So wenig es erkannt wird, so wahr ist es, daß der Mensch das wichtigste seiner innern Bildung dem Einflusse der schönen Künste zu danken hat. Wenn ich auf der einen Seite den Muth und die Vernunft bewundre, womit die alten cynischen Philosophen unter einem durch den Mißbrauch der schönen Künste in Ueppigkeit und Weichlichkeit ver- sunkenen Volke, wieder gegen den ursprünglichen Zustand der rohen Natur zurückgekehret sind; so erregt auf der andern Seite ihr Undank gegen die schönen Künste meinen Unwillen. Woher hattest du Diogenes den feinen Witz, womit du die Thor- heiten deiner Mitbürger so schneidend verspottetest? Woher kam dir das feine Gefühl, daß dir jede Thorheit, wenn sie auch die völlige Gestalt der Weis- heit an sich hatte, so lebhaft zu empfinden gab? Wie konntest du dir einbilden, in Athen oder Co- rinth, völlig zu der rohen Natur zurücke zu kehren? Jst es nicht offenbar widersprechend, in einem Lande, wo die schönen Künste ihren vollen Einfluß schon verbreitet haben, ein Cyniker seyn zu wollen? Erst hättest du durch einen Trunk aus dem Lethe in dei- nem Geist und in deinem Herzen jeden Eindruk der schönen Künste auslöschen sollen; alsdann aber hättest du nicht mehr unter den Griechen leben kön- nen; sondern hättest dein Faß bis zu der kleinsten und verächtlichsten Horde der scythischen Völker hin- wälzen müssen, um einen Aufenthalt zu finden, wo du nach deinen Grundsätzen denken und leben konn- test. Und du besserer Diogenes unter den neuern Griechen, verehrungs- und bewundrungswürdiger Rousseau, hättest den Musen erst alles zurücke ge- ben sollen, was du ihnen schuldig bist, ehe du deine öffentliche Anklage gegen sie vorbrachtest. Dann würde sie gewiß niemanden gerührt haben. Dein sonst großes Herz fühlte nicht, wie viel du denen zu danken hast, die du des Landes verweisen wolltest.
Diese Anmerkungen gehen nur auf die allgemei- neste Würkung der schönen Künste überhaupt, die in einer verfeinerten Sinnlichkeit, in dem, was man den Geschmak am Schönen nennt, bestehet. Und dieses allein wäre schon hinlänglich, den dankbaren Menschen zu vermögen, den Musen Tempel zu bauen und Altäre aufzurichten. Ein Volk, das den Ge- schmak am Schönen besitzt, besteht, überhaupt be- trachtet, immer aus vollkommnern Menschen, als das, welches den Einfluß des Geschmaks noch nicht empfunden hat.
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Kün
Und doch ist dieser höchstschätzbare Einfluß der schönen Künste nur noch als eine Vorbereitung zu ihrer höhern Nutzbarkeit anzusehen; sie tragen herr- lichere Früchte, die aber nur auf diesem durch den Geschmak bearbeiteten Boden wachsen können. (*) Ein Volk, das glüklich seyn soll, muß zuerst gute, seiner Größe und seinem Lande angemessene Gesetze haben. Diese sind ein Werk des Verstandes. Dann müssen gewisse Grundbegriffe, gewisse Hauptvorstel- lungen, die den wahren Nationalcharakter unter- stützen, jedem einzelen Bürger, so lebhaft als mög- lich ist, immer gegenwärtig seyn, damit er seinen Charakter beständig behaupte. Bey grössern Gele- genheiten aber, wo Trägheit und Leidenschaft sich der Pflicht widersetzen, müssen Mittel vorhanden seyn, dieser höhern Reiz zu geben. Diesen Dienst können die schönen Künste leisten. Sie haben tau- send Gelegenheiten jene Grundbegriffe immer zu erweken und unauslöschlich zu machen; und nur sie können, bey jenen besondern Gelegenheiten, da sie einmal das Herz zur feinen Empfindsamkeit schon vorbereitet haben, durch innern Zwang den Men- schen zu seiner Pflicht anhalten. Nur sie können, vermittelst besonderer Arbeiten, jede Tugend, jede Empfindung eines rechtschaffenen Herzens, jede wohlthätige Haudlung in ihrem vollen Reize darstel- len. Welche empfindsame Seele wird ihnen wider- stehen können? Oder wenn sie ihre Zauberkraft an- wenden, uns die Bosheit, das Laster, jede ver- derbliche Handlung in der Häßlichkeit ihrer Na- tur und in der Abscheulichkeit ihrer Folgen darzu- stellen; wer wird sich noch unterstehen dürfen, nur einen Funken dazu in seinem Herzen glimmen zu lassen.
Jn Wahrheit, aus dem Menschen, dessen Ein- bildungskraft zum Gefühle des Schönen, und dessen Herz zur Empfindsamkeit des Guten hinlänglich ge- stimmt ist, kann man durch eine weise Anwendung der schönen Künste alles machen, dessen er fähig ist. Der Philosoph darf nur die von ihm entdekten prak- tischen Wahrheiten, der Stifter der Staaten seine Gesetze, der Menschenfreund seine Entwürfe, dem Künstler übergeben. Der gute Regent kann ihm seine Anschläge, dem Bürger sein wahres Jnteresse werth zu machen, nur mittheilen; er, den die Mu- sen lieben, wird, wie ein andrer Orpheus, die Menschen selbst wider ihren Willen, aber mit sanf- tem liebenswürdigen Zwange, zu fleißiger Ausrich-
tung
(*) S. Geschmak.
H h h h 3
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Kuͤn
So wenig es erkannt wird, ſo wahr iſt es, daß der Menſch das wichtigſte ſeiner innern Bildung dem Einfluſſe der ſchoͤnen Kuͤnſte zu danken hat. Wenn ich auf der einen Seite den Muth und die Vernunft bewundre, womit die alten cyniſchen Philoſophen unter einem durch den Mißbrauch der ſchoͤnen Kuͤnſte in Ueppigkeit und Weichlichkeit ver- ſunkenen Volke, wieder gegen den urſpruͤnglichen Zuſtand der rohen Natur zuruͤckgekehret ſind; ſo erregt auf der andern Seite ihr Undank gegen die ſchoͤnen Kuͤnſte meinen Unwillen. Woher hatteſt du Diogenes den feinen Witz, womit du die Thor- heiten deiner Mitbuͤrger ſo ſchneidend verſpotteteſt? Woher kam dir das feine Gefuͤhl, daß dir jede Thorheit, wenn ſie auch die voͤllige Geſtalt der Weis- heit an ſich hatte, ſo lebhaft zu empfinden gab? Wie konnteſt du dir einbilden, in Athen oder Co- rinth, voͤllig zu der rohen Natur zuruͤcke zu kehren? Jſt es nicht offenbar widerſprechend, in einem Lande, wo die ſchoͤnen Kuͤnſte ihren vollen Einfluß ſchon verbreitet haben, ein Cyniker ſeyn zu wollen? Erſt haͤtteſt du durch einen Trunk aus dem Lethe in dei- nem Geiſt und in deinem Herzen jeden Eindruk der ſchoͤnen Kuͤnſte ausloͤſchen ſollen; alsdann aber haͤtteſt du nicht mehr unter den Griechen leben koͤn- nen; ſondern haͤtteſt dein Faß bis zu der kleinſten und veraͤchtlichſten Horde der ſcythiſchen Voͤlker hin- waͤlzen muͤſſen, um einen Aufenthalt zu finden, wo du nach deinen Grundſaͤtzen denken und leben konn- teſt. Und du beſſerer Diogenes unter den neuern Griechen, verehrungs- und bewundrungswuͤrdiger Rouſſeau, haͤtteſt den Muſen erſt alles zuruͤcke ge- ben ſollen, was du ihnen ſchuldig biſt, ehe du deine oͤffentliche Anklage gegen ſie vorbrachteſt. Dann wuͤrde ſie gewiß niemanden geruͤhrt haben. Dein ſonſt großes Herz fuͤhlte nicht, wie viel du denen zu danken haſt, die du des Landes verweiſen wollteſt.
Dieſe Anmerkungen gehen nur auf die allgemei- neſte Wuͤrkung der ſchoͤnen Kuͤnſte uͤberhaupt, die in einer verfeinerten Sinnlichkeit, in dem, was man den Geſchmak am Schoͤnen nennt, beſtehet. Und dieſes allein waͤre ſchon hinlaͤnglich, den dankbaren Menſchen zu vermoͤgen, den Muſen Tempel zu bauen und Altaͤre aufzurichten. Ein Volk, das den Ge- ſchmak am Schoͤnen beſitzt, beſteht, uͤberhaupt be- trachtet, immer aus vollkommnern Menſchen, als das, welches den Einfluß des Geſchmaks noch nicht empfunden hat.
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Kuͤn
Und doch iſt dieſer hoͤchſtſchaͤtzbare Einfluß der ſchoͤnen Kuͤnſte nur noch als eine Vorbereitung zu ihrer hoͤhern Nutzbarkeit anzuſehen; ſie tragen herr- lichere Fruͤchte, die aber nur auf dieſem durch den Geſchmak bearbeiteten Boden wachſen koͤnnen. (*) Ein Volk, das gluͤklich ſeyn ſoll, muß zuerſt gute, ſeiner Groͤße und ſeinem Lande angemeſſene Geſetze haben. Dieſe ſind ein Werk des Verſtandes. Dann muͤſſen gewiſſe Grundbegriffe, gewiſſe Hauptvorſtel- lungen, die den wahren Nationalcharakter unter- ſtuͤtzen, jedem einzelen Buͤrger, ſo lebhaft als moͤg- lich iſt, immer gegenwaͤrtig ſeyn, damit er ſeinen Charakter beſtaͤndig behaupte. Bey groͤſſern Gele- genheiten aber, wo Traͤgheit und Leidenſchaft ſich der Pflicht widerſetzen, muͤſſen Mittel vorhanden ſeyn, dieſer hoͤhern Reiz zu geben. Dieſen Dienſt koͤnnen die ſchoͤnen Kuͤnſte leiſten. Sie haben tau- ſend Gelegenheiten jene Grundbegriffe immer zu erweken und unausloͤſchlich zu machen; und nur ſie koͤnnen, bey jenen beſondern Gelegenheiten, da ſie einmal das Herz zur feinen Empfindſamkeit ſchon vorbereitet haben, durch innern Zwang den Men- ſchen zu ſeiner Pflicht anhalten. Nur ſie koͤnnen, vermittelſt beſonderer Arbeiten, jede Tugend, jede Empfindung eines rechtſchaffenen Herzens, jede wohlthaͤtige Haudlung in ihrem vollen Reize darſtel- len. Welche empfindſame Seele wird ihnen wider- ſtehen koͤnnen? Oder wenn ſie ihre Zauberkraft an- wenden, uns die Bosheit, das Laſter, jede ver- derbliche Handlung in der Haͤßlichkeit ihrer Na- tur und in der Abſcheulichkeit ihrer Folgen darzu- ſtellen; wer wird ſich noch unterſtehen duͤrfen, nur einen Funken dazu in ſeinem Herzen glimmen zu laſſen.
Jn Wahrheit, aus dem Menſchen, deſſen Ein- bildungskraft zum Gefuͤhle des Schoͤnen, und deſſen Herz zur Empfindſamkeit des Guten hinlaͤnglich ge- ſtimmt iſt, kann man durch eine weiſe Anwendung der ſchoͤnen Kuͤnſte alles machen, deſſen er faͤhig iſt. Der Philoſoph darf nur die von ihm entdekten prak- tiſchen Wahrheiten, der Stifter der Staaten ſeine Geſetze, der Menſchenfreund ſeine Entwuͤrfe, dem Kuͤnſtler uͤbergeben. Der gute Regent kann ihm ſeine Anſchlaͤge, dem Buͤrger ſein wahres Jntereſſe werth zu machen, nur mittheilen; er, den die Mu- ſen lieben, wird, wie ein andrer Orpheus, die Menſchen ſelbſt wider ihren Willen, aber mit ſanf- tem liebenswuͤrdigen Zwange, zu fleißiger Ausrich-
tung
(*) S. Geſchmak.
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So wenig es erkannt wird, ſo wahr iſt es, daß
der Menſch das wichtigſte ſeiner innern Bildung
dem Einfluſſe der ſchoͤnen Kuͤnſte zu danken hat.
Wenn ich auf der einen Seite den Muth und die
Vernunft bewundre, womit die alten cyniſchen
Philoſophen unter einem durch den Mißbrauch der
ſchoͤnen Kuͤnſte in Ueppigkeit und Weichlichkeit ver-
ſunkenen Volke, wieder gegen den urſpruͤnglichen
Zuſtand der rohen Natur zuruͤckgekehret ſind; ſo
erregt auf der andern Seite ihr Undank gegen die
ſchoͤnen Kuͤnſte meinen Unwillen. Woher hatteſt
du Diogenes den feinen Witz, womit du die Thor-
heiten deiner Mitbuͤrger ſo ſchneidend verſpotteteſt?
Woher kam dir das feine Gefuͤhl, daß dir jede
Thorheit, wenn ſie auch die voͤllige Geſtalt der Weis-
heit an ſich hatte, ſo lebhaft zu empfinden gab?
Wie konnteſt du dir einbilden, in Athen oder Co-
rinth, voͤllig zu der rohen Natur zuruͤcke zu kehren?
Jſt es nicht offenbar widerſprechend, in einem Lande,
wo die ſchoͤnen Kuͤnſte ihren vollen Einfluß ſchon
verbreitet haben, ein Cyniker ſeyn zu wollen? Erſt
haͤtteſt du durch einen Trunk aus dem Lethe in dei-
nem Geiſt und in deinem Herzen jeden Eindruk der
ſchoͤnen Kuͤnſte ausloͤſchen ſollen; alsdann aber
haͤtteſt du nicht mehr unter den Griechen leben koͤn-
nen; ſondern haͤtteſt dein Faß bis zu der kleinſten
und veraͤchtlichſten Horde der ſcythiſchen Voͤlker hin-
waͤlzen muͤſſen, um einen Aufenthalt zu finden, wo
du nach deinen Grundſaͤtzen denken und leben konn-
teſt. Und du beſſerer Diogenes unter den neuern
Griechen, verehrungs- und bewundrungswuͤrdiger
Rouſſeau, haͤtteſt den Muſen erſt alles zuruͤcke ge-
ben ſollen, was du ihnen ſchuldig biſt, ehe du deine
oͤffentliche Anklage gegen ſie vorbrachteſt. Dann
wuͤrde ſie gewiß niemanden geruͤhrt haben. Dein
ſonſt großes Herz fuͤhlte nicht, wie viel du denen zu
danken haſt, die du des Landes verweiſen wollteſt.
Dieſe Anmerkungen gehen nur auf die allgemei-
neſte Wuͤrkung der ſchoͤnen Kuͤnſte uͤberhaupt, die
in einer verfeinerten Sinnlichkeit, in dem, was man
den Geſchmak am Schoͤnen nennt, beſtehet. Und
dieſes allein waͤre ſchon hinlaͤnglich, den dankbaren
Menſchen zu vermoͤgen, den Muſen Tempel zu bauen
und Altaͤre aufzurichten. Ein Volk, das den Ge-
ſchmak am Schoͤnen beſitzt, beſteht, uͤberhaupt be-
trachtet, immer aus vollkommnern Menſchen, als
das, welches den Einfluß des Geſchmaks noch nicht
empfunden hat.
Und doch iſt dieſer hoͤchſtſchaͤtzbare Einfluß der
ſchoͤnen Kuͤnſte nur noch als eine Vorbereitung zu
ihrer hoͤhern Nutzbarkeit anzuſehen; ſie tragen herr-
lichere Fruͤchte, die aber nur auf dieſem durch den
Geſchmak bearbeiteten Boden wachſen koͤnnen. (*)
Ein Volk, das gluͤklich ſeyn ſoll, muß zuerſt gute,
ſeiner Groͤße und ſeinem Lande angemeſſene Geſetze
haben. Dieſe ſind ein Werk des Verſtandes. Dann
muͤſſen gewiſſe Grundbegriffe, gewiſſe Hauptvorſtel-
lungen, die den wahren Nationalcharakter unter-
ſtuͤtzen, jedem einzelen Buͤrger, ſo lebhaft als moͤg-
lich iſt, immer gegenwaͤrtig ſeyn, damit er ſeinen
Charakter beſtaͤndig behaupte. Bey groͤſſern Gele-
genheiten aber, wo Traͤgheit und Leidenſchaft ſich
der Pflicht widerſetzen, muͤſſen Mittel vorhanden
ſeyn, dieſer hoͤhern Reiz zu geben. Dieſen Dienſt
koͤnnen die ſchoͤnen Kuͤnſte leiſten. Sie haben tau-
ſend Gelegenheiten jene Grundbegriffe immer zu
erweken und unausloͤſchlich zu machen; und nur ſie
koͤnnen, bey jenen beſondern Gelegenheiten, da
ſie einmal das Herz zur feinen Empfindſamkeit ſchon
vorbereitet haben, durch innern Zwang den Men-
ſchen zu ſeiner Pflicht anhalten. Nur ſie koͤnnen,
vermittelſt beſonderer Arbeiten, jede Tugend, jede
Empfindung eines rechtſchaffenen Herzens, jede
wohlthaͤtige Haudlung in ihrem vollen Reize darſtel-
len. Welche empfindſame Seele wird ihnen wider-
ſtehen koͤnnen? Oder wenn ſie ihre Zauberkraft an-
wenden, uns die Bosheit, das Laſter, jede ver-
derbliche Handlung in der Haͤßlichkeit ihrer Na-
tur und in der Abſcheulichkeit ihrer Folgen darzu-
ſtellen; wer wird ſich noch unterſtehen duͤrfen,
nur einen Funken dazu in ſeinem Herzen glimmen
zu laſſen.
Jn Wahrheit, aus dem Menſchen, deſſen Ein-
bildungskraft zum Gefuͤhle des Schoͤnen, und deſſen
Herz zur Empfindſamkeit des Guten hinlaͤnglich ge-
ſtimmt iſt, kann man durch eine weiſe Anwendung
der ſchoͤnen Kuͤnſte alles machen, deſſen er faͤhig iſt.
Der Philoſoph darf nur die von ihm entdekten prak-
tiſchen Wahrheiten, der Stifter der Staaten ſeine
Geſetze, der Menſchenfreund ſeine Entwuͤrfe, dem
Kuͤnſtler uͤbergeben. Der gute Regent kann ihm
ſeine Anſchlaͤge, dem Buͤrger ſein wahres Jntereſſe
werth zu machen, nur mittheilen; er, den die Mu-
ſen lieben, wird, wie ein andrer Orpheus, die
Menſchen ſelbſt wider ihren Willen, aber mit ſanf-
tem liebenswuͤrdigen Zwange, zu fleißiger Ausrich-
tung
(*) S.
Geſchmak.
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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 613. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/48>, abgerufen am 22.12.2024.
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