tung alles dessen bringen, was zu ihrer Glükseelig- keit nöthig ist.
Also müssen wir die schönen Künste, als die noth- wendigen Gehülfen der Weisheit ansehen, die für das Wohlseyn der Menschen sorget. Sie weiß alles, was der Mensch seyn soll; sie zeichnet den Weg zur Vollkommenheit und der nothwendig damit verbun- denen Glückseligkeit. Aber die Kräfte, diesen oft steilen Weg zu besteigen, kann sie nicht geben; die schönen Künste machen ihn eben, und bestreuen ihn mit Blumen, die durch den lieblichsten Geruch den Wanderer zum weitern Fortgehen unwiderstehlich anlocken.
Und dieses sind nicht etwa rednerische Lobeserhe- bungen, die nur auf einen Augenblik täuschen und wie leichter Nebel verschwinden, wenn die Strahlen der Vernunft darauf fallen; es ist der menschlichen Natur gemäß; der Verstand würkt nichts als Kennt- niß, und in dieser liegt keine Kraft zu handeln. Soll die Wahrheit würksam werden, so muß sie in Gestalt des Guten nicht erkannt, sondern empfun- den werden, denn nur dieses reizt die Begehrungs- kräfte. Dieses sahen selbst die Stoiker ein, obgleich ihre Grundmaxime war, alle Empfindung zu ver- bannen, und die ganze Seele blos zu Vernunft zu machen. (+) Dennoch war ihre Physiologie (++) voll von Bildern und Erdichtungen, die durch die Einbildungskraft die Empfindung rege machen soll- ten; und keine andre Sekte war sorgfältiger als diese, die Aussprüche der Vernunft mit ästhetischer Kraft zu beleben. Der rohe Mensch ist blos grobe Sinnlichkeit, die auf das thierische Leben abzielt; der Mensch, den der Stoiker bilden wollte, aber nie gebildet hat, wäre blos Vernunft, ein blos er- kennendes und nie handelndes Wesen; der aber, den die schönen Künste bilden, steht zwischen jenen beyden gerad in der Mitte; seine Sinnlichkeit be- steht in einer verfeinerten innern Empfindsamkeit, die den Menschen für das sittliche Leben würksam macht.
Aber wir müssen alles gestehen. Die reizende Kraft der schönen Künste kann leicht zum Verderben der Menschen gemißbraucht werden; gleich jenem [Spaltenumbruch]
Kün
paradiesischen Baum, tragen sie Früchte des Guten und des Bösen, und ein unüberlegter Genuß dersel- ben kann den Menschen ins Verderben stürzen. Die verfeinerte Sinnlichkeit kaun gefährliche Folgen haben, wann sie nicht unter der beständigen Füh- rung der Vernunft angebauet wird. Die aben- theuerlichen Ausschweifungen der verliebten, oder politischen, oder religiösen Schwärmereyen, der verkehrte Geist fanatischer Sekten, Mönchs-Orden und ganzer Völker, was ist er anders, als eine von Vernunft verlassene und dabey noch übertrie- bene feinere Sinnlichkeit. Und auch daher kommt die sybaritische Weichlichkeit, die den Menschen zu einem schwachen, verwöhnten und verächtlichen Ge- schöpfe macht. Es ist im Grund einerley Empfind- samkeit, die Helden und Narren, Heilige und ver- ruchte Bösewichter bildet.
Und wann die Kraft der schönen Künste in ver- rätherische Hände kommt, so wird das herrlichste Gesundheitsmittel zum tödtlichen Gifte, weil die liebenswürdige Gestalt der Tugend auch dem Laster eingeprägt wird. Dann läuft der betrogene Mensch im Schwindel der Trunkenheit gerade in die Arme der Verführerin, wo er seinen Untergang findet. Darum müssen die Künste in ihrer Anwen- dung nothwendig unter der Vormundschaft der Ver- nunft stehen.
Wegen ihres ausnehmenden Nutzens verdienen sie von der Politik durch alle ersinnliche Mittel un- terstützt und ermuntert, und durch alle Stände der Bürger ausgebreitet zu werden; und wegen des Mißbrauchs, der davon gemacht werden kann, muß eben diese Politik sie in ihren Verrichtungen ein- schränken. Schon allein in Rüksicht auf die Vor- theile des guten und den Schaden des schlechten Ge- schmaks sollte eine wahrhaftig weise Gesetzgebung keinem Bürger erlauben, durch seine Häuser oder Gärten, wo von außen und innen anlokende Pracht, aber zugleich Mangel der Ueberlegung, Unschiklich- keit, Thorheit, oder gar Wahnwitz herrscht, den Geschmak seiner Mitbürger zu verderben. Keinem Künstler sollte erlaubt seyn seine Kunst zu treiben, bis er außer den Proben seiner Kunst, auch Proben
von
(+)Verbanne die Einbildung, sagt der große Mar- cus Aurelius, so bist du gerettet. Jn diesen Worten liegt der ganze Geist der stoischen Philosophie.
(++)[Spaltenumbruch] Jn der Philosophie der Alten wurde das System [Spaltenumbruch]
der Lehren vom Ursprung, der Regierung und dem endli- chen Schiksal der Welt und besonders des Menschen, das, was wir in Deutschland gegenwärtig, mit Ausschluß der Outologie, die Metaphysik nennen, Physiologie genennt.
[Spaltenumbruch]
Kuͤn
tung alles deſſen bringen, was zu ihrer Gluͤkſeelig- keit noͤthig iſt.
Alſo muͤſſen wir die ſchoͤnen Kuͤnſte, als die noth- wendigen Gehuͤlfen der Weisheit anſehen, die fuͤr das Wohlſeyn der Menſchen ſorget. Sie weiß alles, was der Menſch ſeyn ſoll; ſie zeichnet den Weg zur Vollkommenheit und der nothwendig damit verbun- denen Gluͤckſeligkeit. Aber die Kraͤfte, dieſen oft ſteilen Weg zu beſteigen, kann ſie nicht geben; die ſchoͤnen Kuͤnſte machen ihn eben, und beſtreuen ihn mit Blumen, die durch den lieblichſten Geruch den Wanderer zum weitern Fortgehen unwiderſtehlich anlocken.
Und dieſes ſind nicht etwa redneriſche Lobeserhe- bungen, die nur auf einen Augenblik taͤuſchen und wie leichter Nebel verſchwinden, wenn die Strahlen der Vernunft darauf fallen; es iſt der menſchlichen Natur gemaͤß; der Verſtand wuͤrkt nichts als Kennt- niß, und in dieſer liegt keine Kraft zu handeln. Soll die Wahrheit wuͤrkſam werden, ſo muß ſie in Geſtalt des Guten nicht erkannt, ſondern empfun- den werden, denn nur dieſes reizt die Begehrungs- kraͤfte. Dieſes ſahen ſelbſt die Stoiker ein, obgleich ihre Grundmaxime war, alle Empfindung zu ver- bannen, und die ganze Seele blos zu Vernunft zu machen. (†) Dennoch war ihre Phyſiologie (††) voll von Bildern und Erdichtungen, die durch die Einbildungskraft die Empfindung rege machen ſoll- ten; und keine andre Sekte war ſorgfaͤltiger als dieſe, die Ausſpruͤche der Vernunft mit aͤſthetiſcher Kraft zu beleben. Der rohe Menſch iſt blos grobe Sinnlichkeit, die auf das thieriſche Leben abzielt; der Menſch, den der Stoiker bilden wollte, aber nie gebildet hat, waͤre blos Vernunft, ein blos er- kennendes und nie handelndes Weſen; der aber, den die ſchoͤnen Kuͤnſte bilden, ſteht zwiſchen jenen beyden gerad in der Mitte; ſeine Sinnlichkeit be- ſteht in einer verfeinerten innern Empfindſamkeit, die den Menſchen fuͤr das ſittliche Leben wuͤrkſam macht.
Aber wir muͤſſen alles geſtehen. Die reizende Kraft der ſchoͤnen Kuͤnſte kann leicht zum Verderben der Menſchen gemißbraucht werden; gleich jenem [Spaltenumbruch]
Kuͤn
paradieſiſchen Baum, tragen ſie Fruͤchte des Guten und des Boͤſen, und ein unuͤberlegter Genuß derſel- ben kann den Menſchen ins Verderben ſtuͤrzen. Die verfeinerte Sinnlichkeit kaun gefaͤhrliche Folgen haben, wann ſie nicht unter der beſtaͤndigen Fuͤh- rung der Vernunft angebauet wird. Die aben- theuerlichen Ausſchweifungen der verliebten, oder politiſchen, oder religioͤſen Schwaͤrmereyen, der verkehrte Geiſt fanatiſcher Sekten, Moͤnchs-Orden und ganzer Voͤlker, was iſt er anders, als eine von Vernunft verlaſſene und dabey noch uͤbertrie- bene feinere Sinnlichkeit. Und auch daher kommt die ſybaritiſche Weichlichkeit, die den Menſchen zu einem ſchwachen, verwoͤhnten und veraͤchtlichen Ge- ſchoͤpfe macht. Es iſt im Grund einerley Empfind- ſamkeit, die Helden und Narren, Heilige und ver- ruchte Boͤſewichter bildet.
Und wann die Kraft der ſchoͤnen Kuͤnſte in ver- raͤtheriſche Haͤnde kommt, ſo wird das herrlichſte Geſundheitsmittel zum toͤdtlichen Gifte, weil die liebenswuͤrdige Geſtalt der Tugend auch dem Laſter eingepraͤgt wird. Dann laͤuft der betrogene Menſch im Schwindel der Trunkenheit gerade in die Arme der Verfuͤhrerin, wo er ſeinen Untergang findet. Darum muͤſſen die Kuͤnſte in ihrer Anwen- dung nothwendig unter der Vormundſchaft der Ver- nunft ſtehen.
Wegen ihres ausnehmenden Nutzens verdienen ſie von der Politik durch alle erſinnliche Mittel un- terſtuͤtzt und ermuntert, und durch alle Staͤnde der Buͤrger ausgebreitet zu werden; und wegen des Mißbrauchs, der davon gemacht werden kann, muß eben dieſe Politik ſie in ihren Verrichtungen ein- ſchraͤnken. Schon allein in Ruͤkſicht auf die Vor- theile des guten und den Schaden des ſchlechten Ge- ſchmaks ſollte eine wahrhaftig weiſe Geſetzgebung keinem Buͤrger erlauben, durch ſeine Haͤuſer oder Gaͤrten, wo von außen und innen anlokende Pracht, aber zugleich Mangel der Ueberlegung, Unſchiklich- keit, Thorheit, oder gar Wahnwitz herrſcht, den Geſchmak ſeiner Mitbuͤrger zu verderben. Keinem Kuͤnſtler ſollte erlaubt ſeyn ſeine Kunſt zu treiben, bis er außer den Proben ſeiner Kunſt, auch Proben
von
(†)Verbanne die Einbildung, ſagt der große Mar- cus Aurelius, ſo biſt du gerettet. Jn dieſen Worten liegt der ganze Geiſt der ſtoiſchen Philoſophie.
(††)[Spaltenumbruch] Jn der Philoſophie der Alten wurde das Syſtem [Spaltenumbruch]
der Lehren vom Urſprung, der Regierung und dem endli- chen Schikſal der Welt und beſonders des Menſchen, das, was wir in Deutſchland gegenwaͤrtig, mit Ausſchluß der Outologie, die Metaphyſik nennen, Phyſiologie genennt.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0049"n="614"/><cb/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Kuͤn</hi></fw><lb/>
tung alles deſſen bringen, was zu ihrer Gluͤkſeelig-<lb/>
keit noͤthig iſt.</p><lb/><p>Alſo muͤſſen wir die ſchoͤnen Kuͤnſte, als die noth-<lb/>
wendigen Gehuͤlfen der Weisheit anſehen, die fuͤr<lb/>
das Wohlſeyn der Menſchen ſorget. Sie weiß alles,<lb/>
was der Menſch ſeyn ſoll; ſie zeichnet den Weg zur<lb/>
Vollkommenheit und der nothwendig damit verbun-<lb/>
denen Gluͤckſeligkeit. Aber die Kraͤfte, dieſen oft<lb/>ſteilen Weg zu beſteigen, kann ſie nicht geben; die<lb/>ſchoͤnen Kuͤnſte machen ihn eben, und beſtreuen ihn<lb/>
mit Blumen, die durch den lieblichſten Geruch den<lb/>
Wanderer zum weitern Fortgehen unwiderſtehlich<lb/>
anlocken.</p><lb/><p>Und dieſes ſind nicht etwa redneriſche Lobeserhe-<lb/>
bungen, die nur auf einen Augenblik taͤuſchen und<lb/>
wie leichter Nebel verſchwinden, wenn die Strahlen<lb/>
der Vernunft darauf fallen; es iſt der menſchlichen<lb/>
Natur gemaͤß; der Verſtand wuͤrkt nichts als Kennt-<lb/>
niß, und in dieſer liegt keine Kraft zu handeln.<lb/>
Soll die Wahrheit wuͤrkſam werden, ſo muß ſie in<lb/>
Geſtalt des Guten nicht erkannt, ſondern empfun-<lb/>
den werden, denn nur dieſes reizt die Begehrungs-<lb/>
kraͤfte. Dieſes ſahen ſelbſt die Stoiker ein, obgleich<lb/>
ihre Grundmaxime war, alle Empfindung zu ver-<lb/>
bannen, und die ganze Seele blos zu Vernunft zu<lb/>
machen. <noteplace="foot"n="(†)"><hirendition="#fr">Verbanne die Einbildung,</hi>ſagt der große Mar-<lb/>
cus Aurelius, <hirendition="#fr">ſo biſt du gerettet.</hi> Jn dieſen Worten<lb/>
liegt der ganze Geiſt der ſtoiſchen Philoſophie.</note> Dennoch war ihre Phyſiologie <noteplace="foot"n="(††)"><cb/><lb/>
Jn der Philoſophie der Alten wurde das Syſtem<lb/><cb/>
der Lehren vom Urſprung, der Regierung und dem endli-<lb/>
chen Schikſal der Welt und beſonders des Menſchen, das,<lb/>
was wir in Deutſchland gegenwaͤrtig, mit Ausſchluß der<lb/>
Outologie, die Metaphyſik nennen, Phyſiologie genennt.</note><lb/>
voll von Bildern und Erdichtungen, die durch die<lb/>
Einbildungskraft die Empfindung rege machen ſoll-<lb/>
ten; und keine andre Sekte war ſorgfaͤltiger als<lb/>
dieſe, die Ausſpruͤche der Vernunft mit aͤſthetiſcher<lb/>
Kraft zu beleben. Der rohe Menſch iſt blos grobe<lb/>
Sinnlichkeit, die auf das thieriſche Leben abzielt;<lb/>
der Menſch, den der Stoiker bilden wollte, aber<lb/>
nie gebildet hat, waͤre blos Vernunft, ein blos er-<lb/>
kennendes und nie handelndes Weſen; der aber,<lb/>
den die ſchoͤnen Kuͤnſte bilden, ſteht zwiſchen jenen<lb/>
beyden gerad in der Mitte; ſeine Sinnlichkeit be-<lb/>ſteht in einer verfeinerten innern Empfindſamkeit,<lb/>
die den Menſchen fuͤr das ſittliche Leben wuͤrkſam<lb/>
macht.</p><lb/><p>Aber wir muͤſſen alles geſtehen. Die reizende<lb/>
Kraft der ſchoͤnen Kuͤnſte kann leicht zum Verderben<lb/>
der Menſchen gemißbraucht werden; gleich jenem<lb/><cb/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Kuͤn</hi></fw><lb/>
paradieſiſchen Baum, tragen ſie Fruͤchte des Guten<lb/>
und des Boͤſen, und ein unuͤberlegter Genuß derſel-<lb/>
ben kann den Menſchen ins Verderben ſtuͤrzen.<lb/>
Die verfeinerte Sinnlichkeit kaun gefaͤhrliche Folgen<lb/>
haben, wann ſie nicht unter der beſtaͤndigen Fuͤh-<lb/>
rung der Vernunft angebauet wird. Die aben-<lb/>
theuerlichen Ausſchweifungen der verliebten, oder<lb/>
politiſchen, oder religioͤſen Schwaͤrmereyen, der<lb/>
verkehrte Geiſt fanatiſcher Sekten, Moͤnchs-Orden<lb/>
und ganzer Voͤlker, was iſt er anders, als eine<lb/>
von Vernunft verlaſſene und dabey noch uͤbertrie-<lb/>
bene feinere Sinnlichkeit. Und auch daher kommt<lb/>
die ſybaritiſche Weichlichkeit, die den Menſchen zu<lb/>
einem ſchwachen, verwoͤhnten und veraͤchtlichen Ge-<lb/>ſchoͤpfe macht. Es iſt im Grund einerley Empfind-<lb/>ſamkeit, die Helden und Narren, Heilige und ver-<lb/>
ruchte Boͤſewichter bildet.</p><lb/><p>Und wann die Kraft der ſchoͤnen Kuͤnſte in ver-<lb/>
raͤtheriſche Haͤnde kommt, ſo wird das herrlichſte<lb/>
Geſundheitsmittel zum toͤdtlichen Gifte, weil die<lb/>
liebenswuͤrdige Geſtalt der Tugend auch dem Laſter<lb/>
eingepraͤgt wird. Dann laͤuft der betrogene<lb/>
Menſch im Schwindel der Trunkenheit gerade in<lb/>
die Arme der Verfuͤhrerin, wo er ſeinen Untergang<lb/>
findet. Darum muͤſſen die Kuͤnſte in ihrer Anwen-<lb/>
dung nothwendig unter der Vormundſchaft der Ver-<lb/>
nunft ſtehen.</p><lb/><p>Wegen ihres ausnehmenden Nutzens verdienen<lb/>ſie von der Politik durch alle erſinnliche Mittel un-<lb/>
terſtuͤtzt und ermuntert, und durch alle Staͤnde der<lb/>
Buͤrger ausgebreitet zu werden; und wegen des<lb/>
Mißbrauchs, der davon gemacht werden kann, muß<lb/>
eben dieſe Politik ſie in ihren Verrichtungen ein-<lb/>ſchraͤnken. Schon allein in Ruͤkſicht auf die Vor-<lb/>
theile des guten und den Schaden des ſchlechten Ge-<lb/>ſchmaks ſollte eine wahrhaftig weiſe Geſetzgebung<lb/>
keinem Buͤrger erlauben, durch ſeine Haͤuſer oder<lb/>
Gaͤrten, wo von außen und innen anlokende Pracht,<lb/>
aber zugleich Mangel der Ueberlegung, Unſchiklich-<lb/>
keit, Thorheit, oder gar Wahnwitz herrſcht, den<lb/>
Geſchmak ſeiner Mitbuͤrger zu verderben. Keinem<lb/>
Kuͤnſtler ſollte erlaubt ſeyn ſeine Kunſt zu treiben,<lb/>
bis er außer den Proben ſeiner Kunſt, auch Proben<lb/><fwplace="bottom"type="catch">von</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[614/0049]
Kuͤn
Kuͤn
tung alles deſſen bringen, was zu ihrer Gluͤkſeelig-
keit noͤthig iſt.
Alſo muͤſſen wir die ſchoͤnen Kuͤnſte, als die noth-
wendigen Gehuͤlfen der Weisheit anſehen, die fuͤr
das Wohlſeyn der Menſchen ſorget. Sie weiß alles,
was der Menſch ſeyn ſoll; ſie zeichnet den Weg zur
Vollkommenheit und der nothwendig damit verbun-
denen Gluͤckſeligkeit. Aber die Kraͤfte, dieſen oft
ſteilen Weg zu beſteigen, kann ſie nicht geben; die
ſchoͤnen Kuͤnſte machen ihn eben, und beſtreuen ihn
mit Blumen, die durch den lieblichſten Geruch den
Wanderer zum weitern Fortgehen unwiderſtehlich
anlocken.
Und dieſes ſind nicht etwa redneriſche Lobeserhe-
bungen, die nur auf einen Augenblik taͤuſchen und
wie leichter Nebel verſchwinden, wenn die Strahlen
der Vernunft darauf fallen; es iſt der menſchlichen
Natur gemaͤß; der Verſtand wuͤrkt nichts als Kennt-
niß, und in dieſer liegt keine Kraft zu handeln.
Soll die Wahrheit wuͤrkſam werden, ſo muß ſie in
Geſtalt des Guten nicht erkannt, ſondern empfun-
den werden, denn nur dieſes reizt die Begehrungs-
kraͤfte. Dieſes ſahen ſelbſt die Stoiker ein, obgleich
ihre Grundmaxime war, alle Empfindung zu ver-
bannen, und die ganze Seele blos zu Vernunft zu
machen. (†) Dennoch war ihre Phyſiologie (††)
voll von Bildern und Erdichtungen, die durch die
Einbildungskraft die Empfindung rege machen ſoll-
ten; und keine andre Sekte war ſorgfaͤltiger als
dieſe, die Ausſpruͤche der Vernunft mit aͤſthetiſcher
Kraft zu beleben. Der rohe Menſch iſt blos grobe
Sinnlichkeit, die auf das thieriſche Leben abzielt;
der Menſch, den der Stoiker bilden wollte, aber
nie gebildet hat, waͤre blos Vernunft, ein blos er-
kennendes und nie handelndes Weſen; der aber,
den die ſchoͤnen Kuͤnſte bilden, ſteht zwiſchen jenen
beyden gerad in der Mitte; ſeine Sinnlichkeit be-
ſteht in einer verfeinerten innern Empfindſamkeit,
die den Menſchen fuͤr das ſittliche Leben wuͤrkſam
macht.
Aber wir muͤſſen alles geſtehen. Die reizende
Kraft der ſchoͤnen Kuͤnſte kann leicht zum Verderben
der Menſchen gemißbraucht werden; gleich jenem
paradieſiſchen Baum, tragen ſie Fruͤchte des Guten
und des Boͤſen, und ein unuͤberlegter Genuß derſel-
ben kann den Menſchen ins Verderben ſtuͤrzen.
Die verfeinerte Sinnlichkeit kaun gefaͤhrliche Folgen
haben, wann ſie nicht unter der beſtaͤndigen Fuͤh-
rung der Vernunft angebauet wird. Die aben-
theuerlichen Ausſchweifungen der verliebten, oder
politiſchen, oder religioͤſen Schwaͤrmereyen, der
verkehrte Geiſt fanatiſcher Sekten, Moͤnchs-Orden
und ganzer Voͤlker, was iſt er anders, als eine
von Vernunft verlaſſene und dabey noch uͤbertrie-
bene feinere Sinnlichkeit. Und auch daher kommt
die ſybaritiſche Weichlichkeit, die den Menſchen zu
einem ſchwachen, verwoͤhnten und veraͤchtlichen Ge-
ſchoͤpfe macht. Es iſt im Grund einerley Empfind-
ſamkeit, die Helden und Narren, Heilige und ver-
ruchte Boͤſewichter bildet.
Und wann die Kraft der ſchoͤnen Kuͤnſte in ver-
raͤtheriſche Haͤnde kommt, ſo wird das herrlichſte
Geſundheitsmittel zum toͤdtlichen Gifte, weil die
liebenswuͤrdige Geſtalt der Tugend auch dem Laſter
eingepraͤgt wird. Dann laͤuft der betrogene
Menſch im Schwindel der Trunkenheit gerade in
die Arme der Verfuͤhrerin, wo er ſeinen Untergang
findet. Darum muͤſſen die Kuͤnſte in ihrer Anwen-
dung nothwendig unter der Vormundſchaft der Ver-
nunft ſtehen.
Wegen ihres ausnehmenden Nutzens verdienen
ſie von der Politik durch alle erſinnliche Mittel un-
terſtuͤtzt und ermuntert, und durch alle Staͤnde der
Buͤrger ausgebreitet zu werden; und wegen des
Mißbrauchs, der davon gemacht werden kann, muß
eben dieſe Politik ſie in ihren Verrichtungen ein-
ſchraͤnken. Schon allein in Ruͤkſicht auf die Vor-
theile des guten und den Schaden des ſchlechten Ge-
ſchmaks ſollte eine wahrhaftig weiſe Geſetzgebung
keinem Buͤrger erlauben, durch ſeine Haͤuſer oder
Gaͤrten, wo von außen und innen anlokende Pracht,
aber zugleich Mangel der Ueberlegung, Unſchiklich-
keit, Thorheit, oder gar Wahnwitz herrſcht, den
Geſchmak ſeiner Mitbuͤrger zu verderben. Keinem
Kuͤnſtler ſollte erlaubt ſeyn ſeine Kunſt zu treiben,
bis er außer den Proben ſeiner Kunſt, auch Proben
von
(†) Verbanne die Einbildung, ſagt der große Mar-
cus Aurelius, ſo biſt du gerettet. Jn dieſen Worten
liegt der ganze Geiſt der ſtoiſchen Philoſophie.
(††)
Jn der Philoſophie der Alten wurde das Syſtem
der Lehren vom Urſprung, der Regierung und dem endli-
chen Schikſal der Welt und beſonders des Menſchen, das,
was wir in Deutſchland gegenwaͤrtig, mit Ausſchluß der
Outologie, die Metaphyſik nennen, Phyſiologie genennt.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 614. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/49>, abgerufen am 16.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.