Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

Bild:
<< vorherige Seite

[Spaltenumbruch]

Sat
eine ernsthafte, oder spöttische Weise, aber mit be-
lustigendem Wiz und Laune gerüget, und den Men-
schen zu ihrer Beschämung und in der Absicht sie
zu bessern, vorgehalten werden. Wir schließen von
der Satire aus die schimpflichen oder spöttischen An-
fälle auf einzele Personen, oder Stände die blos
von persönlicher Feindschaft herrühren, und Privat-
rache zum Grund haben. Wir sehen auch nicht,
daß die so genannten Silli der Griechen, die eigent-
liche Schmäh- und Rachgedichte waren, die beißen-
den Jamben des Archilochus, (*) die Oden des Ho-
raz, darin er eine Canidia, oder andre Personen
feindseelig anfällt, oder endlich die spöttischen Sinn-
gedichte, wodurch Martial sich an manchem Feind
rächet, unter die Satiren wären gezählt worden.

Auch ist hier überhaupt zu erinnern, daß die Sa-
tire nicht, wie die meisten andern Werke redender
Künste, ihre eigene Form habe. Sie zeiget sich in
Gestalt eines Gesprächs, eines Briefes, einer Er-
zählung, einer Geschicht, einer Epopöe, eines Dra-
ma, und so gar eines Liedes. Molieres Tartüffe,
des Cervantes Don Quixote, Swifts Mährchen von
der Tonne u. s. w. sind wahre Satiren. Jndessen
hat der Gebrauch es eingeführt, daß man den Tar-
tüffe eine Comödie, den Don Quixotte einen Roman
und andre Satiren nach ihrer Form und nicht nach
ihrem Jnhalte nennt. Jzt eignet man durchgehends
den Namen Satire kleinern satirischen Stüken zu,
die ihrer Form nach zu keiner der gewöhnlichen claßi-
schen Art der Werke des Geschmaks gehören.

Aber es ist Zeit, daß wir diese Nebenbetrach-
tungen abbrechen, und den Charakter der Satire
näher zu entwikeln suchen.

Hier merken wir zufoderst an, daß ihr Stoff eine
herrschende Abweichung von Vernunft, Geschmak,
Tugend, von guter Lebensart, oder endlich von anstän-
digen Sitten sey, die zugleich Wichtigkeit genug habe,
um öffentlich gerüget zu werden, damit die Men-
schen dafür verwahret, oder, die, welche davon
angestekt sind, davon abgebracht werden. Wir
fodern, daß diese Abweichungen herrschend seyen;
dann ein einziges, oder selten wieder kommendes
Versehen gegen Vernunft, Geschmak, Sitten u. s. f.
wird keinen vernünftigen Menschen veranlassen, eine
Satire dagegen zu schreiben. Aber eingewurzeltes
Uebel, oder ein solches, das überhand zu nehmen
drohet, ist dieser Bemühung schon werth. Wir
würden auch unsern Beyfall nicht gern solchen Sa-
[Spaltenumbruch]

Sat
tiren geben, die Thorheiten, oder Laster einzeler
Menschen, deren Würkung keinen merklichen Ein-
flus auf die Gesellschaft hat, zum Gegenstand näh-
men. Sie dienen zwar zur Belustigung und kön-
nen unter Werken, die blos Scherz und Ergözung
zum Zwek haben, und die wizige Köpfe, wie Horaz
sagt, in voller Muße zum Spiehl vornehmen (*),
mit gehen. Hiezu aber rechnen wir die nicht, die
unter einer gewissen Gattung Menschen allgemein
gewordene Thorheiten, an einzeln Menschen durch-
ziehen, von welcher Art Horazens Schwäzer ist (**).
Denn da geht die Satire auf die ganze Gattung, und
bekommt dadurch ihre Wichtigkeit. Auch würden
wir unter die unbeträchtlichen Satiren, die rechnen,
deren Jnhalt außer der Sphäre der Leser, für welche
man arbeitet, liegt, als Thorheiten des ganz nie-
drigen Pöbels, der nicht liest; oder wenn izt je-
mand nach Lucianischer Art, auf die griechische Göt-
terlehre Satiren schreiben wollte. Diese und die
vorhergehende Art mag man immer Satiren nen-
nen: wir zählen sie in die Classe der bloß scherzhaf-
ten Werke, deren einziger Zwek ist, zu belustigen.

Der Endzwek der Satire ist dem Uebel, das sie
zum Jnhalt gewählt hat, zu steuren, es zu ver-
bannen, oder wenigstens sich dem weitern Einreissen
desselben zu wiedersezen, und die Menschen davon
abzuschreken. Denn Privathaß, oder Groll macht
die Satire einigermaaßen zum Pasquill. Vielleicht
möchte der Fall hievon auszunehmen seyn, da man
aus patriotischer Feindschaft gegen große Bösewichte,
kein anderes Mittel hat, das Publicum an ihnen zu
rächen, als sie der allgemeinen Verachtung oder dem
Spott Preis zu geben (*). Aber wir sprechen hier
überhaupt und nicht von ganz einzelen Fällen.

Wegen dieses Endzweks gehöret also die Satire
unter die wichtigsten Werke des Geschmaks, und
man würde ihr sehr unrecht thun, sie blos in die
Classe der scherzhaften und belustigenden Werke zu-
stellen, denen sie unendlich vorzuziehen ist. Die
wahre und wolausgeführte Satire ist ein höchstschäz-
bares Werk. Jede im Verstand, Geschmak oder
dem sittlichen Gefühl herrschende Unordnung, die sich
unter einem Volke, oder unter ganzen Ständen
ausbreitet, ist ein wichtiges Uebel, ofte viel wichti-
ger, als eine blos vorübergehende Noth, wodurch
die Menschen nur eine Zeitlang ihrer Bedürfnisse hal-
ber in Kummer und Leiden versezt werden. Wie
wichtig man sich auch immer gewisse, auf das äus-

ser-
(*) S.
Archilo-
chus.
(*) Canta-
mus vacui.
Od. I. 6.
Vacui sub
umbra lu-
simus. Od.
I.
32.
(**) Sat.
L. I.
9.
(*) S.
Lächerlich-
am Eude
des Arti-
kels.
H h h h h h 2

[Spaltenumbruch]

Sat
eine ernſthafte, oder ſpoͤttiſche Weiſe, aber mit be-
luſtigendem Wiz und Laune geruͤget, und den Men-
ſchen zu ihrer Beſchaͤmung und in der Abſicht ſie
zu beſſern, vorgehalten werden. Wir ſchließen von
der Satire aus die ſchimpflichen oder ſpoͤttiſchen An-
faͤlle auf einzele Perſonen, oder Staͤnde die blos
von perſoͤnlicher Feindſchaft herruͤhren, und Privat-
rache zum Grund haben. Wir ſehen auch nicht,
daß die ſo genannten Silli der Griechen, die eigent-
liche Schmaͤh- und Rachgedichte waren, die beißen-
den Jamben des Archilochus, (*) die Oden des Ho-
raz, darin er eine Canidia, oder andre Perſonen
feindſeelig anfaͤllt, oder endlich die ſpoͤttiſchen Sinn-
gedichte, wodurch Martial ſich an manchem Feind
raͤchet, unter die Satiren waͤren gezaͤhlt worden.

Auch iſt hier uͤberhaupt zu erinnern, daß die Sa-
tire nicht, wie die meiſten andern Werke redender
Kuͤnſte, ihre eigene Form habe. Sie zeiget ſich in
Geſtalt eines Geſpraͤchs, eines Briefes, einer Er-
zaͤhlung, einer Geſchicht, einer Epopoͤe, eines Dra-
ma, und ſo gar eines Liedes. Molieres Tartuͤffe,
des Cervantes Don Quixote, Swifts Maͤhrchen von
der Tonne u. ſ. w. ſind wahre Satiren. Jndeſſen
hat der Gebrauch es eingefuͤhrt, daß man den Tar-
tuͤffe eine Comoͤdie, den Don Quixotte einen Roman
und andre Satiren nach ihrer Form und nicht nach
ihrem Jnhalte nennt. Jzt eignet man durchgehends
den Namen Satire kleinern ſatiriſchen Stuͤken zu,
die ihrer Form nach zu keiner der gewoͤhnlichen claßi-
ſchen Art der Werke des Geſchmaks gehoͤren.

Aber es iſt Zeit, daß wir dieſe Nebenbetrach-
tungen abbrechen, und den Charakter der Satire
naͤher zu entwikeln ſuchen.

Hier merken wir zufoderſt an, daß ihr Stoff eine
herrſchende Abweichung von Vernunft, Geſchmak,
Tugend, von guter Lebensart, oder endlich von anſtaͤn-
digen Sitten ſey, die zugleich Wichtigkeit genug habe,
um oͤffentlich geruͤget zu werden, damit die Men-
ſchen dafuͤr verwahret, oder, die, welche davon
angeſtekt ſind, davon abgebracht werden. Wir
fodern, daß dieſe Abweichungen herrſchend ſeyen;
dann ein einziges, oder ſelten wieder kommendes
Verſehen gegen Vernunft, Geſchmak, Sitten u. ſ. f.
wird keinen vernuͤnftigen Menſchen veranlaſſen, eine
Satire dagegen zu ſchreiben. Aber eingewurzeltes
Uebel, oder ein ſolches, das uͤberhand zu nehmen
drohet, iſt dieſer Bemuͤhung ſchon werth. Wir
wuͤrden auch unſern Beyfall nicht gern ſolchen Sa-
[Spaltenumbruch]

Sat
tiren geben, die Thorheiten, oder Laſter einzeler
Menſchen, deren Wuͤrkung keinen merklichen Ein-
flus auf die Geſellſchaft hat, zum Gegenſtand naͤh-
men. Sie dienen zwar zur Beluſtigung und koͤn-
nen unter Werken, die blos Scherz und Ergoͤzung
zum Zwek haben, und die wizige Koͤpfe, wie Horaz
ſagt, in voller Muße zum Spiehl vornehmen (*),
mit gehen. Hiezu aber rechnen wir die nicht, die
unter einer gewiſſen Gattung Menſchen allgemein
gewordene Thorheiten, an einzeln Menſchen durch-
ziehen, von welcher Art Horazens Schwaͤzer iſt (**).
Denn da geht die Satire auf die ganze Gattung, und
bekommt dadurch ihre Wichtigkeit. Auch wuͤrden
wir unter die unbetraͤchtlichen Satiren, die rechnen,
deren Jnhalt außer der Sphaͤre der Leſer, fuͤr welche
man arbeitet, liegt, als Thorheiten des ganz nie-
drigen Poͤbels, der nicht lieſt; oder wenn izt je-
mand nach Lucianiſcher Art, auf die griechiſche Goͤt-
terlehre Satiren ſchreiben wollte. Dieſe und die
vorhergehende Art mag man immer Satiren nen-
nen: wir zaͤhlen ſie in die Claſſe der bloß ſcherzhaf-
ten Werke, deren einziger Zwek iſt, zu beluſtigen.

Der Endzwek der Satire iſt dem Uebel, das ſie
zum Jnhalt gewaͤhlt hat, zu ſteuren, es zu ver-
bannen, oder wenigſtens ſich dem weitern Einreiſſen
deſſelben zu wiederſezen, und die Menſchen davon
abzuſchreken. Denn Privathaß, oder Groll macht
die Satire einigermaaßen zum Pasquill. Vielleicht
moͤchte der Fall hievon auszunehmen ſeyn, da man
aus patriotiſcher Feindſchaft gegen große Boͤſewichte,
kein anderes Mittel hat, das Publicum an ihnen zu
raͤchen, als ſie der allgemeinen Verachtung oder dem
Spott Preis zu geben (*). Aber wir ſprechen hier
uͤberhaupt und nicht von ganz einzelen Faͤllen.

Wegen dieſes Endzweks gehoͤret alſo die Satire
unter die wichtigſten Werke des Geſchmaks, und
man wuͤrde ihr ſehr unrecht thun, ſie blos in die
Claſſe der ſcherzhaften und beluſtigenden Werke zu-
ſtellen, denen ſie unendlich vorzuziehen iſt. Die
wahre und wolausgefuͤhrte Satire iſt ein hoͤchſtſchaͤz-
bares Werk. Jede im Verſtand, Geſchmak oder
dem ſittlichen Gefuͤhl herrſchende Unordnung, die ſich
unter einem Volke, oder unter ganzen Staͤnden
ausbreitet, iſt ein wichtiges Uebel, ofte viel wichti-
ger, als eine blos voruͤbergehende Noth, wodurch
die Menſchen nur eine Zeitlang ihrer Beduͤrfniſſe hal-
ber in Kummer und Leiden verſezt werden. Wie
wichtig man ſich auch immer gewiſſe, auf das aͤuſ-

ſer-
(*) S.
Archilo-
chus.
(*) Canta-
mus vacui.
Od. I. 6.
Vacui ſub
umbra lu-
ſimus. Od.
I.
32.
(**) Sat.
L. I.
9.
(*) S.
Laͤcherlich-
am Eude
des Arti-
kels.
H h h h h h 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0426" n="997[979]"/><cb/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Sat</hi></fw><lb/>
eine ern&#x017F;thafte, oder &#x017F;po&#x0364;tti&#x017F;che Wei&#x017F;e, aber mit be-<lb/>
lu&#x017F;tigendem Wiz und Laune geru&#x0364;get, und den Men-<lb/>
&#x017F;chen zu ihrer Be&#x017F;cha&#x0364;mung und in der Ab&#x017F;icht &#x017F;ie<lb/>
zu be&#x017F;&#x017F;ern, vorgehalten werden. Wir &#x017F;chließen von<lb/>
der Satire aus die &#x017F;chimpflichen oder &#x017F;po&#x0364;tti&#x017F;chen An-<lb/>
fa&#x0364;lle auf einzele Per&#x017F;onen, oder Sta&#x0364;nde die blos<lb/>
von per&#x017F;o&#x0364;nlicher Feind&#x017F;chaft herru&#x0364;hren, und Privat-<lb/>
rache zum Grund haben. Wir &#x017F;ehen auch nicht,<lb/>
daß die &#x017F;o genannten <hi rendition="#fr">Silli</hi> der Griechen, die eigent-<lb/>
liche Schma&#x0364;h- und Rachgedichte waren, die beißen-<lb/>
den Jamben des Archilochus, <note place="foot" n="(*)">S.<lb/>
Archilo-<lb/>
chus.</note> die Oden des Ho-<lb/>
raz, darin er eine Canidia, oder andre Per&#x017F;onen<lb/>
feind&#x017F;eelig anfa&#x0364;llt, oder endlich die &#x017F;po&#x0364;tti&#x017F;chen Sinn-<lb/>
gedichte, wodurch Martial &#x017F;ich an manchem Feind<lb/>
ra&#x0364;chet, unter die Satiren wa&#x0364;ren geza&#x0364;hlt worden.</p><lb/>
          <p>Auch i&#x017F;t hier u&#x0364;berhaupt zu erinnern, daß die Sa-<lb/>
tire nicht, wie die mei&#x017F;ten andern Werke redender<lb/>
Ku&#x0364;n&#x017F;te, ihre eigene Form habe. Sie zeiget &#x017F;ich in<lb/>
Ge&#x017F;talt eines Ge&#x017F;pra&#x0364;chs, eines Briefes, einer Er-<lb/>
za&#x0364;hlung, einer Ge&#x017F;chicht, einer Epopo&#x0364;e, eines Dra-<lb/>
ma, und &#x017F;o gar eines Liedes. Molieres Tartu&#x0364;ffe,<lb/>
des Cervantes Don Quixote, Swifts Ma&#x0364;hrchen von<lb/>
der Tonne u. &#x017F;. w. &#x017F;ind wahre Satiren. Jnde&#x017F;&#x017F;en<lb/>
hat der Gebrauch es eingefu&#x0364;hrt, daß man den Tar-<lb/>
tu&#x0364;ffe eine Como&#x0364;die, den Don Quixotte einen Roman<lb/>
und andre Satiren nach ihrer Form und nicht nach<lb/>
ihrem Jnhalte nennt. Jzt eignet man durchgehends<lb/>
den Namen Satire kleinern &#x017F;atiri&#x017F;chen Stu&#x0364;ken zu,<lb/>
die ihrer Form nach zu keiner der gewo&#x0364;hnlichen claßi-<lb/>
&#x017F;chen Art der Werke des Ge&#x017F;chmaks geho&#x0364;ren.</p><lb/>
          <p>Aber es i&#x017F;t Zeit, daß wir die&#x017F;e Nebenbetrach-<lb/>
tungen abbrechen, und den Charakter der Satire<lb/>
na&#x0364;her zu entwikeln &#x017F;uchen.</p><lb/>
          <p>Hier merken wir zufoder&#x017F;t an, daß ihr Stoff eine<lb/>
herr&#x017F;chende Abweichung von Vernunft, Ge&#x017F;chmak,<lb/>
Tugend, von guter Lebensart, oder endlich von an&#x017F;ta&#x0364;n-<lb/>
digen Sitten &#x017F;ey, die zugleich Wichtigkeit genug habe,<lb/>
um o&#x0364;ffentlich geru&#x0364;get zu werden, damit die Men-<lb/>
&#x017F;chen dafu&#x0364;r verwahret, oder, die, welche davon<lb/>
ange&#x017F;tekt &#x017F;ind, davon abgebracht werden. Wir<lb/>
fodern, daß die&#x017F;e Abweichungen herr&#x017F;chend &#x017F;eyen;<lb/>
dann ein einziges, oder &#x017F;elten wieder kommendes<lb/>
Ver&#x017F;ehen gegen Vernunft, Ge&#x017F;chmak, Sitten u. &#x017F;. f.<lb/>
wird keinen vernu&#x0364;nftigen Men&#x017F;chen veranla&#x017F;&#x017F;en, eine<lb/>
Satire dagegen zu &#x017F;chreiben. Aber eingewurzeltes<lb/>
Uebel, oder ein &#x017F;olches, das u&#x0364;berhand zu nehmen<lb/>
drohet, i&#x017F;t die&#x017F;er Bemu&#x0364;hung &#x017F;chon werth. Wir<lb/>
wu&#x0364;rden auch un&#x017F;ern Beyfall nicht gern &#x017F;olchen Sa-<lb/><cb/>
<fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Sat</hi></fw><lb/>
tiren geben, die Thorheiten, oder La&#x017F;ter einzeler<lb/>
Men&#x017F;chen, deren Wu&#x0364;rkung keinen merklichen Ein-<lb/>
flus auf die Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft hat, zum Gegen&#x017F;tand na&#x0364;h-<lb/>
men. Sie dienen zwar zur Belu&#x017F;tigung und ko&#x0364;n-<lb/>
nen unter Werken, die blos Scherz und Ergo&#x0364;zung<lb/>
zum Zwek haben, und die wizige Ko&#x0364;pfe, wie Horaz<lb/>
&#x017F;agt, in voller Muße zum Spiehl vornehmen <note place="foot" n="(*)"><hi rendition="#aq">Canta-<lb/>
mus vacui.<lb/>
Od. I. 6.<lb/>
Vacui &#x017F;ub<lb/>
umbra lu-<lb/>
&#x017F;imus. Od.<lb/>
I.</hi> 32.</note>,<lb/>
mit gehen. Hiezu aber rechnen wir die nicht, die<lb/>
unter einer gewi&#x017F;&#x017F;en Gattung Men&#x017F;chen allgemein<lb/>
gewordene Thorheiten, an einzeln Men&#x017F;chen durch-<lb/>
ziehen, von welcher Art Horazens Schwa&#x0364;zer i&#x017F;t <note place="foot" n="(**)"><hi rendition="#aq">Sat.<lb/>
L. I.</hi> 9.</note>.<lb/>
Denn da geht die Satire auf die ganze Gattung, und<lb/>
bekommt dadurch ihre Wichtigkeit. Auch wu&#x0364;rden<lb/>
wir unter die unbetra&#x0364;chtlichen Satiren, die rechnen,<lb/>
deren Jnhalt außer der Spha&#x0364;re der Le&#x017F;er, fu&#x0364;r welche<lb/>
man arbeitet, liegt, als Thorheiten des ganz nie-<lb/>
drigen Po&#x0364;bels, der nicht lie&#x017F;t; oder wenn izt je-<lb/>
mand nach Luciani&#x017F;cher Art, auf die griechi&#x017F;che Go&#x0364;t-<lb/>
terlehre Satiren &#x017F;chreiben wollte. Die&#x017F;e und die<lb/>
vorhergehende Art mag man immer Satiren nen-<lb/>
nen: wir za&#x0364;hlen &#x017F;ie in die Cla&#x017F;&#x017F;e der bloß &#x017F;cherzhaf-<lb/>
ten Werke, deren einziger Zwek i&#x017F;t, zu belu&#x017F;tigen.</p><lb/>
          <p>Der Endzwek der Satire i&#x017F;t dem Uebel, das &#x017F;ie<lb/>
zum Jnhalt gewa&#x0364;hlt hat, zu &#x017F;teuren, es zu ver-<lb/>
bannen, oder wenig&#x017F;tens &#x017F;ich dem weitern Einrei&#x017F;&#x017F;en<lb/>
de&#x017F;&#x017F;elben zu wieder&#x017F;ezen, und die Men&#x017F;chen davon<lb/>
abzu&#x017F;chreken. Denn Privathaß, oder Groll macht<lb/>
die Satire einigermaaßen zum Pasquill. Vielleicht<lb/>
mo&#x0364;chte der Fall hievon auszunehmen &#x017F;eyn, da man<lb/>
aus patrioti&#x017F;cher Feind&#x017F;chaft gegen große Bo&#x0364;&#x017F;ewichte,<lb/>
kein anderes Mittel hat, das Publicum an ihnen zu<lb/>
ra&#x0364;chen, als &#x017F;ie der allgemeinen Verachtung oder dem<lb/>
Spott Preis zu geben <note place="foot" n="(*)">S.<lb/>
La&#x0364;cherlich-<lb/>
am Eude<lb/>
des Arti-<lb/>
kels.</note>. Aber wir &#x017F;prechen hier<lb/>
u&#x0364;berhaupt und nicht von ganz einzelen Fa&#x0364;llen.</p><lb/>
          <p>Wegen die&#x017F;es Endzweks geho&#x0364;ret al&#x017F;o die Satire<lb/>
unter die wichtig&#x017F;ten Werke des Ge&#x017F;chmaks, und<lb/>
man wu&#x0364;rde ihr &#x017F;ehr unrecht thun, &#x017F;ie blos in die<lb/>
Cla&#x017F;&#x017F;e der &#x017F;cherzhaften und belu&#x017F;tigenden Werke zu-<lb/>
&#x017F;tellen, denen &#x017F;ie unendlich vorzuziehen i&#x017F;t. Die<lb/>
wahre und wolausgefu&#x0364;hrte Satire i&#x017F;t ein ho&#x0364;ch&#x017F;t&#x017F;cha&#x0364;z-<lb/>
bares Werk. Jede im Ver&#x017F;tand, Ge&#x017F;chmak oder<lb/>
dem &#x017F;ittlichen Gefu&#x0364;hl herr&#x017F;chende Unordnung, die &#x017F;ich<lb/>
unter einem Volke, oder unter ganzen Sta&#x0364;nden<lb/>
ausbreitet, i&#x017F;t ein wichtiges Uebel, ofte viel wichti-<lb/>
ger, als eine blos voru&#x0364;bergehende Noth, wodurch<lb/>
die Men&#x017F;chen nur eine Zeitlang ihrer Bedu&#x0364;rfni&#x017F;&#x017F;e hal-<lb/>
ber in Kummer und Leiden ver&#x017F;ezt werden. Wie<lb/>
wichtig man &#x017F;ich auch immer gewi&#x017F;&#x017F;e, auf das a&#x0364;u&#x017F;-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">H h h h h h 2</fw><fw place="bottom" type="catch">&#x017F;er-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[997[979]/0426] Sat Sat eine ernſthafte, oder ſpoͤttiſche Weiſe, aber mit be- luſtigendem Wiz und Laune geruͤget, und den Men- ſchen zu ihrer Beſchaͤmung und in der Abſicht ſie zu beſſern, vorgehalten werden. Wir ſchließen von der Satire aus die ſchimpflichen oder ſpoͤttiſchen An- faͤlle auf einzele Perſonen, oder Staͤnde die blos von perſoͤnlicher Feindſchaft herruͤhren, und Privat- rache zum Grund haben. Wir ſehen auch nicht, daß die ſo genannten Silli der Griechen, die eigent- liche Schmaͤh- und Rachgedichte waren, die beißen- den Jamben des Archilochus, (*) die Oden des Ho- raz, darin er eine Canidia, oder andre Perſonen feindſeelig anfaͤllt, oder endlich die ſpoͤttiſchen Sinn- gedichte, wodurch Martial ſich an manchem Feind raͤchet, unter die Satiren waͤren gezaͤhlt worden. Auch iſt hier uͤberhaupt zu erinnern, daß die Sa- tire nicht, wie die meiſten andern Werke redender Kuͤnſte, ihre eigene Form habe. Sie zeiget ſich in Geſtalt eines Geſpraͤchs, eines Briefes, einer Er- zaͤhlung, einer Geſchicht, einer Epopoͤe, eines Dra- ma, und ſo gar eines Liedes. Molieres Tartuͤffe, des Cervantes Don Quixote, Swifts Maͤhrchen von der Tonne u. ſ. w. ſind wahre Satiren. Jndeſſen hat der Gebrauch es eingefuͤhrt, daß man den Tar- tuͤffe eine Comoͤdie, den Don Quixotte einen Roman und andre Satiren nach ihrer Form und nicht nach ihrem Jnhalte nennt. Jzt eignet man durchgehends den Namen Satire kleinern ſatiriſchen Stuͤken zu, die ihrer Form nach zu keiner der gewoͤhnlichen claßi- ſchen Art der Werke des Geſchmaks gehoͤren. Aber es iſt Zeit, daß wir dieſe Nebenbetrach- tungen abbrechen, und den Charakter der Satire naͤher zu entwikeln ſuchen. Hier merken wir zufoderſt an, daß ihr Stoff eine herrſchende Abweichung von Vernunft, Geſchmak, Tugend, von guter Lebensart, oder endlich von anſtaͤn- digen Sitten ſey, die zugleich Wichtigkeit genug habe, um oͤffentlich geruͤget zu werden, damit die Men- ſchen dafuͤr verwahret, oder, die, welche davon angeſtekt ſind, davon abgebracht werden. Wir fodern, daß dieſe Abweichungen herrſchend ſeyen; dann ein einziges, oder ſelten wieder kommendes Verſehen gegen Vernunft, Geſchmak, Sitten u. ſ. f. wird keinen vernuͤnftigen Menſchen veranlaſſen, eine Satire dagegen zu ſchreiben. Aber eingewurzeltes Uebel, oder ein ſolches, das uͤberhand zu nehmen drohet, iſt dieſer Bemuͤhung ſchon werth. Wir wuͤrden auch unſern Beyfall nicht gern ſolchen Sa- tiren geben, die Thorheiten, oder Laſter einzeler Menſchen, deren Wuͤrkung keinen merklichen Ein- flus auf die Geſellſchaft hat, zum Gegenſtand naͤh- men. Sie dienen zwar zur Beluſtigung und koͤn- nen unter Werken, die blos Scherz und Ergoͤzung zum Zwek haben, und die wizige Koͤpfe, wie Horaz ſagt, in voller Muße zum Spiehl vornehmen (*), mit gehen. Hiezu aber rechnen wir die nicht, die unter einer gewiſſen Gattung Menſchen allgemein gewordene Thorheiten, an einzeln Menſchen durch- ziehen, von welcher Art Horazens Schwaͤzer iſt (**). Denn da geht die Satire auf die ganze Gattung, und bekommt dadurch ihre Wichtigkeit. Auch wuͤrden wir unter die unbetraͤchtlichen Satiren, die rechnen, deren Jnhalt außer der Sphaͤre der Leſer, fuͤr welche man arbeitet, liegt, als Thorheiten des ganz nie- drigen Poͤbels, der nicht lieſt; oder wenn izt je- mand nach Lucianiſcher Art, auf die griechiſche Goͤt- terlehre Satiren ſchreiben wollte. Dieſe und die vorhergehende Art mag man immer Satiren nen- nen: wir zaͤhlen ſie in die Claſſe der bloß ſcherzhaf- ten Werke, deren einziger Zwek iſt, zu beluſtigen. Der Endzwek der Satire iſt dem Uebel, das ſie zum Jnhalt gewaͤhlt hat, zu ſteuren, es zu ver- bannen, oder wenigſtens ſich dem weitern Einreiſſen deſſelben zu wiederſezen, und die Menſchen davon abzuſchreken. Denn Privathaß, oder Groll macht die Satire einigermaaßen zum Pasquill. Vielleicht moͤchte der Fall hievon auszunehmen ſeyn, da man aus patriotiſcher Feindſchaft gegen große Boͤſewichte, kein anderes Mittel hat, das Publicum an ihnen zu raͤchen, als ſie der allgemeinen Verachtung oder dem Spott Preis zu geben (*). Aber wir ſprechen hier uͤberhaupt und nicht von ganz einzelen Faͤllen. Wegen dieſes Endzweks gehoͤret alſo die Satire unter die wichtigſten Werke des Geſchmaks, und man wuͤrde ihr ſehr unrecht thun, ſie blos in die Claſſe der ſcherzhaften und beluſtigenden Werke zu- ſtellen, denen ſie unendlich vorzuziehen iſt. Die wahre und wolausgefuͤhrte Satire iſt ein hoͤchſtſchaͤz- bares Werk. Jede im Verſtand, Geſchmak oder dem ſittlichen Gefuͤhl herrſchende Unordnung, die ſich unter einem Volke, oder unter ganzen Staͤnden ausbreitet, iſt ein wichtiges Uebel, ofte viel wichti- ger, als eine blos voruͤbergehende Noth, wodurch die Menſchen nur eine Zeitlang ihrer Beduͤrfniſſe hal- ber in Kummer und Leiden verſezt werden. Wie wichtig man ſich auch immer gewiſſe, auf das aͤuſ- ſer- (*) S. Archilo- chus. (*) Canta- mus vacui. Od. I. 6. Vacui ſub umbra lu- ſimus. Od. I. 32. (**) Sat. L. I. 9. (*) S. Laͤcherlich- am Eude des Arti- kels. H h h h h h 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/426
Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 997[979]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/426>, abgerufen am 19.05.2024.