so viel Genie und Geschmak hiezu, als zu trgend ei- ner andern Gattung.
Hiernächst ist die Anwendung der Kunst auf ge- sellschaftliche und auf einsam abzusingende Lieder zu betrachten. Da solche Lieder, wie ausführlich ge- zeiget worden ist, (*) von sehr großer Wichtigkeit sind, so ist es auch die dazu dienliche Musik. Die Gesänge, wodurch Orpheus wilden, oder doch sehr rohen Menschen Lust zu einem wolgesitteten Leben ge- macht hat, waren nur Lieder, und allem Ansehen nach solche, wo mehr natürliche Annehmlichkeit, als Kunst, herrschte. Jch meinerseits wollte lieber ein schönes Lied, als zehen der künstlichsten Sonaten, oder zwanzig rauschende Concerte gemacht haben. Diese Gattung wird zu sehr vernachläßiget, und es fehlet wenig, daß Tonsezer, die durch Ouvertüren, Concerte, Symphonien, Sonaten und dergleichen, sich einen Namen gemacht haben, nicht um Vergebung bitten, wenn sie sich bis zum Lied, ihrer Meinung nach, erniedriget haben. So sehr verkehrte Begriffe hat mancher von der Anwendung seiner Kunst.
Jn die lezte Stelle sezen wir die Anwendung der Musik auf Concerte, die blos zum Zeitvertreib und etwa zur Uebung im Spiehlen angestellt werden. Dazu gehören die Concerte, Symphonien, die So- naten, die Solo, die insgemein ein lebhaftes und nicht unangenehmes Geräusch, oder ein artiges und unterhaltendes, aber das Herz nicht beschäftigendes Geschwäz vorstellen. Dieses ist aber gerade das Fach, worin ziemlich durchgehends am meisten gear- beitet wird. Es sey ferne, daß wir die Concerte, worin Spiehler sich in dem richtigen und guten Vor- trag üben, verwerfen. Aber die Concerte, wo so viel Liebhaber sich zusammen drängen, um sich da unter dem Geräusche der Jnstrumente der langen Weile, oder dem freyen Herumirren ihrer Phantasie zu überlassen; wo man die Fertigkeit der Spiehler ofte sehr zur Unzeit bewundert -- wo man Spiehler und bisweilen auch Sänger durch übel angebrachte Bravos von dem wahren Geschmak abführt, und in Tändeleyen verleitet? -- doch es ist besser hievon zu schweigen. Denn der Geschmak an solchen Din- gen ist vielleicht unwiederruflich, entschieden. Die- ses wird freylich manchem Virtuosen beleidigend vor- kommen. Da er würklich ein großes Vergnügen an solchen Sachen findet, wird er kaum begreifen, [Spaltenumbruch]
Mus
daß nicht jederman dasselbe empfindet. Wir wollen ihm seine Empfindung nicht streitig machen; aber die wahre Quelle desselben wollen wir ihm mit den Worten eines Mannes von großer Urtheilskraft ent- deken. "Das Vergnügen, sagt er, welches der Virtuose empfindet, indem er Concerte nach dem bunten heutigen Geschmak, höret, ist nicht jenes natürliche Vergnügen das durch die Melodie oder Har- monie der Töne erweket wird, sondern ein Vergnügen von der Art dessen, das wir empfinden, indem wir die unbegreiflichen Künste der Luftspringer und Seil- tänzer sehen, die sehr schweere Sachen machen." (+)
Doch wollen wir die Sache nicht so weit treiben, wie Plato, der alle Musik, die nicht mit Gesang und Poesie begleitet ist, verwirft. (*) Auch ohne Worte kunn sie Würkung thun, ob sie gleich erst alsdenn sich in der größten Würkung zeiget, wenn sie ihre Kraft auf Werke der Dichtkunst anwendet.
Daß die Musik überhaupt alle andern Künste an Lebhaftigkeit der Kraft übertreffe ist bereits ange- merkt, auch der Grund davon angezeiget worden. Aber auch blos durch die Erfahrung wird dieses ge- nug bestätiget. Man wird von keiner andern Kunst sehen, daß sie sich der Gemüther so schnell und so unwiederstehlich bemächtige, wie durch die Musik geschieht. Um der allgewaltigen Würkung der ehe- maligen Pöane der Griechen, oder eines bloßen un- ordentlichen Freudengeschreyes, nicht zu erwähnen, braucht man nur einmal eine in Poesie, Gesang Harmonie und Vortrag vollkommene Arie, oder ein solches Duett in einer Oper gehöret zu haben. Jn- dem Salimbeni ein solches Adagio sang, standen einige tausend Zuhörer in einer staunenden Entzü- kung, als wenn sie versteinert wären. Wir wollen hierüber die Beobachtungen eines der ersten Köpfe unsers Jahrhunderts anführen.
"Da ich sie singen hörte, sagt er, bemächtigte sich allmählig eine nicht zu beschreibende Wollust, meiner ganzen Seele -- Bey jedem Worte stellete sich ein Bild in meinem Geiste, oder eine Empfin- dung in meinem Herzen dar --. Bey den glän- zenden Stellen, voll eines starken Ausdruks, wo- durch die Unordnung heftiger Leidenschaften gemahlt, und zugleich würklich erregt wird, verlohr sich bey mir die Vorstellung von Musik, Gesang und Nach- ahmung gänzlich: Jch glaubte die Stimme des
Schmer-
(*) S. Lied.
(+)S.Letter to Lord K. in Fränklins Experiments [Spaltenumbruch]
and observ. on Electricity. S. 467.
(*)De Leg. L. II.
[Spaltenumbruch]
Muſ
ſo viel Genie und Geſchmak hiezu, als zu trgend ei- ner andern Gattung.
Hiernaͤchſt iſt die Anwendung der Kunſt auf ge- ſellſchaftliche und auf einſam abzuſingende Lieder zu betrachten. Da ſolche Lieder, wie ausfuͤhrlich ge- zeiget worden iſt, (*) von ſehr großer Wichtigkeit ſind, ſo iſt es auch die dazu dienliche Muſik. Die Geſaͤnge, wodurch Orpheus wilden, oder doch ſehr rohen Menſchen Luſt zu einem wolgeſitteten Leben ge- macht hat, waren nur Lieder, und allem Anſehen nach ſolche, wo mehr natuͤrliche Annehmlichkeit, als Kunſt, herrſchte. Jch meinerſeits wollte lieber ein ſchoͤnes Lied, als zehen der kuͤnſtlichſten Sonaten, oder zwanzig rauſchende Concerte gemacht haben. Dieſe Gattung wird zu ſehr vernachlaͤßiget, und es fehlet wenig, daß Tonſezer, die durch Ouvertuͤren, Concerte, Symphonien, Sonaten und dergleichen, ſich einen Namen gemacht haben, nicht um Vergebung bitten, wenn ſie ſich bis zum Lied, ihrer Meinung nach, erniedriget haben. So ſehr verkehrte Begriffe hat mancher von der Anwendung ſeiner Kunſt.
Jn die lezte Stelle ſezen wir die Anwendung der Muſik auf Concerte, die blos zum Zeitvertreib und etwa zur Uebung im Spiehlen angeſtellt werden. Dazu gehoͤren die Concerte, Symphonien, die So- naten, die Solo, die insgemein ein lebhaftes und nicht unangenehmes Geraͤuſch, oder ein artiges und unterhaltendes, aber das Herz nicht beſchaͤftigendes Geſchwaͤz vorſtellen. Dieſes iſt aber gerade das Fach, worin ziemlich durchgehends am meiſten gear- beitet wird. Es ſey ferne, daß wir die Concerte, worin Spiehler ſich in dem richtigen und guten Vor- trag uͤben, verwerfen. Aber die Concerte, wo ſo viel Liebhaber ſich zuſammen draͤngen, um ſich da unter dem Geraͤuſche der Jnſtrumente der langen Weile, oder dem freyen Herumirren ihrer Phantaſie zu uͤberlaſſen; wo man die Fertigkeit der Spiehler ofte ſehr zur Unzeit bewundert — wo man Spiehler und bisweilen auch Saͤnger durch uͤbel angebrachte Bravos von dem wahren Geſchmak abfuͤhrt, und in Taͤndeleyen verleitet? — doch es iſt beſſer hievon zu ſchweigen. Denn der Geſchmak an ſolchen Din- gen iſt vielleicht unwiederruflich, entſchieden. Die- ſes wird freylich manchem Virtuoſen beleidigend vor- kommen. Da er wuͤrklich ein großes Vergnuͤgen an ſolchen Sachen findet, wird er kaum begreifen, [Spaltenumbruch]
Muſ
daß nicht jederman daſſelbe empfindet. Wir wollen ihm ſeine Empfindung nicht ſtreitig machen; aber die wahre Quelle deſſelben wollen wir ihm mit den Worten eines Mannes von großer Urtheilskraft ent- deken. „Das Vergnuͤgen, ſagt er, welches der Virtuoſe empfindet, indem er Concerte nach dem bunten heutigen Geſchmak, hoͤret, iſt nicht jenes natuͤrliche Vergnuͤgen das durch die Melodie oder Har- monie der Toͤne erweket wird, ſondern ein Vergnuͤgen von der Art deſſen, das wir empfinden, indem wir die unbegreiflichen Kuͤnſte der Luftſpringer und Seil- taͤnzer ſehen, die ſehr ſchweere Sachen machen.“ (†)
Doch wollen wir die Sache nicht ſo weit treiben, wie Plato, der alle Muſik, die nicht mit Geſang und Poeſie begleitet iſt, verwirft. (*) Auch ohne Worte kunn ſie Wuͤrkung thun, ob ſie gleich erſt alsdenn ſich in der groͤßten Wuͤrkung zeiget, wenn ſie ihre Kraft auf Werke der Dichtkunſt anwendet.
Daß die Muſik uͤberhaupt alle andern Kuͤnſte an Lebhaftigkeit der Kraft uͤbertreffe iſt bereits ange- merkt, auch der Grund davon angezeiget worden. Aber auch blos durch die Erfahrung wird dieſes ge- nug beſtaͤtiget. Man wird von keiner andern Kunſt ſehen, daß ſie ſich der Gemuͤther ſo ſchnell und ſo unwiederſtehlich bemaͤchtige, wie durch die Muſik geſchieht. Um der allgewaltigen Wuͤrkung der ehe- maligen Poͤane der Griechen, oder eines bloßen un- ordentlichen Freudengeſchreyes, nicht zu erwaͤhnen, braucht man nur einmal eine in Poeſie, Geſang Harmonie und Vortrag vollkommene Arie, oder ein ſolches Duett in einer Oper gehoͤret zu haben. Jn- dem Salimbeni ein ſolches Adagio ſang, ſtanden einige tauſend Zuhoͤrer in einer ſtaunenden Entzuͤ- kung, als wenn ſie verſteinert waͤren. Wir wollen hieruͤber die Beobachtungen eines der erſten Koͤpfe unſers Jahrhunderts anfuͤhren.
„Da ich ſie ſingen hoͤrte, ſagt er, bemaͤchtigte ſich allmaͤhlig eine nicht zu beſchreibende Wolluſt, meiner ganzen Seele — Bey jedem Worte ſtellete ſich ein Bild in meinem Geiſte, oder eine Empfin- dung in meinem Herzen dar —. Bey den glaͤn- zenden Stellen, voll eines ſtarken Ausdruks, wo- durch die Unordnung heftiger Leidenſchaften gemahlt, und zugleich wuͤrklich erregt wird, verlohr ſich bey mir die Vorſtellung von Muſik, Geſang und Nach- ahmung gaͤnzlich: Jch glaubte die Stimme des
Schmer-
(*) S. Lied.
(†)S.Letter to Lord K. in Fraͤnklins Experiments [Spaltenumbruch]
and obſerv. on Electricity. S. 467.
(*)De Leg. L. II.
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[788[770]/0205]
Muſ
Muſ
ſo viel Genie und Geſchmak hiezu, als zu trgend ei-
ner andern Gattung.
Hiernaͤchſt iſt die Anwendung der Kunſt auf ge-
ſellſchaftliche und auf einſam abzuſingende Lieder zu
betrachten. Da ſolche Lieder, wie ausfuͤhrlich ge-
zeiget worden iſt, (*) von ſehr großer Wichtigkeit
ſind, ſo iſt es auch die dazu dienliche Muſik. Die
Geſaͤnge, wodurch Orpheus wilden, oder doch ſehr
rohen Menſchen Luſt zu einem wolgeſitteten Leben ge-
macht hat, waren nur Lieder, und allem Anſehen
nach ſolche, wo mehr natuͤrliche Annehmlichkeit, als
Kunſt, herrſchte. Jch meinerſeits wollte lieber ein
ſchoͤnes Lied, als zehen der kuͤnſtlichſten Sonaten,
oder zwanzig rauſchende Concerte gemacht haben.
Dieſe Gattung wird zu ſehr vernachlaͤßiget, und es
fehlet wenig, daß Tonſezer, die durch Ouvertuͤren,
Concerte, Symphonien, Sonaten und dergleichen, ſich
einen Namen gemacht haben, nicht um Vergebung
bitten, wenn ſie ſich bis zum Lied, ihrer Meinung
nach, erniedriget haben. So ſehr verkehrte Begriffe
hat mancher von der Anwendung ſeiner Kunſt.
Jn die lezte Stelle ſezen wir die Anwendung der
Muſik auf Concerte, die blos zum Zeitvertreib und
etwa zur Uebung im Spiehlen angeſtellt werden.
Dazu gehoͤren die Concerte, Symphonien, die So-
naten, die Solo, die insgemein ein lebhaftes und
nicht unangenehmes Geraͤuſch, oder ein artiges und
unterhaltendes, aber das Herz nicht beſchaͤftigendes
Geſchwaͤz vorſtellen. Dieſes iſt aber gerade das
Fach, worin ziemlich durchgehends am meiſten gear-
beitet wird. Es ſey ferne, daß wir die Concerte,
worin Spiehler ſich in dem richtigen und guten Vor-
trag uͤben, verwerfen. Aber die Concerte, wo ſo
viel Liebhaber ſich zuſammen draͤngen, um ſich da
unter dem Geraͤuſche der Jnſtrumente der langen
Weile, oder dem freyen Herumirren ihrer Phantaſie
zu uͤberlaſſen; wo man die Fertigkeit der Spiehler
ofte ſehr zur Unzeit bewundert — wo man Spiehler
und bisweilen auch Saͤnger durch uͤbel angebrachte
Bravos von dem wahren Geſchmak abfuͤhrt, und
in Taͤndeleyen verleitet? — doch es iſt beſſer hievon
zu ſchweigen. Denn der Geſchmak an ſolchen Din-
gen iſt vielleicht unwiederruflich, entſchieden. Die-
ſes wird freylich manchem Virtuoſen beleidigend vor-
kommen. Da er wuͤrklich ein großes Vergnuͤgen
an ſolchen Sachen findet, wird er kaum begreifen,
daß nicht jederman daſſelbe empfindet. Wir wollen
ihm ſeine Empfindung nicht ſtreitig machen; aber
die wahre Quelle deſſelben wollen wir ihm mit den
Worten eines Mannes von großer Urtheilskraft ent-
deken. „Das Vergnuͤgen, ſagt er, welches der
Virtuoſe empfindet, indem er Concerte nach dem
bunten heutigen Geſchmak, hoͤret, iſt nicht jenes
natuͤrliche Vergnuͤgen das durch die Melodie oder Har-
monie der Toͤne erweket wird, ſondern ein Vergnuͤgen
von der Art deſſen, das wir empfinden, indem wir
die unbegreiflichen Kuͤnſte der Luftſpringer und Seil-
taͤnzer ſehen, die ſehr ſchweere Sachen machen.“ (†)
Doch wollen wir die Sache nicht ſo weit treiben,
wie Plato, der alle Muſik, die nicht mit Geſang
und Poeſie begleitet iſt, verwirft. (*) Auch ohne
Worte kunn ſie Wuͤrkung thun, ob ſie gleich erſt
alsdenn ſich in der groͤßten Wuͤrkung zeiget, wenn
ſie ihre Kraft auf Werke der Dichtkunſt anwendet.
Daß die Muſik uͤberhaupt alle andern Kuͤnſte an
Lebhaftigkeit der Kraft uͤbertreffe iſt bereits ange-
merkt, auch der Grund davon angezeiget worden.
Aber auch blos durch die Erfahrung wird dieſes ge-
nug beſtaͤtiget. Man wird von keiner andern Kunſt
ſehen, daß ſie ſich der Gemuͤther ſo ſchnell und ſo
unwiederſtehlich bemaͤchtige, wie durch die Muſik
geſchieht. Um der allgewaltigen Wuͤrkung der ehe-
maligen Poͤane der Griechen, oder eines bloßen un-
ordentlichen Freudengeſchreyes, nicht zu erwaͤhnen,
braucht man nur einmal eine in Poeſie, Geſang
Harmonie und Vortrag vollkommene Arie, oder ein
ſolches Duett in einer Oper gehoͤret zu haben. Jn-
dem Salimbeni ein ſolches Adagio ſang, ſtanden
einige tauſend Zuhoͤrer in einer ſtaunenden Entzuͤ-
kung, als wenn ſie verſteinert waͤren. Wir wollen
hieruͤber die Beobachtungen eines der erſten Koͤpfe
unſers Jahrhunderts anfuͤhren.
„Da ich ſie ſingen hoͤrte, ſagt er, bemaͤchtigte
ſich allmaͤhlig eine nicht zu beſchreibende Wolluſt,
meiner ganzen Seele — Bey jedem Worte ſtellete
ſich ein Bild in meinem Geiſte, oder eine Empfin-
dung in meinem Herzen dar —. Bey den glaͤn-
zenden Stellen, voll eines ſtarken Ausdruks, wo-
durch die Unordnung heftiger Leidenſchaften gemahlt,
und zugleich wuͤrklich erregt wird, verlohr ſich bey
mir die Vorſtellung von Muſik, Geſang und Nach-
ahmung gaͤnzlich: Jch glaubte die Stimme des
Schmer-
(*) S.
Lied.
(†) S. Letter to Lord K. in Fraͤnklins Experiments
and obſerv. on Electricity. S. 467.
(*) De
Leg. L. II.
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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 788[770]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/205>, abgerufen am 28.11.2024.
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