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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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auslassen, ohne eigentliche Erzählung hinlänglich
erkannt werden.

Wenn gleich das Oratorium eine Begebenheit zum
Grund hat, z. B. die Kreuzigung, oder die Aufer-
stehung, so macht dieses darum den Erzählenden
Vortrag nicht nothwendig; die Begebenheit kann in
vollem Affekt lyrisch geschildert werden. So fängt
Ramlers Oratorium vom Tode Jesu, mit dieser
höchst rührenden lyrischen Schilderung an. (*)

Jhr Palmen in Gethsemane,
Wen hört ihr so verlassen trauren?
Wer ist der ängstlich sterbende? - - -
Jst das mein Jesus? u. s. f.

Dieses ist lyrisch erzählt, oder geschildert, und ist die
einzige für das Oratorium schikliche Weise, ob sie
gleich wenig beobachtet wird.

Dialogische Reden haben da gar nicht statt, weil
sie für die Musik sich gar nicht schicken, die weder
Begriffe noch Gedanken, sondern blos Empfindun-
gen schildert. Es ist höchst abgeschmakt solche Reden,
wie man noch bisweilen im Oratorium hört: "Da
sprach die Magd zu Petrus, auch du bist einer von
ihnen -- Petrus antwortete -- Nein ich kenne
ihn nicht
" in musikalischen Tönen vorzutragen.

Also muß der Dichter im Oratorium den epischen
und den gewöhnlichen dramatischen Vortrag gänzlich
vermeiden, und wo er etwas erzählen, oder einen
Gegenstand schildern will, es im lyrischen Ton thun.
Von der lyrischen Schilderung haben wir eine Probe
zum Beyspiel gegeben; hier ist eine von der lyrischen
Erzählung, aus dem angeführten Stük.

-- Wehe! Wehe!
Nicht Ketten, Bande nicht, ich sehe
Gespizte Keile! -- Jesus reicht die Hände dar,
Die theuten Hände, deren Arbeit wohlthun war.
Auf jeden wiederholten Schlag durchschneidet
Die Spize Nerv', und Ader, und Gebein. u. s. f.

Bey dem durchaus herrschenden lyrischen Ton, hat
dennoch mannigfaltige Abwechslung statt. Das
Recitativ, das Arioso, die Arie, Chöre, Duette
und alle gewöhnliche Formen der zum Singen ab-
gepaßten Texte, können verschiedentlich abgewechselt
auf einander folgen.

Eine sehr wesentliche Sache hiebey ist dieses, daß
der Dichter mehrere Charaktere einführe. Voll-
kommen Gottesfürchtige, denn noch etwas schwache,
auch wol gar verzagte Sünder; Menschen von feue-
riger Andacht, und denn zärtliche sauft empfindende;
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denn dadurch bekommt der Tonsezer Gelegeuheit je-
des Gemüth zu rühren.

Aber die wichtigste Lehre, die man dem Dichter
für diese Gattung geben kann, ist diese, daß in den
Empfindungen selbst nichts vorkomme, das nicht
unmittelbar aus der Hoheit des Hauptgegenstandes
entstehe, oder sich darauf beziehe. Der Dichter
muß keinen Augenblik vergessen, daß die Personen,
die er reden läßt zu einer sehr feyerlichen Gelegen-
heit versammelt sind, wo alles groß seyn muß.
Man muß von den hohen Gegenstäuden die man
vor sich hat, keine besondere Anwendung aufs kleine,
auf das, was wenigen Menschen persönlich ist ma-
chen, vielweniger sich in allgemeine moralische Be-
trachtungen einlassen. So ist die erste Arie in dem
erwähnten Ramlerischen Oratorium,

Held, auf den der Tod den Köcher ausgeleert,
Hör' am Grabe den, der schwächer Trost begehrt!

ob sie gleich, bey einer andern Gelegenheit schön
und wichtig seyn möchte, hier nicht groß genug, da
sie aus einem blos besondern Umstand des hohen
Gegenstandes erwächst. Wenn der Tod Jesu, als
die Versöhnung des ganzen menschlichen Geschlechts
angesehen wird; so erwekt besonders der erste Blik
auf diese unendlich große Handlung nothwendig auch
ganz hohe Empfindungen. Noch weit weniger ist
die so schöne Arie:

Jhr weichgeschaffne Seelen,
Jhr könnt nicht lange fehlen: u. s. f.

hier am rechten Orte, wo alles feyerlich seyn soll.

Jch zeige diese Mängel deswegen in dem besten
Oratorium, das ich kenne, an, damit es desto
dentlicher in die Augen falle, wie nothwendig die ge-
gebenen Erinnerungen sind, da auch unsre besten
Dichter dagegen fehlen.

Die Musik muß hier in ihrer vollen Pracht, aber
ohne allen Prunk, ohne alle gesuchte Zierlichkeit
erscheinen. Hier ist es nicht darum zu thun, schön
und angenehm, sondern durchdringend und erhaben
zu seyn. Da wir aber von dem Geschmak der Kir-
chenmusik in einem besondern Artikel gesprochen ha-
ben, so wollen wir hier das, was schon dort ge-
sagt worden nicht wiederholen, sondern nur in eben
der guten Absicht, in der vorher das Ramlerische
Oratorium in einigen Stüken getadelt worden, auch
einige schweere Fehler, in der auf eben dasselbe von
dem großen Graun selbst verfertigten Musik began-

gen
(*) Nach
der neue-
ste Aus-
gabe.
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auslaſſen, ohne eigentliche Erzaͤhlung hinlaͤnglich
erkannt werden.

Wenn gleich das Oratorium eine Begebenheit zum
Grund hat, z. B. die Kreuzigung, oder die Aufer-
ſtehung, ſo macht dieſes darum den Erzaͤhlenden
Vortrag nicht nothwendig; die Begebenheit kann in
vollem Affekt lyriſch geſchildert werden. So faͤngt
Ramlers Oratorium vom Tode Jeſu, mit dieſer
hoͤchſt ruͤhrenden lyriſchen Schilderung an. (*)

Jhr Palmen in Gethſemane,
Wen hoͤrt ihr ſo verlaſſen trauren?
Wer iſt der aͤngſtlich ſterbende? - - -
Jſt das mein Jeſus? u. ſ. f.

Dieſes iſt lyriſch erzaͤhlt, oder geſchildert, und iſt die
einzige fuͤr das Oratorium ſchikliche Weiſe, ob ſie
gleich wenig beobachtet wird.

Dialogiſche Reden haben da gar nicht ſtatt, weil
ſie fuͤr die Muſik ſich gar nicht ſchicken, die weder
Begriffe noch Gedanken, ſondern blos Empfindun-
gen ſchildert. Es iſt hoͤchſt abgeſchmakt ſolche Reden,
wie man noch bisweilen im Oratorium hoͤrt: „Da
ſprach die Magd zu Petrus, auch du biſt einer von
ihnen — Petrus antwortete — Nein ich kenne
ihn nicht
„ in muſikaliſchen Toͤnen vorzutragen.

Alſo muß der Dichter im Oratorium den epiſchen
und den gewoͤhnlichen dramatiſchen Vortrag gaͤnzlich
vermeiden, und wo er etwas erzaͤhlen, oder einen
Gegenſtand ſchildern will, es im lyriſchen Ton thun.
Von der lyriſchen Schilderung haben wir eine Probe
zum Beyſpiel gegeben; hier iſt eine von der lyriſchen
Erzaͤhlung, aus dem angefuͤhrten Stuͤk.

— Wehe! Wehe!
Nicht Ketten, Bande nicht, ich ſehe
Geſpizte Keile! — Jeſus reicht die Haͤnde dar,
Die theuten Haͤnde, deren Arbeit wohlthun war.
Auf jeden wiederholten Schlag durchſchneidet
Die Spize Nerv’, und Ader, und Gebein. u. ſ. f.

Bey dem durchaus herrſchenden lyriſchen Ton, hat
dennoch mannigfaltige Abwechslung ſtatt. Das
Recitativ, das Arioſo, die Arie, Choͤre, Duette
und alle gewoͤhnliche Formen der zum Singen ab-
gepaßten Texte, koͤnnen verſchiedentlich abgewechſelt
auf einander folgen.

Eine ſehr weſentliche Sache hiebey iſt dieſes, daß
der Dichter mehrere Charaktere einfuͤhre. Voll-
kommen Gottesfuͤrchtige, denn noch etwas ſchwache,
auch wol gar verzagte Suͤnder; Menſchen von feue-
riger Andacht, und denn zaͤrtliche ſauft empfindende;
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denn dadurch bekommt der Tonſezer Gelegeuheit je-
des Gemuͤth zu ruͤhren.

Aber die wichtigſte Lehre, die man dem Dichter
fuͤr dieſe Gattung geben kann, iſt dieſe, daß in den
Empfindungen ſelbſt nichts vorkomme, das nicht
unmittelbar aus der Hoheit des Hauptgegenſtandes
entſtehe, oder ſich darauf beziehe. Der Dichter
muß keinen Augenblik vergeſſen, daß die Perſonen,
die er reden laͤßt zu einer ſehr feyerlichen Gelegen-
heit verſammelt ſind, wo alles groß ſeyn muß.
Man muß von den hohen Gegenſtaͤuden die man
vor ſich hat, keine beſondere Anwendung aufs kleine,
auf das, was wenigen Menſchen perſoͤnlich iſt ma-
chen, vielweniger ſich in allgemeine moraliſche Be-
trachtungen einlaſſen. So iſt die erſte Arie in dem
erwaͤhnten Ramleriſchen Oratorium,

Held, auf den der Tod den Koͤcher ausgeleert,
Hoͤr’ am Grabe den, der ſchwaͤcher Troſt begehrt!

ob ſie gleich, bey einer andern Gelegenheit ſchoͤn
und wichtig ſeyn moͤchte, hier nicht groß genug, da
ſie aus einem blos beſondern Umſtand des hohen
Gegenſtandes erwaͤchſt. Wenn der Tod Jeſu, als
die Verſoͤhnung des ganzen menſchlichen Geſchlechts
angeſehen wird; ſo erwekt beſonders der erſte Blik
auf dieſe unendlich große Handlung nothwendig auch
ganz hohe Empfindungen. Noch weit weniger iſt
die ſo ſchoͤne Arie:

Jhr weichgeſchaffne Seelen,
Jhr koͤnnt nicht lange fehlen: u. ſ. f.

hier am rechten Orte, wo alles feyerlich ſeyn ſoll.

Jch zeige dieſe Maͤngel deswegen in dem beſten
Oratorium, das ich kenne, an, damit es deſto
dentlicher in die Augen falle, wie nothwendig die ge-
gebenen Erinnerungen ſind, da auch unſre beſten
Dichter dagegen fehlen.

Die Muſik muß hier in ihrer vollen Pracht, aber
ohne allen Prunk, ohne alle geſuchte Zierlichkeit
erſcheinen. Hier iſt es nicht darum zu thun, ſchoͤn
und angenehm, ſondern durchdringend und erhaben
zu ſeyn. Da wir aber von dem Geſchmak der Kir-
chenmuſik in einem beſondern Artikel geſprochen ha-
ben, ſo wollen wir hier das, was ſchon dort ge-
ſagt worden nicht wiederholen, ſondern nur in eben
der guten Abſicht, in der vorher das Ramleriſche
Oratorium in einigen Stuͤken getadelt worden, auch
einige ſchweere Fehler, in der auf eben daſſelbe von
dem großen Graun ſelbſt verfertigten Muſik began-

gen
(*) Nach
der neue-
ſte Aus-
gabe.
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[853[835]/0270] Ora Ora auslaſſen, ohne eigentliche Erzaͤhlung hinlaͤnglich erkannt werden. Wenn gleich das Oratorium eine Begebenheit zum Grund hat, z. B. die Kreuzigung, oder die Aufer- ſtehung, ſo macht dieſes darum den Erzaͤhlenden Vortrag nicht nothwendig; die Begebenheit kann in vollem Affekt lyriſch geſchildert werden. So faͤngt Ramlers Oratorium vom Tode Jeſu, mit dieſer hoͤchſt ruͤhrenden lyriſchen Schilderung an. (*) Jhr Palmen in Gethſemane, Wen hoͤrt ihr ſo verlaſſen trauren? Wer iſt der aͤngſtlich ſterbende? - - - Jſt das mein Jeſus? u. ſ. f. Dieſes iſt lyriſch erzaͤhlt, oder geſchildert, und iſt die einzige fuͤr das Oratorium ſchikliche Weiſe, ob ſie gleich wenig beobachtet wird. Dialogiſche Reden haben da gar nicht ſtatt, weil ſie fuͤr die Muſik ſich gar nicht ſchicken, die weder Begriffe noch Gedanken, ſondern blos Empfindun- gen ſchildert. Es iſt hoͤchſt abgeſchmakt ſolche Reden, wie man noch bisweilen im Oratorium hoͤrt: „Da ſprach die Magd zu Petrus, auch du biſt einer von ihnen — Petrus antwortete — Nein ich kenne ihn nicht„ in muſikaliſchen Toͤnen vorzutragen. Alſo muß der Dichter im Oratorium den epiſchen und den gewoͤhnlichen dramatiſchen Vortrag gaͤnzlich vermeiden, und wo er etwas erzaͤhlen, oder einen Gegenſtand ſchildern will, es im lyriſchen Ton thun. Von der lyriſchen Schilderung haben wir eine Probe zum Beyſpiel gegeben; hier iſt eine von der lyriſchen Erzaͤhlung, aus dem angefuͤhrten Stuͤk. — Wehe! Wehe! Nicht Ketten, Bande nicht, ich ſehe Geſpizte Keile! — Jeſus reicht die Haͤnde dar, Die theuten Haͤnde, deren Arbeit wohlthun war. Auf jeden wiederholten Schlag durchſchneidet Die Spize Nerv’, und Ader, und Gebein. u. ſ. f. Bey dem durchaus herrſchenden lyriſchen Ton, hat dennoch mannigfaltige Abwechslung ſtatt. Das Recitativ, das Arioſo, die Arie, Choͤre, Duette und alle gewoͤhnliche Formen der zum Singen ab- gepaßten Texte, koͤnnen verſchiedentlich abgewechſelt auf einander folgen. Eine ſehr weſentliche Sache hiebey iſt dieſes, daß der Dichter mehrere Charaktere einfuͤhre. Voll- kommen Gottesfuͤrchtige, denn noch etwas ſchwache, auch wol gar verzagte Suͤnder; Menſchen von feue- riger Andacht, und denn zaͤrtliche ſauft empfindende; denn dadurch bekommt der Tonſezer Gelegeuheit je- des Gemuͤth zu ruͤhren. Aber die wichtigſte Lehre, die man dem Dichter fuͤr dieſe Gattung geben kann, iſt dieſe, daß in den Empfindungen ſelbſt nichts vorkomme, das nicht unmittelbar aus der Hoheit des Hauptgegenſtandes entſtehe, oder ſich darauf beziehe. Der Dichter muß keinen Augenblik vergeſſen, daß die Perſonen, die er reden laͤßt zu einer ſehr feyerlichen Gelegen- heit verſammelt ſind, wo alles groß ſeyn muß. Man muß von den hohen Gegenſtaͤuden die man vor ſich hat, keine beſondere Anwendung aufs kleine, auf das, was wenigen Menſchen perſoͤnlich iſt ma- chen, vielweniger ſich in allgemeine moraliſche Be- trachtungen einlaſſen. So iſt die erſte Arie in dem erwaͤhnten Ramleriſchen Oratorium, Held, auf den der Tod den Koͤcher ausgeleert, Hoͤr’ am Grabe den, der ſchwaͤcher Troſt begehrt! ob ſie gleich, bey einer andern Gelegenheit ſchoͤn und wichtig ſeyn moͤchte, hier nicht groß genug, da ſie aus einem blos beſondern Umſtand des hohen Gegenſtandes erwaͤchſt. Wenn der Tod Jeſu, als die Verſoͤhnung des ganzen menſchlichen Geſchlechts angeſehen wird; ſo erwekt beſonders der erſte Blik auf dieſe unendlich große Handlung nothwendig auch ganz hohe Empfindungen. Noch weit weniger iſt die ſo ſchoͤne Arie: Jhr weichgeſchaffne Seelen, Jhr koͤnnt nicht lange fehlen: u. ſ. f. hier am rechten Orte, wo alles feyerlich ſeyn ſoll. Jch zeige dieſe Maͤngel deswegen in dem beſten Oratorium, das ich kenne, an, damit es deſto dentlicher in die Augen falle, wie nothwendig die ge- gebenen Erinnerungen ſind, da auch unſre beſten Dichter dagegen fehlen. Die Muſik muß hier in ihrer vollen Pracht, aber ohne allen Prunk, ohne alle geſuchte Zierlichkeit erſcheinen. Hier iſt es nicht darum zu thun, ſchoͤn und angenehm, ſondern durchdringend und erhaben zu ſeyn. Da wir aber von dem Geſchmak der Kir- chenmuſik in einem beſondern Artikel geſprochen ha- ben, ſo wollen wir hier das, was ſchon dort ge- ſagt worden nicht wiederholen, ſondern nur in eben der guten Abſicht, in der vorher das Ramleriſche Oratorium in einigen Stuͤken getadelt worden, auch einige ſchweere Fehler, in der auf eben daſſelbe von dem großen Graun ſelbſt verfertigten Muſik began- gen (*) Nach der neue- ſte Aus- gabe. N n n n n 2

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 853[835]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/270>, abgerufen am 28.11.2024.