Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.[Spaltenumbruch] Sat eine ernsthafte, oder spöttische Weise, aber mit be-lustigendem Wiz und Laune gerüget, und den Men- schen zu ihrer Beschämung und in der Absicht sie zu bessern, vorgehalten werden. Wir schließen von der Satire aus die schimpflichen oder spöttischen An- fälle auf einzele Personen, oder Stände die blos von persönlicher Feindschaft herrühren, und Privat- rache zum Grund haben. Wir sehen auch nicht, daß die so genannten Silli der Griechen, die eigent- liche Schmäh- und Rachgedichte waren, die beißen- den Jamben des Archilochus, (*) die Oden des Ho- raz, darin er eine Canidia, oder andre Personen feindseelig anfällt, oder endlich die spöttischen Sinn- gedichte, wodurch Martial sich an manchem Feind rächet, unter die Satiren wären gezählt worden. Auch ist hier überhaupt zu erinnern, daß die Sa- Aber es ist Zeit, daß wir diese Nebenbetrach- Hier merken wir zufoderst an, daß ihr Stoff eine Sat tiren geben, die Thorheiten, oder Laster einzelerMenschen, deren Würkung keinen merklichen Ein- flus auf die Gesellschaft hat, zum Gegenstand näh- men. Sie dienen zwar zur Belustigung und kön- nen unter Werken, die blos Scherz und Ergözung zum Zwek haben, und die wizige Köpfe, wie Horaz sagt, in voller Muße zum Spiehl vornehmen (*), mit gehen. Hiezu aber rechnen wir die nicht, die unter einer gewissen Gattung Menschen allgemein gewordene Thorheiten, an einzeln Menschen durch- ziehen, von welcher Art Horazens Schwäzer ist (**). Denn da geht die Satire auf die ganze Gattung, und bekommt dadurch ihre Wichtigkeit. Auch würden wir unter die unbeträchtlichen Satiren, die rechnen, deren Jnhalt außer der Sphäre der Leser, für welche man arbeitet, liegt, als Thorheiten des ganz nie- drigen Pöbels, der nicht liest; oder wenn izt je- mand nach Lucianischer Art, auf die griechische Göt- terlehre Satiren schreiben wollte. Diese und die vorhergehende Art mag man immer Satiren nen- nen: wir zählen sie in die Classe der bloß scherzhaf- ten Werke, deren einziger Zwek ist, zu belustigen. Der Endzwek der Satire ist dem Uebel, das sie Wegen dieses Endzweks gehöret also die Satire ser- (*) S. Archilo- chus. (*) Canta- mus vacui. Od. I. 6. Vacui sub umbra lu- simus. Od. I. 32. (**) Sat. L. I. 9. (*) S. Lächerlich- am Eude des Arti- kels. H h h h h h 2
[Spaltenumbruch] Sat eine ernſthafte, oder ſpoͤttiſche Weiſe, aber mit be-luſtigendem Wiz und Laune geruͤget, und den Men- ſchen zu ihrer Beſchaͤmung und in der Abſicht ſie zu beſſern, vorgehalten werden. Wir ſchließen von der Satire aus die ſchimpflichen oder ſpoͤttiſchen An- faͤlle auf einzele Perſonen, oder Staͤnde die blos von perſoͤnlicher Feindſchaft herruͤhren, und Privat- rache zum Grund haben. Wir ſehen auch nicht, daß die ſo genannten Silli der Griechen, die eigent- liche Schmaͤh- und Rachgedichte waren, die beißen- den Jamben des Archilochus, (*) die Oden des Ho- raz, darin er eine Canidia, oder andre Perſonen feindſeelig anfaͤllt, oder endlich die ſpoͤttiſchen Sinn- gedichte, wodurch Martial ſich an manchem Feind raͤchet, unter die Satiren waͤren gezaͤhlt worden. Auch iſt hier uͤberhaupt zu erinnern, daß die Sa- Aber es iſt Zeit, daß wir dieſe Nebenbetrach- Hier merken wir zufoderſt an, daß ihr Stoff eine Sat tiren geben, die Thorheiten, oder Laſter einzelerMenſchen, deren Wuͤrkung keinen merklichen Ein- flus auf die Geſellſchaft hat, zum Gegenſtand naͤh- men. Sie dienen zwar zur Beluſtigung und koͤn- nen unter Werken, die blos Scherz und Ergoͤzung zum Zwek haben, und die wizige Koͤpfe, wie Horaz ſagt, in voller Muße zum Spiehl vornehmen (*), mit gehen. Hiezu aber rechnen wir die nicht, die unter einer gewiſſen Gattung Menſchen allgemein gewordene Thorheiten, an einzeln Menſchen durch- ziehen, von welcher Art Horazens Schwaͤzer iſt (**). Denn da geht die Satire auf die ganze Gattung, und bekommt dadurch ihre Wichtigkeit. Auch wuͤrden wir unter die unbetraͤchtlichen Satiren, die rechnen, deren Jnhalt außer der Sphaͤre der Leſer, fuͤr welche man arbeitet, liegt, als Thorheiten des ganz nie- drigen Poͤbels, der nicht lieſt; oder wenn izt je- mand nach Lucianiſcher Art, auf die griechiſche Goͤt- terlehre Satiren ſchreiben wollte. Dieſe und die vorhergehende Art mag man immer Satiren nen- nen: wir zaͤhlen ſie in die Claſſe der bloß ſcherzhaf- ten Werke, deren einziger Zwek iſt, zu beluſtigen. Der Endzwek der Satire iſt dem Uebel, das ſie Wegen dieſes Endzweks gehoͤret alſo die Satire ſer- (*) S. Archilo- chus. (*) Canta- mus vacui. Od. I. 6. Vacui ſub umbra lu- ſimus. Od. I. 32. (**) Sat. L. I. 9. (*) S. Laͤcherlich- am Eude des Arti- kels. H h h h h h 2
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Sat
Sat
eine ernſthafte, oder ſpoͤttiſche Weiſe, aber mit be-
luſtigendem Wiz und Laune geruͤget, und den Men-
ſchen zu ihrer Beſchaͤmung und in der Abſicht ſie
zu beſſern, vorgehalten werden. Wir ſchließen von
der Satire aus die ſchimpflichen oder ſpoͤttiſchen An-
faͤlle auf einzele Perſonen, oder Staͤnde die blos
von perſoͤnlicher Feindſchaft herruͤhren, und Privat-
rache zum Grund haben. Wir ſehen auch nicht,
daß die ſo genannten Silli der Griechen, die eigent-
liche Schmaͤh- und Rachgedichte waren, die beißen-
den Jamben des Archilochus, (*) die Oden des Ho-
raz, darin er eine Canidia, oder andre Perſonen
feindſeelig anfaͤllt, oder endlich die ſpoͤttiſchen Sinn-
gedichte, wodurch Martial ſich an manchem Feind
raͤchet, unter die Satiren waͤren gezaͤhlt worden.
Auch iſt hier uͤberhaupt zu erinnern, daß die Sa-
tire nicht, wie die meiſten andern Werke redender
Kuͤnſte, ihre eigene Form habe. Sie zeiget ſich in
Geſtalt eines Geſpraͤchs, eines Briefes, einer Er-
zaͤhlung, einer Geſchicht, einer Epopoͤe, eines Dra-
ma, und ſo gar eines Liedes. Molieres Tartuͤffe,
des Cervantes Don Quixote, Swifts Maͤhrchen von
der Tonne u. ſ. w. ſind wahre Satiren. Jndeſſen
hat der Gebrauch es eingefuͤhrt, daß man den Tar-
tuͤffe eine Comoͤdie, den Don Quixotte einen Roman
und andre Satiren nach ihrer Form und nicht nach
ihrem Jnhalte nennt. Jzt eignet man durchgehends
den Namen Satire kleinern ſatiriſchen Stuͤken zu,
die ihrer Form nach zu keiner der gewoͤhnlichen claßi-
ſchen Art der Werke des Geſchmaks gehoͤren.
Aber es iſt Zeit, daß wir dieſe Nebenbetrach-
tungen abbrechen, und den Charakter der Satire
naͤher zu entwikeln ſuchen.
Hier merken wir zufoderſt an, daß ihr Stoff eine
herrſchende Abweichung von Vernunft, Geſchmak,
Tugend, von guter Lebensart, oder endlich von anſtaͤn-
digen Sitten ſey, die zugleich Wichtigkeit genug habe,
um oͤffentlich geruͤget zu werden, damit die Men-
ſchen dafuͤr verwahret, oder, die, welche davon
angeſtekt ſind, davon abgebracht werden. Wir
fodern, daß dieſe Abweichungen herrſchend ſeyen;
dann ein einziges, oder ſelten wieder kommendes
Verſehen gegen Vernunft, Geſchmak, Sitten u. ſ. f.
wird keinen vernuͤnftigen Menſchen veranlaſſen, eine
Satire dagegen zu ſchreiben. Aber eingewurzeltes
Uebel, oder ein ſolches, das uͤberhand zu nehmen
drohet, iſt dieſer Bemuͤhung ſchon werth. Wir
wuͤrden auch unſern Beyfall nicht gern ſolchen Sa-
tiren geben, die Thorheiten, oder Laſter einzeler
Menſchen, deren Wuͤrkung keinen merklichen Ein-
flus auf die Geſellſchaft hat, zum Gegenſtand naͤh-
men. Sie dienen zwar zur Beluſtigung und koͤn-
nen unter Werken, die blos Scherz und Ergoͤzung
zum Zwek haben, und die wizige Koͤpfe, wie Horaz
ſagt, in voller Muße zum Spiehl vornehmen (*),
mit gehen. Hiezu aber rechnen wir die nicht, die
unter einer gewiſſen Gattung Menſchen allgemein
gewordene Thorheiten, an einzeln Menſchen durch-
ziehen, von welcher Art Horazens Schwaͤzer iſt (**).
Denn da geht die Satire auf die ganze Gattung, und
bekommt dadurch ihre Wichtigkeit. Auch wuͤrden
wir unter die unbetraͤchtlichen Satiren, die rechnen,
deren Jnhalt außer der Sphaͤre der Leſer, fuͤr welche
man arbeitet, liegt, als Thorheiten des ganz nie-
drigen Poͤbels, der nicht lieſt; oder wenn izt je-
mand nach Lucianiſcher Art, auf die griechiſche Goͤt-
terlehre Satiren ſchreiben wollte. Dieſe und die
vorhergehende Art mag man immer Satiren nen-
nen: wir zaͤhlen ſie in die Claſſe der bloß ſcherzhaf-
ten Werke, deren einziger Zwek iſt, zu beluſtigen.
Der Endzwek der Satire iſt dem Uebel, das ſie
zum Jnhalt gewaͤhlt hat, zu ſteuren, es zu ver-
bannen, oder wenigſtens ſich dem weitern Einreiſſen
deſſelben zu wiederſezen, und die Menſchen davon
abzuſchreken. Denn Privathaß, oder Groll macht
die Satire einigermaaßen zum Pasquill. Vielleicht
moͤchte der Fall hievon auszunehmen ſeyn, da man
aus patriotiſcher Feindſchaft gegen große Boͤſewichte,
kein anderes Mittel hat, das Publicum an ihnen zu
raͤchen, als ſie der allgemeinen Verachtung oder dem
Spott Preis zu geben (*). Aber wir ſprechen hier
uͤberhaupt und nicht von ganz einzelen Faͤllen.
Wegen dieſes Endzweks gehoͤret alſo die Satire
unter die wichtigſten Werke des Geſchmaks, und
man wuͤrde ihr ſehr unrecht thun, ſie blos in die
Claſſe der ſcherzhaften und beluſtigenden Werke zu-
ſtellen, denen ſie unendlich vorzuziehen iſt. Die
wahre und wolausgefuͤhrte Satire iſt ein hoͤchſtſchaͤz-
bares Werk. Jede im Verſtand, Geſchmak oder
dem ſittlichen Gefuͤhl herrſchende Unordnung, die ſich
unter einem Volke, oder unter ganzen Staͤnden
ausbreitet, iſt ein wichtiges Uebel, ofte viel wichti-
ger, als eine blos voruͤbergehende Noth, wodurch
die Menſchen nur eine Zeitlang ihrer Beduͤrfniſſe hal-
ber in Kummer und Leiden verſezt werden. Wie
wichtig man ſich auch immer gewiſſe, auf das aͤuſ-
ſer-
(*) S.
Archilo-
chus.
(*) Canta-
mus vacui.
Od. I. 6.
Vacui ſub
umbra lu-
ſimus. Od.
I. 32.
(**) Sat.
L. I. 9.
(*) S.
Laͤcherlich-
am Eude
des Arti-
kels.
H h h h h h 2
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