Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

Bild:
<< vorherige Seite

[Spaltenumbruch]

Rhy
Dieses sollte nach der rhythmischen Einrichtung der
Arie, woraus es genommen ist, ein Saz von vier
Takten seyn, und ohne die besondere Absicht, auf das
Wort Ombra eine feyerliche Traurigkeit zu legen,
würden die zwey ersten Takte nur einen, nämlich
[Abbildung] ausgemacht haben, und so hätte der Rhythmus seine
Regelmäßigkeit. Weil der Tonsezer hier besonders
nachdrüklich seyn wollte, hat er zwey Takte daraus
gemacht, damit die beyden ersten Sylben noch ein-
mal so langsam, und mit gleichem Accent könnten
ausgesprochen werden, welches hier von großen
Nachdruk ist, und der würde eine schwache Beurthei-
lung verrathen, der hier Graun eines Fehlers gegen
den Rhythmus beschuldigte, da er einen Saz von
fünf Takten, anstatt vieren, gemacht hat.

5. Jch will bey dieser Gelegenheit auch einer an-
dern scheinbaren Unregelmäßigkeit des Rhythmus
erwähnen, die ofte sehr angenehme Würkung thut.
Sie besteht darin, daß ein nicht zum Rhythmus ge-
höriger Takt, wo etwa die Singestimme einen Takt
pausirt, eingeschoben wird, da ein Jnstrument einen
vorhergehenden Ausdruk der Singestimme wieder-
holt, oder nachahmet, wie in folgendem Beyspiehl.

[Abbildung]

Hier ist ein Saz von vier Takten, der aber in der
Mitte einen merklichen Einschnitt hat, in dem die
singende Stimme pausirt, da inzwischen die Violin,
den leztvorhergehenden Takt wiederholt. Dieses ist
ein sehr mahlerischer Ausdruk, um das Horchen
einer durch süße Hofnung getäuschten Person, aus-
zudrüken. Der Saz bleibt darum doch nur von vier
Takten.

Wer in den Arien der größten Meister, eines Hän-
dels, Grauns, Hassens, dergleichen Jrregularitäten
aufsuchen will, wird daher einen schönen Vorrath
von Beyspiehlen ausserordentlicher Behandlungen des
Rhythmus antreffen, wodurch der Ausdruk oft auf
[Spaltenumbruch]

Rich
die glüklichste Art unterstüzt wird. Besonders würde
man da manchen fürtreflichen Kunstgriff antreffen,
wie ein Tonsezer von Gefühl, die Fehler, die der
Dichter etwa in Absicht auf den Rhythmus began-
gen hat, zu verdeken wisse.

Richtigkeit.
(Schöne Künste.)

Richtig nennt man eigentlich das, was ohne Feh-
ler ist; und hieraus erkennet man die Bedeutung
des Worts Richtigkeit. Eigentlich ist sie die Voll-
kommenheit in dem Mechanischen der Kunst. Eine
Rede hat Richtigkeit in Gedanken, wenn nichts Fal-
sches darin ist; im Ausdruk, wenn die Wörter ge-
rade das sagen, was sie sagen sollen, und wenn die
Regeln der Grammatik genau beobachtet worden.
Der Vers ist richtig, wenn nichts gegen die Prosodie
versehen ist; die Zeichnung, wenn sie die wahre Form
und die wahren Verhältnisse der Dinge angiebt. Ein
Tonstük ist im Saz richtig, wenn nichts gegen die
Regeln der Harmonie, des Takts und des Rhyth-
mus versehen worden.

Obgleich ein Werk des Geschmaks bey der genaue-
sten Richtigkeit höchst schwach und unbedeutend seyn
kann; so ist sie ihm doch nothwendig; weil jeder Feh-
ler dem, der ihn bemerkt, anstößig ist. Aber die
bloße Richtigkeit kann bisweilen schon Vergnügen
erweken, ob es gleich scheinet, daß sie nur vor Miß-
vergnügen verwahre. Man fühlet dieses sehr be-
stimmt in den Werken der blos mechanischen Künste,
wo es allemal Vergnügen macht, wenn ein Werk
vollkommen das ist, was es nach mechanischen Re-
geln seyn soll. Das Werk des Pfuschers ist nur
ohngefehr, wie es seyn sollte; das Runde ist nicht
in der höchsten Vollkommenheit rund; das was ir-
gendwo hineinpassen, oder sich wo anschließen soll,
paßt nnd schließt zwar, aber nur unvollkommen, ent-
weder mit Zwang, oder zu leicht. Das Werk eines
vollkommenen Meisters aber zeiget nirgend einigen
Mangel; was schließen soll, schließt genau; was
scharf seyn soll, ist höchst scharf u. s. w. Wer eini-
ges Gefühl von Vollkommenheit und Genanigkeit
hat, findet Vergnügen an einem solchem Werk; und
dieses Vergnügen entsteht daher, daß man überall
die Beobachtung der Regeln entdeket, daß man die
vollkommene Gleichheit des Werks mit dem Jdeal
desselben, was die Regeln bestimmen, bemerket.

Das

[Spaltenumbruch]

Rhy
Dieſes ſollte nach der rhythmiſchen Einrichtung der
Arie, woraus es genommen iſt, ein Saz von vier
Takten ſeyn, und ohne die beſondere Abſicht, auf das
Wort Ombra eine feyerliche Traurigkeit zu legen,
wuͤrden die zwey erſten Takte nur einen, naͤmlich
[Abbildung] ausgemacht haben, und ſo haͤtte der Rhythmus ſeine
Regelmaͤßigkeit. Weil der Tonſezer hier beſonders
nachdruͤklich ſeyn wollte, hat er zwey Takte daraus
gemacht, damit die beyden erſten Sylben noch ein-
mal ſo langſam, und mit gleichem Accent koͤnnten
ausgeſprochen werden, welches hier von großen
Nachdruk iſt, und der wuͤrde eine ſchwache Beurthei-
lung verrathen, der hier Graun eines Fehlers gegen
den Rhythmus beſchuldigte, da er einen Saz von
fuͤnf Takten, anſtatt vieren, gemacht hat.

5. Jch will bey dieſer Gelegenheit auch einer an-
dern ſcheinbaren Unregelmaͤßigkeit des Rhythmus
erwaͤhnen, die ofte ſehr angenehme Wuͤrkung thut.
Sie beſteht darin, daß ein nicht zum Rhythmus ge-
hoͤriger Takt, wo etwa die Singeſtimme einen Takt
pauſirt, eingeſchoben wird, da ein Jnſtrument einen
vorhergehenden Ausdruk der Singeſtimme wieder-
holt, oder nachahmet, wie in folgendem Beyſpiehl.

[Abbildung]

Hier iſt ein Saz von vier Takten, der aber in der
Mitte einen merklichen Einſchnitt hat, in dem die
ſingende Stimme pauſirt, da inzwiſchen die Violin,
den leztvorhergehenden Takt wiederholt. Dieſes iſt
ein ſehr mahleriſcher Ausdruk, um das Horchen
einer durch ſuͤße Hofnung getaͤuſchten Perſon, aus-
zudruͤken. Der Saz bleibt darum doch nur von vier
Takten.

Wer in den Arien der groͤßten Meiſter, eines Haͤn-
dels, Grauns, Haſſens, dergleichen Jrregularitaͤten
aufſuchen will, wird daher einen ſchoͤnen Vorrath
von Beyſpiehlen auſſerordentlicher Behandlungen des
Rhythmus antreffen, wodurch der Ausdruk oft auf
[Spaltenumbruch]

Rich
die gluͤklichſte Art unterſtuͤzt wird. Beſonders wuͤrde
man da manchen fuͤrtreflichen Kunſtgriff antreffen,
wie ein Tonſezer von Gefuͤhl, die Fehler, die der
Dichter etwa in Abſicht auf den Rhythmus began-
gen hat, zu verdeken wiſſe.

Richtigkeit.
(Schoͤne Kuͤnſte.)

Richtig nennt man eigentlich das, was ohne Feh-
ler iſt; und hieraus erkennet man die Bedeutung
des Worts Richtigkeit. Eigentlich iſt ſie die Voll-
kommenheit in dem Mechaniſchen der Kunſt. Eine
Rede hat Richtigkeit in Gedanken, wenn nichts Fal-
ſches darin iſt; im Ausdruk, wenn die Woͤrter ge-
rade das ſagen, was ſie ſagen ſollen, und wenn die
Regeln der Grammatik genau beobachtet worden.
Der Vers iſt richtig, wenn nichts gegen die Proſodie
verſehen iſt; die Zeichnung, wenn ſie die wahre Form
und die wahren Verhaͤltniſſe der Dinge angiebt. Ein
Tonſtuͤk iſt im Saz richtig, wenn nichts gegen die
Regeln der Harmonie, des Takts und des Rhyth-
mus verſehen worden.

Obgleich ein Werk des Geſchmaks bey der genaue-
ſten Richtigkeit hoͤchſt ſchwach und unbedeutend ſeyn
kann; ſo iſt ſie ihm doch nothwendig; weil jeder Feh-
ler dem, der ihn bemerkt, anſtoͤßig iſt. Aber die
bloße Richtigkeit kann bisweilen ſchon Vergnuͤgen
erweken, ob es gleich ſcheinet, daß ſie nur vor Miß-
vergnuͤgen verwahre. Man fuͤhlet dieſes ſehr be-
ſtimmt in den Werken der blos mechaniſchen Kuͤnſte,
wo es allemal Vergnuͤgen macht, wenn ein Werk
vollkommen das iſt, was es nach mechaniſchen Re-
geln ſeyn ſoll. Das Werk des Pfuſchers iſt nur
ohngefehr, wie es ſeyn ſollte; das Runde iſt nicht
in der hoͤchſten Vollkommenheit rund; das was ir-
gendwo hineinpaſſen, oder ſich wo anſchließen ſoll,
paßt nnd ſchließt zwar, aber nur unvollkommen, ent-
weder mit Zwang, oder zu leicht. Das Werk eines
vollkommenen Meiſters aber zeiget nirgend einigen
Mangel; was ſchließen ſoll, ſchließt genau; was
ſcharf ſeyn ſoll, iſt hoͤchſt ſcharf u. ſ. w. Wer eini-
ges Gefuͤhl von Vollkommenheit und Genanigkeit
hat, findet Vergnuͤgen an einem ſolchem Werk; und
dieſes Vergnuͤgen entſteht daher, daß man uͤberall
die Beobachtung der Regeln entdeket, daß man die
vollkommene Gleichheit des Werks mit dem Jdeal
deſſelben, was die Regeln beſtimmen, bemerket.

Das
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0414" n="985[967]"/><cb/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Rhy</hi></fw><lb/>
Die&#x017F;es &#x017F;ollte nach der rhythmi&#x017F;chen Einrichtung der<lb/>
Arie, woraus es genommen i&#x017F;t, ein Saz von vier<lb/>
Takten &#x017F;eyn, und ohne die be&#x017F;ondere Ab&#x017F;icht, auf das<lb/>
Wort <hi rendition="#aq">Ombra</hi> eine feyerliche Traurigkeit zu legen,<lb/>
wu&#x0364;rden die zwey er&#x017F;ten Takte nur einen, na&#x0364;mlich<lb/><figure/> ausgemacht haben, und &#x017F;o ha&#x0364;tte der Rhythmus &#x017F;eine<lb/>
Regelma&#x0364;ßigkeit. Weil der Ton&#x017F;ezer hier be&#x017F;onders<lb/>
nachdru&#x0364;klich &#x017F;eyn wollte, hat er zwey Takte daraus<lb/>
gemacht, damit die beyden er&#x017F;ten Sylben noch ein-<lb/>
mal &#x017F;o lang&#x017F;am, und mit gleichem Accent ko&#x0364;nnten<lb/>
ausge&#x017F;prochen werden, welches hier von großen<lb/>
Nachdruk i&#x017F;t, und der wu&#x0364;rde eine &#x017F;chwache Beurthei-<lb/>
lung verrathen, der hier Graun eines Fehlers gegen<lb/>
den Rhythmus be&#x017F;chuldigte, da er einen Saz von<lb/>
fu&#x0364;nf Takten, an&#x017F;tatt vieren, gemacht hat.</p><lb/>
          <p>5. Jch will bey die&#x017F;er Gelegenheit auch einer an-<lb/>
dern &#x017F;cheinbaren Unregelma&#x0364;ßigkeit des Rhythmus<lb/>
erwa&#x0364;hnen, die ofte &#x017F;ehr angenehme Wu&#x0364;rkung thut.<lb/>
Sie be&#x017F;teht darin, daß ein nicht zum Rhythmus ge-<lb/>
ho&#x0364;riger Takt, wo etwa die Singe&#x017F;timme einen Takt<lb/>
pau&#x017F;irt, einge&#x017F;choben wird, da ein Jn&#x017F;trument einen<lb/>
vorhergehenden Ausdruk der Singe&#x017F;timme wieder-<lb/>
holt, oder nachahmet, wie in folgendem Bey&#x017F;piehl.</p><lb/>
          <figure/>
          <p>Hier i&#x017F;t ein Saz von vier Takten, der aber in der<lb/>
Mitte einen merklichen Ein&#x017F;chnitt hat, in dem die<lb/>
&#x017F;ingende Stimme pau&#x017F;irt, da inzwi&#x017F;chen die Violin,<lb/>
den leztvorhergehenden Takt wiederholt. Die&#x017F;es i&#x017F;t<lb/>
ein &#x017F;ehr mahleri&#x017F;cher Ausdruk, um das Horchen<lb/>
einer durch &#x017F;u&#x0364;ße Hofnung geta&#x0364;u&#x017F;chten Per&#x017F;on, aus-<lb/>
zudru&#x0364;ken. Der Saz bleibt darum doch nur von vier<lb/>
Takten.</p><lb/>
          <p>Wer in den Arien der gro&#x0364;ßten Mei&#x017F;ter, eines Ha&#x0364;n-<lb/>
dels, Grauns, Ha&#x017F;&#x017F;ens, dergleichen Jrregularita&#x0364;ten<lb/>
auf&#x017F;uchen will, wird daher einen &#x017F;cho&#x0364;nen Vorrath<lb/>
von Bey&#x017F;piehlen au&#x017F;&#x017F;erordentlicher Behandlungen des<lb/>
Rhythmus antreffen, wodurch der Ausdruk oft auf<lb/><cb/>
<fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Rich</hi></fw><lb/>
die glu&#x0364;klich&#x017F;te Art unter&#x017F;tu&#x0364;zt wird. Be&#x017F;onders wu&#x0364;rde<lb/>
man da manchen fu&#x0364;rtreflichen Kun&#x017F;tgriff antreffen,<lb/>
wie ein Ton&#x017F;ezer von Gefu&#x0364;hl, die Fehler, die der<lb/>
Dichter etwa in Ab&#x017F;icht auf den Rhythmus began-<lb/>
gen hat, zu verdeken wi&#x017F;&#x017F;e.</p>
        </div><lb/>
        <div n="2">
          <head><hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Richtigkeit.</hi></hi><lb/>
(Scho&#x0364;ne Ku&#x0364;n&#x017F;te.)</head><lb/>
          <p><hi rendition="#in">R</hi>ichtig nennt man eigentlich das, was ohne Feh-<lb/>
ler i&#x017F;t; und hieraus erkennet man die Bedeutung<lb/>
des Worts Richtigkeit. Eigentlich i&#x017F;t &#x017F;ie die Voll-<lb/>
kommenheit in dem Mechani&#x017F;chen der Kun&#x017F;t. Eine<lb/>
Rede hat Richtigkeit in Gedanken, wenn nichts Fal-<lb/>
&#x017F;ches darin i&#x017F;t; im Ausdruk, wenn die Wo&#x0364;rter ge-<lb/>
rade das &#x017F;agen, was &#x017F;ie &#x017F;agen &#x017F;ollen, und wenn die<lb/>
Regeln der Grammatik genau beobachtet worden.<lb/>
Der Vers i&#x017F;t richtig, wenn nichts gegen die Pro&#x017F;odie<lb/>
ver&#x017F;ehen i&#x017F;t; die Zeichnung, wenn &#x017F;ie die wahre Form<lb/>
und die wahren Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e der Dinge angiebt. Ein<lb/>
Ton&#x017F;tu&#x0364;k i&#x017F;t im Saz richtig, wenn nichts gegen die<lb/>
Regeln der Harmonie, des Takts und des Rhyth-<lb/>
mus ver&#x017F;ehen worden.</p><lb/>
          <p>Obgleich ein Werk des Ge&#x017F;chmaks bey der genaue-<lb/>
&#x017F;ten Richtigkeit ho&#x0364;ch&#x017F;t &#x017F;chwach und unbedeutend &#x017F;eyn<lb/>
kann; &#x017F;o i&#x017F;t &#x017F;ie ihm doch nothwendig; weil jeder Feh-<lb/>
ler dem, der ihn bemerkt, an&#x017F;to&#x0364;ßig i&#x017F;t. Aber die<lb/>
bloße Richtigkeit kann bisweilen &#x017F;chon Vergnu&#x0364;gen<lb/>
erweken, ob es gleich &#x017F;cheinet, daß &#x017F;ie nur vor Miß-<lb/>
vergnu&#x0364;gen verwahre. Man fu&#x0364;hlet die&#x017F;es &#x017F;ehr be-<lb/>
&#x017F;timmt in den Werken der blos mechani&#x017F;chen Ku&#x0364;n&#x017F;te,<lb/>
wo es allemal Vergnu&#x0364;gen macht, wenn ein Werk<lb/>
vollkommen das i&#x017F;t, was es nach mechani&#x017F;chen Re-<lb/>
geln &#x017F;eyn &#x017F;oll. Das Werk des Pfu&#x017F;chers i&#x017F;t nur<lb/>
ohngefehr, wie es &#x017F;eyn &#x017F;ollte; das Runde i&#x017F;t nicht<lb/>
in der ho&#x0364;ch&#x017F;ten Vollkommenheit rund; das was ir-<lb/>
gendwo hineinpa&#x017F;&#x017F;en, oder &#x017F;ich wo an&#x017F;chließen &#x017F;oll,<lb/>
paßt nnd &#x017F;chließt zwar, aber nur unvollkommen, ent-<lb/>
weder mit Zwang, oder zu leicht. Das Werk eines<lb/>
vollkommenen Mei&#x017F;ters aber zeiget nirgend einigen<lb/>
Mangel; was &#x017F;chließen &#x017F;oll, &#x017F;chließt genau; was<lb/>
&#x017F;charf &#x017F;eyn &#x017F;oll, i&#x017F;t ho&#x0364;ch&#x017F;t &#x017F;charf u. &#x017F;. w. Wer eini-<lb/>
ges Gefu&#x0364;hl von Vollkommenheit und Genanigkeit<lb/>
hat, findet Vergnu&#x0364;gen an einem &#x017F;olchem Werk; und<lb/>
die&#x017F;es Vergnu&#x0364;gen ent&#x017F;teht daher, daß man u&#x0364;berall<lb/>
die Beobachtung der Regeln entdeket, daß man die<lb/>
vollkommene Gleichheit des Werks mit dem Jdeal<lb/>
de&#x017F;&#x017F;elben, was die Regeln be&#x017F;timmen, bemerket.</p><lb/>
          <fw place="bottom" type="catch">Das</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[985[967]/0414] Rhy Rich Dieſes ſollte nach der rhythmiſchen Einrichtung der Arie, woraus es genommen iſt, ein Saz von vier Takten ſeyn, und ohne die beſondere Abſicht, auf das Wort Ombra eine feyerliche Traurigkeit zu legen, wuͤrden die zwey erſten Takte nur einen, naͤmlich [Abbildung] ausgemacht haben, und ſo haͤtte der Rhythmus ſeine Regelmaͤßigkeit. Weil der Tonſezer hier beſonders nachdruͤklich ſeyn wollte, hat er zwey Takte daraus gemacht, damit die beyden erſten Sylben noch ein- mal ſo langſam, und mit gleichem Accent koͤnnten ausgeſprochen werden, welches hier von großen Nachdruk iſt, und der wuͤrde eine ſchwache Beurthei- lung verrathen, der hier Graun eines Fehlers gegen den Rhythmus beſchuldigte, da er einen Saz von fuͤnf Takten, anſtatt vieren, gemacht hat. 5. Jch will bey dieſer Gelegenheit auch einer an- dern ſcheinbaren Unregelmaͤßigkeit des Rhythmus erwaͤhnen, die ofte ſehr angenehme Wuͤrkung thut. Sie beſteht darin, daß ein nicht zum Rhythmus ge- hoͤriger Takt, wo etwa die Singeſtimme einen Takt pauſirt, eingeſchoben wird, da ein Jnſtrument einen vorhergehenden Ausdruk der Singeſtimme wieder- holt, oder nachahmet, wie in folgendem Beyſpiehl. [Abbildung] Hier iſt ein Saz von vier Takten, der aber in der Mitte einen merklichen Einſchnitt hat, in dem die ſingende Stimme pauſirt, da inzwiſchen die Violin, den leztvorhergehenden Takt wiederholt. Dieſes iſt ein ſehr mahleriſcher Ausdruk, um das Horchen einer durch ſuͤße Hofnung getaͤuſchten Perſon, aus- zudruͤken. Der Saz bleibt darum doch nur von vier Takten. Wer in den Arien der groͤßten Meiſter, eines Haͤn- dels, Grauns, Haſſens, dergleichen Jrregularitaͤten aufſuchen will, wird daher einen ſchoͤnen Vorrath von Beyſpiehlen auſſerordentlicher Behandlungen des Rhythmus antreffen, wodurch der Ausdruk oft auf die gluͤklichſte Art unterſtuͤzt wird. Beſonders wuͤrde man da manchen fuͤrtreflichen Kunſtgriff antreffen, wie ein Tonſezer von Gefuͤhl, die Fehler, die der Dichter etwa in Abſicht auf den Rhythmus began- gen hat, zu verdeken wiſſe. Richtigkeit. (Schoͤne Kuͤnſte.) Richtig nennt man eigentlich das, was ohne Feh- ler iſt; und hieraus erkennet man die Bedeutung des Worts Richtigkeit. Eigentlich iſt ſie die Voll- kommenheit in dem Mechaniſchen der Kunſt. Eine Rede hat Richtigkeit in Gedanken, wenn nichts Fal- ſches darin iſt; im Ausdruk, wenn die Woͤrter ge- rade das ſagen, was ſie ſagen ſollen, und wenn die Regeln der Grammatik genau beobachtet worden. Der Vers iſt richtig, wenn nichts gegen die Proſodie verſehen iſt; die Zeichnung, wenn ſie die wahre Form und die wahren Verhaͤltniſſe der Dinge angiebt. Ein Tonſtuͤk iſt im Saz richtig, wenn nichts gegen die Regeln der Harmonie, des Takts und des Rhyth- mus verſehen worden. Obgleich ein Werk des Geſchmaks bey der genaue- ſten Richtigkeit hoͤchſt ſchwach und unbedeutend ſeyn kann; ſo iſt ſie ihm doch nothwendig; weil jeder Feh- ler dem, der ihn bemerkt, anſtoͤßig iſt. Aber die bloße Richtigkeit kann bisweilen ſchon Vergnuͤgen erweken, ob es gleich ſcheinet, daß ſie nur vor Miß- vergnuͤgen verwahre. Man fuͤhlet dieſes ſehr be- ſtimmt in den Werken der blos mechaniſchen Kuͤnſte, wo es allemal Vergnuͤgen macht, wenn ein Werk vollkommen das iſt, was es nach mechaniſchen Re- geln ſeyn ſoll. Das Werk des Pfuſchers iſt nur ohngefehr, wie es ſeyn ſollte; das Runde iſt nicht in der hoͤchſten Vollkommenheit rund; das was ir- gendwo hineinpaſſen, oder ſich wo anſchließen ſoll, paßt nnd ſchließt zwar, aber nur unvollkommen, ent- weder mit Zwang, oder zu leicht. Das Werk eines vollkommenen Meiſters aber zeiget nirgend einigen Mangel; was ſchließen ſoll, ſchließt genau; was ſcharf ſeyn ſoll, iſt hoͤchſt ſcharf u. ſ. w. Wer eini- ges Gefuͤhl von Vollkommenheit und Genanigkeit hat, findet Vergnuͤgen an einem ſolchem Werk; und dieſes Vergnuͤgen entſteht daher, daß man uͤberall die Beobachtung der Regeln entdeket, daß man die vollkommene Gleichheit des Werks mit dem Jdeal deſſelben, was die Regeln beſtimmen, bemerket. Das

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/414
Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 985[967]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/414>, abgerufen am 25.11.2024.