von vorzüglichem Verstand und ausnehmender Beurtheilungskraft, sehen bey verwikelten und schweeren Umständen viel weiter, als andre; sie entdeken die Möglichkeit eines Ausweges, die an- dern verborgen ist, und dieses giebt ihnen den Muth Dinge zu versuchen, wo minder scharfdenkende, nichts würden unternommen haben. So geht es auch in Sachen, die auf Gesinnungen und Em- pfindungen ankommen. Ein Mensch von großer Sinnesart, entdeket in schweeren leidenschaftlichen und sittlichen Augelegenheiten, in seinen Empfin- dungen Auswege, die jedem andern verborgen sind, und darum unternihmt er Dinge die kein anderer würde gewaget haben.
Es giebt also eine Kühnheit des Genies, die sich in Erfindung ausserordentlicher Mittel zeiget, wo- durch ein Unternehmen ausgeführt wird, das ge- meinern Genien unmöglich scheinet. Diese Kühn- heit des Genies hat Pindar besessen, der in vielen Oden einen Schwung nihmt, für den sich jeder an- dre würde gefürchtet haben. Er hat den Muth ge- habt gemeine Dinge in dem höchsten Ton der feyer- lichen Ode zu besingen, und ist darin glüklich ge- wesen. Da hält ihn Horaz auch für unnachahm- lich. Es war auch etwas kühnes, daß Ovidius un- ternommen, den ungeheuren Mischmasch der My- thologie in den Verwandlungen im Zusammenhang vorzutragen. Aber er hat sich mehr durch Spitz- fündigkeit und List, als durch Genie herausgehol- fen. Diese Kühnheit des Genies zeiget sich auch in der Bankunst, da große Meister unmöglich schei- nende Dinge glüklich ausführen. So war es ein kühnes Unternehmen des Fontana den bekannten Obeliskus unter Papst Sixtus dem V. aufzurichten.
Kühnheit des Urtheils zeiget sich in glüklicher Behauptung großer, aber allen Anschein gegen sich habender Wahrheiten; wovon uns Rousseau so man- ches Beyspiel gegeben hat. Daher entstehen also kühne Gedanken, dergleichen wir bey Pope und Haller nicht selten antreffen.
Kühnheit des Herzens zeiget sich in edler Zuver- sicht auf die Stärke seiner Gesinnungen und Be- gehrungskräfte. So zeigte Themistokles die höchste Kühnheit, daß er zu der Zeit, da Xerxes einen Preis auf seinen Kopf gesetzt hatte, sich an den Persischen Hof zu begeben und seine eigene Person seinem ärgsten Feind in die Hände zu liefern wagte. Von dieser Kühn- heit des Herzens sind tausend Beyspiele in der Jlias, [Spaltenumbruch]
Kün
in den Trauerspielen des Aeschylus, im verlohrnen Paradies, in dem Meßias, und in Shakespears Trauerspielen. Aus der Kühnheit entsteht insge- mein das Erhabene in Gedanken, in Gesinnungen und in Handlungen. Mithin gehört es zu dem wichtigsten ästhetischen Stoff.
Künste; Schöne Künste.
Der, welcher diesen Künsten zuerst den Namen der schönen Künste gegeben hat, scheint eingesehen zu haben, daß ihr Wesen in der Einwebung des Angenehmen in das Nützliche, oder in Verschöne- rung der Dinge bestehe, die durch gemeine Kunst erfunden worden. Jn der That läßt sich ihr ür- sprung am natürlichsten aus dem Hang, Dinge, die wir täglich brauchen, zu verschönern, begreifen. Man hat Gebäude gehabt, die blos nützlich waren, und eine Sprache zum nothdürftigen Gebrauche, ehe man daran dachte, jene durch Ordnung und Symme- trie, diese durch Wohlklang angenehmer zu machen.
Also hat ein, feineren Seelen angebohrner Trieb zu sanften Empfindungen, alle Künste veranlasset. Der Hirte, der zuerst seinem Stok, oder Becher eine schöne Form gegeben, oder Zierrathen daran geschnitzt hat, ist der Erfinder der Bildhauerey; und der Wilde, dem ein glütlicheres Genie eingegeben hat seine Hütte ordentlich einzurichten und ein schikliches Verhältniß der Theile daran zu beobach- ten, hat die Baukunst erfunden. Der sich zuerst bemühet hat, das, was er zu erzählen hatte, mit Ordnung und Annehmlichkeit zu sagen, ist unter seinem Volke der Urheber der Beredsamkeit.
Jn dieser Verschönerung aller dem Menschen nothwendiger Dinge, und nicht in einer unbestimm- ten Nachahmung der Natur, wie so vielfältig ge- lehret wird, ist also auch das Wesen der schönen Künste zu suchen.
Aus jenen schwachen in der Natur liegenden Keimen hat der menschliche Verstand durch wohl überlegte Wartung nach und nach die schönen Künste selbst heraus getrieben, und zu fürtreflichen, mit den herrlichsten Früchten prangenden Bäumen, gezogen. Es ist mit den Künsten, wie mit allen menschlichen Erfindungen. Sie sind oft ein Werk des Zufalles und in ihrem ersten Anfange sehr ge- ringe; aber durch allmählige Bearbeitung bekom- men sie eine Nutzbarkeit, die sie höchst wichtig macht.
Die
Zweyter Theil. H h h h
[Spaltenumbruch]
Kuͤh
von vorzuͤglichem Verſtand und ausnehmender Beurtheilungskraft, ſehen bey verwikelten und ſchweeren Umſtaͤnden viel weiter, als andre; ſie entdeken die Moͤglichkeit eines Ausweges, die an- dern verborgen iſt, und dieſes giebt ihnen den Muth Dinge zu verſuchen, wo minder ſcharfdenkende, nichts wuͤrden unternommen haben. So geht es auch in Sachen, die auf Geſinnungen und Em- pfindungen ankommen. Ein Menſch von großer Sinnesart, entdeket in ſchweeren leidenſchaftlichen und ſittlichen Augelegenheiten, in ſeinen Empfin- dungen Auswege, die jedem andern verborgen ſind, und darum unternihmt er Dinge die kein anderer wuͤrde gewaget haben.
Es giebt alſo eine Kuͤhnheit des Genies, die ſich in Erfindung auſſerordentlicher Mittel zeiget, wo- durch ein Unternehmen ausgefuͤhrt wird, das ge- meinern Genien unmoͤglich ſcheinet. Dieſe Kuͤhn- heit des Genies hat Pindar beſeſſen, der in vielen Oden einen Schwung nihmt, fuͤr den ſich jeder an- dre wuͤrde gefuͤrchtet haben. Er hat den Muth ge- habt gemeine Dinge in dem hoͤchſten Ton der feyer- lichen Ode zu beſingen, und iſt darin gluͤklich ge- weſen. Da haͤlt ihn Horaz auch fuͤr unnachahm- lich. Es war auch etwas kuͤhnes, daß Ovidius un- ternommen, den ungeheuren Miſchmaſch der My- thologie in den Verwandlungen im Zuſammenhang vorzutragen. Aber er hat ſich mehr durch Spitz- fuͤndigkeit und Liſt, als durch Genie herausgehol- fen. Dieſe Kuͤhnheit des Genies zeiget ſich auch in der Bankunſt, da große Meiſter unmoͤglich ſchei- nende Dinge gluͤklich ausfuͤhren. So war es ein kuͤhnes Unternehmen des Fontana den bekannten Obeliskus unter Papſt Sixtus dem V. aufzurichten.
Kuͤhnheit des Urtheils zeiget ſich in gluͤklicher Behauptung großer, aber allen Anſchein gegen ſich habender Wahrheiten; wovon uns Rouſſeau ſo man- ches Beyſpiel gegeben hat. Daher entſtehen alſo kuͤhne Gedanken, dergleichen wir bey Pope und Haller nicht ſelten antreffen.
Kuͤhnheit des Herzens zeiget ſich in edler Zuver- ſicht auf die Staͤrke ſeiner Geſinnungen und Be- gehrungskraͤfte. So zeigte Themiſtokles die hoͤchſte Kuͤhnheit, daß er zu der Zeit, da Xerxes einen Preis auf ſeinen Kopf geſetzt hatte, ſich an den Perſiſchen Hof zu begeben und ſeine eigene Perſon ſeinem aͤrgſten Feind in die Haͤnde zu liefern wagte. Von dieſer Kuͤhn- heit des Herzens ſind tauſend Beyſpiele in der Jlias, [Spaltenumbruch]
Kuͤn
in den Trauerſpielen des Aeſchylus, im verlohrnen Paradies, in dem Meßias, und in Shakeſpears Trauerſpielen. Aus der Kuͤhnheit entſteht insge- mein das Erhabene in Gedanken, in Geſinnungen und in Handlungen. Mithin gehoͤrt es zu dem wichtigſten aͤſthetiſchen Stoff.
Kuͤnſte; Schoͤne Kuͤnſte.
Der, welcher dieſen Kuͤnſten zuerſt den Namen der ſchoͤnen Kuͤnſte gegeben hat, ſcheint eingeſehen zu haben, daß ihr Weſen in der Einwebung des Angenehmen in das Nuͤtzliche, oder in Verſchoͤne- rung der Dinge beſtehe, die durch gemeine Kunſt erfunden worden. Jn der That laͤßt ſich ihr ür- ſprung am natuͤrlichſten aus dem Hang, Dinge, die wir taͤglich brauchen, zu verſchoͤnern, begreifen. Man hat Gebaͤude gehabt, die blos nuͤtzlich waren, und eine Sprache zum nothduͤrftigen Gebrauche, ehe man daran dachte, jene durch Ordnung und Symme- trie, dieſe durch Wohlklang angenehmer zu machen.
Alſo hat ein, feineren Seelen angebohrner Trieb zu ſanften Empfindungen, alle Kuͤnſte veranlaſſet. Der Hirte, der zuerſt ſeinem Stok, oder Becher eine ſchoͤne Form gegeben, oder Zierrathen daran geſchnitzt hat, iſt der Erfinder der Bildhauerey; und der Wilde, dem ein gluͤtlicheres Genie eingegeben hat ſeine Huͤtte ordentlich einzurichten und ein ſchikliches Verhaͤltniß der Theile daran zu beobach- ten, hat die Baukunſt erfunden. Der ſich zuerſt bemuͤhet hat, das, was er zu erzaͤhlen hatte, mit Ordnung und Annehmlichkeit zu ſagen, iſt unter ſeinem Volke der Urheber der Beredſamkeit.
Jn dieſer Verſchoͤnerung aller dem Menſchen nothwendiger Dinge, und nicht in einer unbeſtimm- ten Nachahmung der Natur, wie ſo vielfaͤltig ge- lehret wird, iſt alſo auch das Weſen der ſchoͤnen Kuͤnſte zu ſuchen.
Aus jenen ſchwachen in der Natur liegenden Keimen hat der menſchliche Verſtand durch wohl uͤberlegte Wartung nach und nach die ſchoͤnen Kuͤnſte ſelbſt heraus getrieben, und zu fuͤrtreflichen, mit den herrlichſten Fruͤchten prangenden Baͤumen, gezogen. Es iſt mit den Kuͤnſten, wie mit allen menſchlichen Erfindungen. Sie ſind oft ein Werk des Zufalles und in ihrem erſten Anfange ſehr ge- ringe; aber durch allmaͤhlige Bearbeitung bekom- men ſie eine Nutzbarkeit, die ſie hoͤchſt wichtig macht.
Die
Zweyter Theil. H h h h
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0044"n="609"/><cb/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Kuͤh</hi></fw><lb/>
von vorzuͤglichem Verſtand und ausnehmender<lb/>
Beurtheilungskraft, ſehen bey verwikelten und<lb/>ſchweeren Umſtaͤnden viel weiter, als andre; ſie<lb/>
entdeken die Moͤglichkeit eines Ausweges, die an-<lb/>
dern verborgen iſt, und dieſes giebt ihnen den Muth<lb/>
Dinge zu verſuchen, wo minder ſcharfdenkende,<lb/>
nichts wuͤrden unternommen haben. So geht es<lb/>
auch in Sachen, die auf Geſinnungen und Em-<lb/>
pfindungen ankommen. Ein Menſch von großer<lb/>
Sinnesart, entdeket in ſchweeren leidenſchaftlichen<lb/>
und ſittlichen Augelegenheiten, in ſeinen Empfin-<lb/>
dungen Auswege, die jedem andern verborgen ſind,<lb/>
und darum unternihmt er Dinge die kein anderer<lb/>
wuͤrde gewaget haben.</p><lb/><p>Es giebt alſo eine Kuͤhnheit des Genies, die ſich<lb/>
in Erfindung auſſerordentlicher Mittel zeiget, wo-<lb/>
durch ein Unternehmen ausgefuͤhrt wird, das ge-<lb/>
meinern Genien unmoͤglich ſcheinet. Dieſe Kuͤhn-<lb/>
heit des Genies hat Pindar beſeſſen, der in vielen<lb/>
Oden einen Schwung nihmt, fuͤr den ſich jeder an-<lb/>
dre wuͤrde gefuͤrchtet haben. Er hat den Muth ge-<lb/>
habt gemeine Dinge in dem hoͤchſten Ton der feyer-<lb/>
lichen Ode zu beſingen, und iſt darin gluͤklich ge-<lb/>
weſen. Da haͤlt ihn Horaz auch fuͤr unnachahm-<lb/>
lich. Es war auch etwas kuͤhnes, daß Ovidius un-<lb/>
ternommen, den ungeheuren Miſchmaſch der My-<lb/>
thologie in den Verwandlungen im Zuſammenhang<lb/>
vorzutragen. Aber er hat ſich mehr durch Spitz-<lb/>
fuͤndigkeit und Liſt, als durch Genie herausgehol-<lb/>
fen. Dieſe Kuͤhnheit des Genies zeiget ſich auch<lb/>
in der Bankunſt, da große Meiſter unmoͤglich ſchei-<lb/>
nende Dinge gluͤklich ausfuͤhren. So war es ein<lb/>
kuͤhnes Unternehmen des <hirendition="#fr">Fontana</hi> den bekannten<lb/>
Obeliskus unter Papſt Sixtus dem <hirendition="#aq">V.</hi> aufzurichten.</p><lb/><p>Kuͤhnheit des Urtheils zeiget ſich in gluͤklicher<lb/>
Behauptung großer, aber allen Anſchein gegen ſich<lb/>
habender Wahrheiten; wovon uns Rouſſeau ſo man-<lb/>
ches Beyſpiel gegeben hat. Daher entſtehen alſo<lb/>
kuͤhne Gedanken, dergleichen wir bey Pope und<lb/>
Haller nicht ſelten antreffen.</p><lb/><p>Kuͤhnheit des Herzens zeiget ſich in edler Zuver-<lb/>ſicht auf die Staͤrke ſeiner Geſinnungen und Be-<lb/>
gehrungskraͤfte. So zeigte Themiſtokles die hoͤchſte<lb/>
Kuͤhnheit, daß er zu der Zeit, da <hirendition="#fr">Xerxes</hi> einen Preis<lb/>
auf ſeinen Kopf geſetzt hatte, ſich an den Perſiſchen Hof<lb/>
zu begeben und ſeine eigene Perſon ſeinem aͤrgſten Feind<lb/>
in die Haͤnde zu liefern wagte. Von dieſer Kuͤhn-<lb/>
heit des Herzens ſind tauſend Beyſpiele in der Jlias,<lb/><cb/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Kuͤn</hi></fw><lb/>
in den Trauerſpielen des Aeſchylus, im verlohrnen<lb/>
Paradies, in dem Meßias, und in Shakeſpears<lb/>
Trauerſpielen. Aus der Kuͤhnheit entſteht insge-<lb/>
mein das Erhabene in Gedanken, in Geſinnungen<lb/>
und in Handlungen. Mithin gehoͤrt es zu dem<lb/>
wichtigſten aͤſthetiſchen Stoff.</p></div><lb/><divn="2"><head><hirendition="#b">Kuͤnſte; Schoͤne Kuͤnſte.</hi></head><lb/><p><hirendition="#in">D</hi>er, welcher dieſen Kuͤnſten zuerſt den Namen<lb/>
der <hirendition="#fr">ſchoͤnen Kuͤnſte</hi> gegeben hat, ſcheint eingeſehen<lb/>
zu haben, daß ihr Weſen in der Einwebung des<lb/>
Angenehmen in das Nuͤtzliche, oder in <hirendition="#fr">Verſchoͤne-<lb/>
rung</hi> der Dinge beſtehe, die durch gemeine Kunſt<lb/>
erfunden worden. Jn der That laͤßt ſich ihr ür-<lb/>ſprung am natuͤrlichſten aus dem Hang, Dinge,<lb/>
die wir taͤglich brauchen, zu verſchoͤnern, begreifen.<lb/>
Man hat Gebaͤude gehabt, die blos nuͤtzlich waren,<lb/>
und eine Sprache zum nothduͤrftigen Gebrauche, ehe<lb/>
man daran dachte, jene durch Ordnung und Symme-<lb/>
trie, dieſe durch Wohlklang angenehmer zu machen.</p><lb/><p>Alſo hat ein, feineren Seelen angebohrner Trieb<lb/>
zu ſanften Empfindungen, alle Kuͤnſte veranlaſſet.<lb/>
Der Hirte, der zuerſt ſeinem Stok, oder Becher<lb/>
eine ſchoͤne Form gegeben, oder Zierrathen daran<lb/>
geſchnitzt hat, iſt der Erfinder der Bildhauerey; und<lb/>
der Wilde, dem ein gluͤtlicheres Genie eingegeben<lb/>
hat ſeine Huͤtte ordentlich einzurichten und ein<lb/>ſchikliches Verhaͤltniß der Theile daran zu beobach-<lb/>
ten, hat die Baukunſt erfunden. Der ſich zuerſt<lb/>
bemuͤhet hat, das, was er zu erzaͤhlen hatte, mit<lb/>
Ordnung und Annehmlichkeit zu ſagen, iſt unter<lb/>ſeinem Volke der Urheber der Beredſamkeit.</p><lb/><p>Jn dieſer Verſchoͤnerung aller dem Menſchen<lb/>
nothwendiger Dinge, und nicht in einer unbeſtimm-<lb/>
ten Nachahmung der Natur, wie ſo vielfaͤltig ge-<lb/>
lehret wird, iſt alſo auch das Weſen der ſchoͤnen<lb/>
Kuͤnſte zu ſuchen.</p><lb/><p>Aus jenen ſchwachen in der Natur liegenden<lb/>
Keimen hat der menſchliche Verſtand durch wohl<lb/>
uͤberlegte Wartung nach und nach die ſchoͤnen<lb/>
Kuͤnſte ſelbſt heraus getrieben, und zu fuͤrtreflichen,<lb/>
mit den herrlichſten Fruͤchten prangenden Baͤumen,<lb/>
gezogen. Es iſt mit den Kuͤnſten, wie mit allen<lb/>
menſchlichen Erfindungen. Sie ſind oft ein Werk<lb/>
des Zufalles und in ihrem erſten Anfange ſehr ge-<lb/>
ringe; aber durch allmaͤhlige Bearbeitung bekom-<lb/>
men ſie eine Nutzbarkeit, die ſie hoͤchſt wichtig macht.<lb/><fwplace="bottom"type="sig"><hirendition="#fr">Zweyter Theil.</hi> H h h h</fw><fwplace="bottom"type="catch">Die</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[609/0044]
Kuͤh
Kuͤn
von vorzuͤglichem Verſtand und ausnehmender
Beurtheilungskraft, ſehen bey verwikelten und
ſchweeren Umſtaͤnden viel weiter, als andre; ſie
entdeken die Moͤglichkeit eines Ausweges, die an-
dern verborgen iſt, und dieſes giebt ihnen den Muth
Dinge zu verſuchen, wo minder ſcharfdenkende,
nichts wuͤrden unternommen haben. So geht es
auch in Sachen, die auf Geſinnungen und Em-
pfindungen ankommen. Ein Menſch von großer
Sinnesart, entdeket in ſchweeren leidenſchaftlichen
und ſittlichen Augelegenheiten, in ſeinen Empfin-
dungen Auswege, die jedem andern verborgen ſind,
und darum unternihmt er Dinge die kein anderer
wuͤrde gewaget haben.
Es giebt alſo eine Kuͤhnheit des Genies, die ſich
in Erfindung auſſerordentlicher Mittel zeiget, wo-
durch ein Unternehmen ausgefuͤhrt wird, das ge-
meinern Genien unmoͤglich ſcheinet. Dieſe Kuͤhn-
heit des Genies hat Pindar beſeſſen, der in vielen
Oden einen Schwung nihmt, fuͤr den ſich jeder an-
dre wuͤrde gefuͤrchtet haben. Er hat den Muth ge-
habt gemeine Dinge in dem hoͤchſten Ton der feyer-
lichen Ode zu beſingen, und iſt darin gluͤklich ge-
weſen. Da haͤlt ihn Horaz auch fuͤr unnachahm-
lich. Es war auch etwas kuͤhnes, daß Ovidius un-
ternommen, den ungeheuren Miſchmaſch der My-
thologie in den Verwandlungen im Zuſammenhang
vorzutragen. Aber er hat ſich mehr durch Spitz-
fuͤndigkeit und Liſt, als durch Genie herausgehol-
fen. Dieſe Kuͤhnheit des Genies zeiget ſich auch
in der Bankunſt, da große Meiſter unmoͤglich ſchei-
nende Dinge gluͤklich ausfuͤhren. So war es ein
kuͤhnes Unternehmen des Fontana den bekannten
Obeliskus unter Papſt Sixtus dem V. aufzurichten.
Kuͤhnheit des Urtheils zeiget ſich in gluͤklicher
Behauptung großer, aber allen Anſchein gegen ſich
habender Wahrheiten; wovon uns Rouſſeau ſo man-
ches Beyſpiel gegeben hat. Daher entſtehen alſo
kuͤhne Gedanken, dergleichen wir bey Pope und
Haller nicht ſelten antreffen.
Kuͤhnheit des Herzens zeiget ſich in edler Zuver-
ſicht auf die Staͤrke ſeiner Geſinnungen und Be-
gehrungskraͤfte. So zeigte Themiſtokles die hoͤchſte
Kuͤhnheit, daß er zu der Zeit, da Xerxes einen Preis
auf ſeinen Kopf geſetzt hatte, ſich an den Perſiſchen Hof
zu begeben und ſeine eigene Perſon ſeinem aͤrgſten Feind
in die Haͤnde zu liefern wagte. Von dieſer Kuͤhn-
heit des Herzens ſind tauſend Beyſpiele in der Jlias,
in den Trauerſpielen des Aeſchylus, im verlohrnen
Paradies, in dem Meßias, und in Shakeſpears
Trauerſpielen. Aus der Kuͤhnheit entſteht insge-
mein das Erhabene in Gedanken, in Geſinnungen
und in Handlungen. Mithin gehoͤrt es zu dem
wichtigſten aͤſthetiſchen Stoff.
Kuͤnſte; Schoͤne Kuͤnſte.
Der, welcher dieſen Kuͤnſten zuerſt den Namen
der ſchoͤnen Kuͤnſte gegeben hat, ſcheint eingeſehen
zu haben, daß ihr Weſen in der Einwebung des
Angenehmen in das Nuͤtzliche, oder in Verſchoͤne-
rung der Dinge beſtehe, die durch gemeine Kunſt
erfunden worden. Jn der That laͤßt ſich ihr ür-
ſprung am natuͤrlichſten aus dem Hang, Dinge,
die wir taͤglich brauchen, zu verſchoͤnern, begreifen.
Man hat Gebaͤude gehabt, die blos nuͤtzlich waren,
und eine Sprache zum nothduͤrftigen Gebrauche, ehe
man daran dachte, jene durch Ordnung und Symme-
trie, dieſe durch Wohlklang angenehmer zu machen.
Alſo hat ein, feineren Seelen angebohrner Trieb
zu ſanften Empfindungen, alle Kuͤnſte veranlaſſet.
Der Hirte, der zuerſt ſeinem Stok, oder Becher
eine ſchoͤne Form gegeben, oder Zierrathen daran
geſchnitzt hat, iſt der Erfinder der Bildhauerey; und
der Wilde, dem ein gluͤtlicheres Genie eingegeben
hat ſeine Huͤtte ordentlich einzurichten und ein
ſchikliches Verhaͤltniß der Theile daran zu beobach-
ten, hat die Baukunſt erfunden. Der ſich zuerſt
bemuͤhet hat, das, was er zu erzaͤhlen hatte, mit
Ordnung und Annehmlichkeit zu ſagen, iſt unter
ſeinem Volke der Urheber der Beredſamkeit.
Jn dieſer Verſchoͤnerung aller dem Menſchen
nothwendiger Dinge, und nicht in einer unbeſtimm-
ten Nachahmung der Natur, wie ſo vielfaͤltig ge-
lehret wird, iſt alſo auch das Weſen der ſchoͤnen
Kuͤnſte zu ſuchen.
Aus jenen ſchwachen in der Natur liegenden
Keimen hat der menſchliche Verſtand durch wohl
uͤberlegte Wartung nach und nach die ſchoͤnen
Kuͤnſte ſelbſt heraus getrieben, und zu fuͤrtreflichen,
mit den herrlichſten Fruͤchten prangenden Baͤumen,
gezogen. Es iſt mit den Kuͤnſten, wie mit allen
menſchlichen Erfindungen. Sie ſind oft ein Werk
des Zufalles und in ihrem erſten Anfange ſehr ge-
ringe; aber durch allmaͤhlige Bearbeitung bekom-
men ſie eine Nutzbarkeit, die ſie hoͤchſt wichtig macht.
Die
Zweyter Theil. H h h h
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 609. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/44>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.