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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Ope
seyn wird, wenn es von geschikten Dichtern und
Tonsezern einmal seine völlige Form wird bekom-
men haben. Es ist der Mühe werth, daß wir uns
etwas umständlicher hierüber einlassen.

Wie die große Oper wichtige und sehr ernsthafte
Gegenstände bearbeitet, wobey starke Leidenschaften
ins Spiehl kommen, so kann die Musik, die jeden
Ton mit gleicher Leichtigkeit annihmt, auch dienen
sanftere Empfindungen, Fröhlichkeit und bloßes Er-
gözen zu schildern. Um dieses mit einer schiklichen
Handlung zu verbinden, wähle man den Stoff, wie
die Comödie, aus angenehmen oder ergözenden Vor-
fällen des gemeinen Lebens. Es ist ja schon von
den ältesten Zeiten her ein Hauptgeschäft der Musik
gewesen, auch zu fröhlichen gesellschaftlichen Unter-
haltungen, es sey durch Tanz oder blos durch Lie-
der, das ihrige beyzutragen. Wir haben bereits
einige Proben von französischen und deutschen Ope-
retten von gemäßigten sittlichen Jnhalt, die zwischen
der hohen tragischen Oper und den niedrigen Jn-
termezzo gleichsam in der Mitte stehen, und uns
Hofnung machen, daß diese Gattung allmählig mehr
ausgebildet, und endlich zu ihrer Vollkommenheit
gelangen werde. Das Rosenfest von Hrn. Herman,
der Aerndtekranz, und einige andere Stüke von un-
serm Weiße, sind gute Versuche in dieser Art. Sie
nihmt ihren Stoff aus dem Leben des Landvolkes,
kann sich aber auch wol einen Grad höher zu den
Sitten und Handlungen der Menschen vom Mittel-
stand erheben. Wir würden rathen diesem Dra-
ma der Musik einen Ton zu geben, der sich eben so
weit von der Hoheit des Cothurns, als von der Nie-
drigkeit der comischen Maske entfernt. Der Dia-
log der Handlung wäre prosaisch, folglich ohne Mu-
sik, wie es bereits eingeführt ist; und an schikli-
chen Stellen würde der Dichter Lieder von allerley
Art, auch bisweilen Arien anbringen. Die Lie-
der würden theils aus dem Jnhalt selbst herge-
nommen, theils, als episodische Gesänge erscheinen.
Die Arien könnten durch die Handlung selbst veran-
lasset, von jeder Art des lyrischen Jnhalts seyn,
nur mußten sie sich nie bis zum hohen Ton der
großen Oper erheben.

Der Tonsezer mußte dabey auch den gar zu ge-
meinen und gassenliedermäßigen Ton verlassen; edel
und fein, nur nicht prächtig, feyerlich, oder erha-
ben zu seyn, sich befleißen. Seine Arien wären
weder so ausführlich und ausgearbeitet, noch von
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so mannigfaltiger Modulation, noch so reich an be-
gleitenden Stimmen, als die großen Opernarien.

Auf diese Weise würde würklich eine neue sehr
angenehme Art eines mehr sittlichen, als leidenschaft-
lichen Schauspiehls entstehen, wobey Poesie und
Musik vereiniget wären. Außer dem unmittelba-
ren Nuzen, den es mit andern dramatischen Schau-
spiehlen gemein hätte, würde dieses noch den beson-
dern Nuzen haben, daß dadurch eine Menge in Poesie
und Musik guter Lieder und angenehmer kleiner
Arien, die man, ohne eben ein Virtuos von Pro-
feßion zu seyn, gut singen könnte, von der Schau-
bühne in Gesellschaften und in einsame Cabinetter
verbreitet würden. Man sieht in der That, daß
gegenwärtig, seit dem Herr Hiller in Leipzig, so
viel sehr leichte und dem gemeinen Ohr gefällige Lie-
der und Arietten in Weißens Operetten angebracht
hat, in Gesellschaften und auf Spaziergängen sehr
viel mehr gesungen wird, als ehedem geschehen ist.

Oratorium.
(Poesie, Musik.)

Ein mit Musik aufgeführtes geistliches aber durch-
aus lyrisches und kurzes Drama, zum gottesdienst-
lichen Gebrauch bey hohen Feyertagen. Die Be-
nennung des lyrischen Drama zeiget an, daß hier
keine sich allmählig entwikelnde Handlung, mit An-
schlägen, Jntrigen und durch einanderlaufenden
Unternehmungen statt habe, wie in dem für das
Schauspiehl verfertigten Drama. Das Oratorium
nihmt verschiedene Personen an, die von einen erha-
benen Gegenstand der Religion, dessen Feyer began-
gen wird, stark gerührt werden, und ihre Empfin-
dungen darüber bald einzeln, bald vereiniget auf
eine sehr nachdrükliche Weise äußern. Die Absicht
dieses Drama ist die Herzen der Zuhörer mit ähnli-
chen Empfindungen zu durchdringen.

Der Stoff des Oratorium ist also allemal eine
sehr bekannte Sache, deren Andenken das Fest ge-
wiedmet ist. Folglich kann er durchaus lyrisch be-
handelt werden, weil hier weder Dialog, noch Er-
zählungen, noch Nachrichten von dem was vorgeht
nöthig sind. Man weiß zum Voraus, durch
was für einen Gegenstand die Sänger in Empfin-
dung gesezt werden, und die Art, die besonde-
ren Umstände derselben, unter denen der Gegen-
stand sich jedem zeiget. Dies alles kann aus der
Art, wie sich die singenden Personen darüber

aus-

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Ope
ſeyn wird, wenn es von geſchikten Dichtern und
Tonſezern einmal ſeine voͤllige Form wird bekom-
men haben. Es iſt der Muͤhe werth, daß wir uns
etwas umſtaͤndlicher hieruͤber einlaſſen.

Wie die große Oper wichtige und ſehr ernſthafte
Gegenſtaͤnde bearbeitet, wobey ſtarke Leidenſchaften
ins Spiehl kommen, ſo kann die Muſik, die jeden
Ton mit gleicher Leichtigkeit annihmt, auch dienen
ſanftere Empfindungen, Froͤhlichkeit und bloßes Er-
goͤzen zu ſchildern. Um dieſes mit einer ſchiklichen
Handlung zu verbinden, waͤhle man den Stoff, wie
die Comoͤdie, aus angenehmen oder ergoͤzenden Vor-
faͤllen des gemeinen Lebens. Es iſt ja ſchon von
den aͤlteſten Zeiten her ein Hauptgeſchaͤft der Muſik
geweſen, auch zu froͤhlichen geſellſchaftlichen Unter-
haltungen, es ſey durch Tanz oder blos durch Lie-
der, das ihrige beyzutragen. Wir haben bereits
einige Proben von franzoͤſiſchen und deutſchen Ope-
retten von gemaͤßigten ſittlichen Jnhalt, die zwiſchen
der hohen tragiſchen Oper und den niedrigen Jn-
termezzo gleichſam in der Mitte ſtehen, und uns
Hofnung machen, daß dieſe Gattung allmaͤhlig mehr
ausgebildet, und endlich zu ihrer Vollkommenheit
gelangen werde. Das Roſenfeſt von Hrn. Herman,
der Aerndtekranz, und einige andere Stuͤke von un-
ſerm Weiße, ſind gute Verſuche in dieſer Art. Sie
nihmt ihren Stoff aus dem Leben des Landvolkes,
kann ſich aber auch wol einen Grad hoͤher zu den
Sitten und Handlungen der Menſchen vom Mittel-
ſtand erheben. Wir wuͤrden rathen dieſem Dra-
ma der Muſik einen Ton zu geben, der ſich eben ſo
weit von der Hoheit des Cothurns, als von der Nie-
drigkeit der comiſchen Maske entfernt. Der Dia-
log der Handlung waͤre proſaiſch, folglich ohne Mu-
ſik, wie es bereits eingefuͤhrt iſt; und an ſchikli-
chen Stellen wuͤrde der Dichter Lieder von allerley
Art, auch bisweilen Arien anbringen. Die Lie-
der wuͤrden theils aus dem Jnhalt ſelbſt herge-
nommen, theils, als epiſodiſche Geſaͤnge erſcheinen.
Die Arien koͤnnten durch die Handlung ſelbſt veran-
laſſet, von jeder Art des lyriſchen Jnhalts ſeyn,
nur mußten ſie ſich nie bis zum hohen Ton der
großen Oper erheben.

Der Tonſezer mußte dabey auch den gar zu ge-
meinen und gaſſenliedermaͤßigen Ton verlaſſen; edel
und fein, nur nicht praͤchtig, feyerlich, oder erha-
ben zu ſeyn, ſich befleißen. Seine Arien waͤren
weder ſo ausfuͤhrlich und ausgearbeitet, noch von
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Ora
ſo mannigfaltiger Modulation, noch ſo reich an be-
gleitenden Stimmen, als die großen Opernarien.

Auf dieſe Weiſe wuͤrde wuͤrklich eine neue ſehr
angenehme Art eines mehr ſittlichen, als leidenſchaft-
lichen Schauſpiehls entſtehen, wobey Poeſie und
Muſik vereiniget waͤren. Außer dem unmittelba-
ren Nuzen, den es mit andern dramatiſchen Schau-
ſpiehlen gemein haͤtte, wuͤrde dieſes noch den beſon-
dern Nuzen haben, daß dadurch eine Menge in Poeſie
und Muſik guter Lieder und angenehmer kleiner
Arien, die man, ohne eben ein Virtuos von Pro-
feßion zu ſeyn, gut ſingen koͤnnte, von der Schau-
buͤhne in Geſellſchaften und in einſame Cabinetter
verbreitet wuͤrden. Man ſieht in der That, daß
gegenwaͤrtig, ſeit dem Herr Hiller in Leipzig, ſo
viel ſehr leichte und dem gemeinen Ohr gefaͤllige Lie-
der und Arietten in Weißens Operetten angebracht
hat, in Geſellſchaften und auf Spaziergaͤngen ſehr
viel mehr geſungen wird, als ehedem geſchehen iſt.

Oratorium.
(Poeſie, Muſik.)

Ein mit Muſik aufgefuͤhrtes geiſtliches aber durch-
aus lyriſches und kurzes Drama, zum gottesdienſt-
lichen Gebrauch bey hohen Feyertagen. Die Be-
nennung des lyriſchen Drama zeiget an, daß hier
keine ſich allmaͤhlig entwikelnde Handlung, mit An-
ſchlaͤgen, Jntrigen und durch einanderlaufenden
Unternehmungen ſtatt habe, wie in dem fuͤr das
Schauſpiehl verfertigten Drama. Das Oratorium
nihmt verſchiedene Perſonen an, die von einen erha-
benen Gegenſtand der Religion, deſſen Feyer began-
gen wird, ſtark geruͤhrt werden, und ihre Empfin-
dungen daruͤber bald einzeln, bald vereiniget auf
eine ſehr nachdruͤkliche Weiſe aͤußern. Die Abſicht
dieſes Drama iſt die Herzen der Zuhoͤrer mit aͤhnli-
chen Empfindungen zu durchdringen.

Der Stoff des Oratorium iſt alſo allemal eine
ſehr bekannte Sache, deren Andenken das Feſt ge-
wiedmet iſt. Folglich kann er durchaus lyriſch be-
handelt werden, weil hier weder Dialog, noch Er-
zaͤhlungen, noch Nachrichten von dem was vorgeht
noͤthig ſind. Man weiß zum Voraus, durch
was fuͤr einen Gegenſtand die Saͤnger in Empfin-
dung geſezt werden, und die Art, die beſonde-
ren Umſtaͤnde derſelben, unter denen der Gegen-
ſtand ſich jedem zeiget. Dies alles kann aus der
Art, wie ſich die ſingenden Perſonen daruͤber

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 852[834]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/269>, abgerufen am 28.11.2024.