, in welche das, was wir von der wahren Geſchichte der Menſchen wiſſen, noch kein merkliches Licht verbreitet, im Flor gewe- ſen. Zu Abrahams Zeiten ſcheinen die zeichnen- den Kuͤnſte in Chaldaͤa ſchon aufgekeimt zu haben, und in Aegypten war die Baukunſt unter der Re- gierung des Seſoſtris, der um die Zeiten des juͤdi- (†) S. Baukunſt I. Th. S. 129. Dichtkunſt S. 253. Mahlerey, Muſik, Tanzkunſt. Vers. Geſang. (††) Hiſtoire des Yncas des Garcil. da Vega Lib. II. chap. 27. (†††) Graeci omnia ſua in immenſum tollunt. Ma- erob. Saturn. L. I. c. 24. (††††) Strabo; der ſehr vernuͤnftig anmerkt, daß die aͤlte- ſten Sammler der Nachrichten durch die griechiſche Fabel- lehre, zu ſehr viel Unwahrheiten verſuͤhrt worden. Πολλα και μη ὀ_τα λςγȣσιν ὀι ἀζχαιοι συγγζαφεις, συντεϑ ραμμ_νοι τᾳ ψευδ_ι δια της μυϑογραφιας. Lib. VIII.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/51
Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 616. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/51>, abgerufen am 23.11.2024.