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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Mus
sich von andern auszeichnete, an sich hatte. Ge-
genwärtig, da die Musik unter den verschiedenen
Völkern von Europa, besonders unter den Händen
der Virtuosen, die Einförmigkeit ihres Charakters
nicht mehr hat, und da sowol die deutsche, als die
französische Jugend, alle Arten der Tanzmelodien,
auch Concerte, Sonaten und Arien von allen mög-
lichen Charakteren durch einander spielt, und höret,
und sich in allen Arten der Tänze übet; so ist auch
die Einförmigkeit des Eindruks dadurch aufgehoben
worden. Das Nationale hat sich in der Musik, so
wie in der Poesie größtentheils verlohren. Darum
dienet auch die Musik gegenwärtig, nicht mehr in
dem Grad, als ehedem, zur Bildung jugendlicher
Gemüther.

Dennoch könnte sie noch dazu gebraucht werden,
wenn die, denen die Erziehung aufgetragen ist, die-
ses Geschäft nach einem gründlichen Plan betrieben.
Denn da jede leidenschaftliche Empfindung durch die
Musik in den Gemüthern kann erwekt werden, so
dürfte man nun der Jugend, bey welcher eine ge-
wisse Art der Empfindung herrschend seyn sollte,
auch vorzüglich solche Stüke, die diesen Charakter
haben, in gehöriger Mannigfaltigkeit zum Singen,
Spiehlen und Tanzen vorlegen. Das bloße Anhö-
ren der Musik, auch selbst das Mitspiehlen, sind
aber noch nicht hinreichend; es muß noch das Mit-
singen, und in andern Fällen das Tanzen dazu kom-
men. Und so war es bey den Griechen, bey de-
nen das Wort Musik einen weit ausgedähntern Be-
griff ausdrukte, als bey uns. Freylich würde hiezu
erfodert, daß die, welche in der Musik unterrichten,
weit sorgfältiger, als gemeiniglich geschieht, darauf
sähen, daß die Jugend mit wahrem Nachdruk und
wahrer Empfindung jedes Stük sänge, oder spiehlte,
und daß dergleichen Uebungen durch die Menge de-
rer, die sie gesellschaftlich trieben, nachdrüklicher
würden. Die größte Fertigkeit im Spiehlen und
Singen, und die zierlichsten Mameren, auf welche
man fast allein sieht, tragen gar wenig zu dem gros-
sen Zwek, von dem hier die Rede ist, bey: wer
nicht mit Empfindung singt, auf den würket auch
der Gesang nichts. Jn diesem Stük wäre, wenn die
Musik eben in dem Grad, wie ehedem geschehen ist,
zur Bildung der Jugend dienen sollte, eine gänzli-
che Verbesserung des Unterrichts und der Uebungen
in der Kunst, nothwendig, welche in unsern Zeiten
nicht zu erwarten ist.

[Spaltenumbruch]
Mus

Auf diese allgemeine Anwendung der Musik fol-
gen die besondern Anwendungen derselben, gewisse
Empfindungen bey öffentlichen sehr wichtigen Gele-
genheiten, in den Gemüthern zu einen bestimmten
Zwek, lebhaft zu erweken, und eine Zeitlang zu un-
terhalten. Da wird sie als ein Mittel gebraucht,
den Menschen, durch ihre unwiederstehliche Kraft zu
Entschließungen oder Unternehmungen aufzumun-
tern, und seine Würksamkeit zu unterstüzen. Diesen
Gebrauch kann man bey verschiedenen Gelegenheiten
von der Musik machen.

Erstlich würde sie zu Kriegesgesängen, welche
bey den Griechen gebräuchlich waren, mit großen
Vortheil angewendet werden. Eine ganz ausneh-
mende Würkung den Muth anzuflammen, würde
es thun, wenn vor einem angreifenden Heer ein
Chor von vier bis fünfhundert Jnstrumenten, ein
feuriges Tonstük spielte, und wenn dieses mit dem
Gesang des Heeres selbst abwechselte, oder ihn be-
gleitete. Unbegreiflich ist es, da schlechterdings kein
kräftigeres Mittel ist, den Muth anzufeuren, als
der Gesang, daß man es, da es einmal eingeführt
gewesen, wieder abgeschaft hat. Einem verständi-
gen Tonsezer würd es leicht werden, den besondern
Charakter solcher Stüke zu treffen, und das, was
sie in Ansehung der Regeln des Sazes besonders
haben müßten, zu bestimmen. Der Saz solcher
Stüke würde durch ungleich weniger Regeln einge-
schränkt seyn, als der für Tonstüke, wo jede Klei-
nigkeit in einzelen Stimmen, schon gute oder schlechte
Würkung thun kann. Jch habe zu meiner eigenen
Verwundrung erfahren, daß die unregelmäßigste
Musik, die möglich ist, da hundert unwissende Tür-
ken, jeder mit seinem Jnstrument nach Gutdünken
geleyert, oder geraset hat, worin nichts ordentliches
war, als daß eine Art Trommel dieses Geräusche
nach einem Takt abmaaß, -- daß diese Musik, be-
sonders in einiger Entfernung, mich in lebhafte
Empfindung gesezt hat.

Zweytens, zu wichtigen Nationalgesängen, und
überhaupt zu politischen Feyerlichkeiten, zu denen sich
ein beträchtlicher Theil der Einwohner einer Stadt
versammelt. Dergleichen sind Huldigungen, Be-
gräbnisse verstorbener wahrer Landesväter, Feste
zum Andenken großer Staatsbegebenheiten, und
andere Nationalfeyerlichkeiten, die zum Theil aus
dem Gebrauch gekommen, aber wieder einge-
führt zu werden, verdienten. Dabey könnte die

Musik,

[Spaltenumbruch]

Muſ
ſich von andern auszeichnete, an ſich hatte. Ge-
genwaͤrtig, da die Muſik unter den verſchiedenen
Voͤlkern von Europa, beſonders unter den Haͤnden
der Virtuoſen, die Einfoͤrmigkeit ihres Charakters
nicht mehr hat, und da ſowol die deutſche, als die
franzoͤſiſche Jugend, alle Arten der Tanzmelodien,
auch Concerte, Sonaten und Arien von allen moͤg-
lichen Charakteren durch einander ſpielt, und hoͤret,
und ſich in allen Arten der Taͤnze uͤbet; ſo iſt auch
die Einfoͤrmigkeit des Eindruks dadurch aufgehoben
worden. Das Nationale hat ſich in der Muſik, ſo
wie in der Poeſie groͤßtentheils verlohren. Darum
dienet auch die Muſik gegenwaͤrtig, nicht mehr in
dem Grad, als ehedem, zur Bildung jugendlicher
Gemuͤther.

Dennoch koͤnnte ſie noch dazu gebraucht werden,
wenn die, denen die Erziehung aufgetragen iſt, die-
ſes Geſchaͤft nach einem gruͤndlichen Plan betrieben.
Denn da jede leidenſchaftliche Empfindung durch die
Muſik in den Gemuͤthern kann erwekt werden, ſo
duͤrfte man nun der Jugend, bey welcher eine ge-
wiſſe Art der Empfindung herrſchend ſeyn ſollte,
auch vorzuͤglich ſolche Stuͤke, die dieſen Charakter
haben, in gehoͤriger Mannigfaltigkeit zum Singen,
Spiehlen und Tanzen vorlegen. Das bloße Anhoͤ-
ren der Muſik, auch ſelbſt das Mitſpiehlen, ſind
aber noch nicht hinreichend; es muß noch das Mit-
ſingen, und in andern Faͤllen das Tanzen dazu kom-
men. Und ſo war es bey den Griechen, bey de-
nen das Wort Muſik einen weit ausgedaͤhntern Be-
griff ausdrukte, als bey uns. Freylich wuͤrde hiezu
erfodert, daß die, welche in der Muſik unterrichten,
weit ſorgfaͤltiger, als gemeiniglich geſchieht, darauf
ſaͤhen, daß die Jugend mit wahrem Nachdruk und
wahrer Empfindung jedes Stuͤk ſaͤnge, oder ſpiehlte,
und daß dergleichen Uebungen durch die Menge de-
rer, die ſie geſellſchaftlich trieben, nachdruͤklicher
wuͤrden. Die groͤßte Fertigkeit im Spiehlen und
Singen, und die zierlichſten Mameren, auf welche
man faſt allein ſieht, tragen gar wenig zu dem groſ-
ſen Zwek, von dem hier die Rede iſt, bey: wer
nicht mit Empfindung ſingt, auf den wuͤrket auch
der Geſang nichts. Jn dieſem Stuͤk waͤre, wenn die
Muſik eben in dem Grad, wie ehedem geſchehen iſt,
zur Bildung der Jugend dienen ſollte, eine gaͤnzli-
che Verbeſſerung des Unterrichts und der Uebungen
in der Kunſt, nothwendig, welche in unſern Zeiten
nicht zu erwarten iſt.

[Spaltenumbruch]
Muſ

Auf dieſe allgemeine Anwendung der Muſik fol-
gen die beſondern Anwendungen derſelben, gewiſſe
Empfindungen bey oͤffentlichen ſehr wichtigen Gele-
genheiten, in den Gemuͤthern zu einen beſtimmten
Zwek, lebhaft zu erweken, und eine Zeitlang zu un-
terhalten. Da wird ſie als ein Mittel gebraucht,
den Menſchen, durch ihre unwiederſtehliche Kraft zu
Entſchließungen oder Unternehmungen aufzumun-
tern, und ſeine Wuͤrkſamkeit zu unterſtuͤzen. Dieſen
Gebrauch kann man bey verſchiedenen Gelegenheiten
von der Muſik machen.

Erſtlich wuͤrde ſie zu Kriegesgeſaͤngen, welche
bey den Griechen gebraͤuchlich waren, mit großen
Vortheil angewendet werden. Eine ganz ausneh-
mende Wuͤrkung den Muth anzuflammen, wuͤrde
es thun, wenn vor einem angreifenden Heer ein
Chor von vier bis fuͤnfhundert Jnſtrumenten, ein
feuriges Tonſtuͤk ſpielte, und wenn dieſes mit dem
Geſang des Heeres ſelbſt abwechſelte, oder ihn be-
gleitete. Unbegreiflich iſt es, da ſchlechterdings kein
kraͤftigeres Mittel iſt, den Muth anzufeuren, als
der Geſang, daß man es, da es einmal eingefuͤhrt
geweſen, wieder abgeſchaft hat. Einem verſtaͤndi-
gen Tonſezer wuͤrd es leicht werden, den beſondern
Charakter ſolcher Stuͤke zu treffen, und das, was
ſie in Anſehung der Regeln des Sazes beſonders
haben muͤßten, zu beſtimmen. Der Saz ſolcher
Stuͤke wuͤrde durch ungleich weniger Regeln einge-
ſchraͤnkt ſeyn, als der fuͤr Tonſtuͤke, wo jede Klei-
nigkeit in einzelen Stimmen, ſchon gute oder ſchlechte
Wuͤrkung thun kann. Jch habe zu meiner eigenen
Verwundrung erfahren, daß die unregelmaͤßigſte
Muſik, die moͤglich iſt, da hundert unwiſſende Tuͤr-
ken, jeder mit ſeinem Jnſtrument nach Gutduͤnken
geleyert, oder geraſet hat, worin nichts ordentliches
war, als daß eine Art Trommel dieſes Geraͤuſche
nach einem Takt abmaaß, — daß dieſe Muſik, be-
ſonders in einiger Entfernung, mich in lebhafte
Empfindung geſezt hat.

Zweytens, zu wichtigen Nationalgeſaͤngen, und
uͤberhaupt zu politiſchen Feyerlichkeiten, zu denen ſich
ein betraͤchtlicher Theil der Einwohner einer Stadt
verſammelt. Dergleichen ſind Huldigungen, Be-
graͤbniſſe verſtorbener wahrer Landesvaͤter, Feſte
zum Andenken großer Staatsbegebenheiten, und
andere Nationalfeyerlichkeiten, die zum Theil aus
dem Gebrauch gekommen, aber wieder einge-
fuͤhrt zu werden, verdienten. Dabey koͤnnte die

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[786[768]/0203] Muſ Muſ ſich von andern auszeichnete, an ſich hatte. Ge- genwaͤrtig, da die Muſik unter den verſchiedenen Voͤlkern von Europa, beſonders unter den Haͤnden der Virtuoſen, die Einfoͤrmigkeit ihres Charakters nicht mehr hat, und da ſowol die deutſche, als die franzoͤſiſche Jugend, alle Arten der Tanzmelodien, auch Concerte, Sonaten und Arien von allen moͤg- lichen Charakteren durch einander ſpielt, und hoͤret, und ſich in allen Arten der Taͤnze uͤbet; ſo iſt auch die Einfoͤrmigkeit des Eindruks dadurch aufgehoben worden. Das Nationale hat ſich in der Muſik, ſo wie in der Poeſie groͤßtentheils verlohren. Darum dienet auch die Muſik gegenwaͤrtig, nicht mehr in dem Grad, als ehedem, zur Bildung jugendlicher Gemuͤther. Dennoch koͤnnte ſie noch dazu gebraucht werden, wenn die, denen die Erziehung aufgetragen iſt, die- ſes Geſchaͤft nach einem gruͤndlichen Plan betrieben. Denn da jede leidenſchaftliche Empfindung durch die Muſik in den Gemuͤthern kann erwekt werden, ſo duͤrfte man nun der Jugend, bey welcher eine ge- wiſſe Art der Empfindung herrſchend ſeyn ſollte, auch vorzuͤglich ſolche Stuͤke, die dieſen Charakter haben, in gehoͤriger Mannigfaltigkeit zum Singen, Spiehlen und Tanzen vorlegen. Das bloße Anhoͤ- ren der Muſik, auch ſelbſt das Mitſpiehlen, ſind aber noch nicht hinreichend; es muß noch das Mit- ſingen, und in andern Faͤllen das Tanzen dazu kom- men. Und ſo war es bey den Griechen, bey de- nen das Wort Muſik einen weit ausgedaͤhntern Be- griff ausdrukte, als bey uns. Freylich wuͤrde hiezu erfodert, daß die, welche in der Muſik unterrichten, weit ſorgfaͤltiger, als gemeiniglich geſchieht, darauf ſaͤhen, daß die Jugend mit wahrem Nachdruk und wahrer Empfindung jedes Stuͤk ſaͤnge, oder ſpiehlte, und daß dergleichen Uebungen durch die Menge de- rer, die ſie geſellſchaftlich trieben, nachdruͤklicher wuͤrden. Die groͤßte Fertigkeit im Spiehlen und Singen, und die zierlichſten Mameren, auf welche man faſt allein ſieht, tragen gar wenig zu dem groſ- ſen Zwek, von dem hier die Rede iſt, bey: wer nicht mit Empfindung ſingt, auf den wuͤrket auch der Geſang nichts. Jn dieſem Stuͤk waͤre, wenn die Muſik eben in dem Grad, wie ehedem geſchehen iſt, zur Bildung der Jugend dienen ſollte, eine gaͤnzli- che Verbeſſerung des Unterrichts und der Uebungen in der Kunſt, nothwendig, welche in unſern Zeiten nicht zu erwarten iſt. Auf dieſe allgemeine Anwendung der Muſik fol- gen die beſondern Anwendungen derſelben, gewiſſe Empfindungen bey oͤffentlichen ſehr wichtigen Gele- genheiten, in den Gemuͤthern zu einen beſtimmten Zwek, lebhaft zu erweken, und eine Zeitlang zu un- terhalten. Da wird ſie als ein Mittel gebraucht, den Menſchen, durch ihre unwiederſtehliche Kraft zu Entſchließungen oder Unternehmungen aufzumun- tern, und ſeine Wuͤrkſamkeit zu unterſtuͤzen. Dieſen Gebrauch kann man bey verſchiedenen Gelegenheiten von der Muſik machen. Erſtlich wuͤrde ſie zu Kriegesgeſaͤngen, welche bey den Griechen gebraͤuchlich waren, mit großen Vortheil angewendet werden. Eine ganz ausneh- mende Wuͤrkung den Muth anzuflammen, wuͤrde es thun, wenn vor einem angreifenden Heer ein Chor von vier bis fuͤnfhundert Jnſtrumenten, ein feuriges Tonſtuͤk ſpielte, und wenn dieſes mit dem Geſang des Heeres ſelbſt abwechſelte, oder ihn be- gleitete. Unbegreiflich iſt es, da ſchlechterdings kein kraͤftigeres Mittel iſt, den Muth anzufeuren, als der Geſang, daß man es, da es einmal eingefuͤhrt geweſen, wieder abgeſchaft hat. Einem verſtaͤndi- gen Tonſezer wuͤrd es leicht werden, den beſondern Charakter ſolcher Stuͤke zu treffen, und das, was ſie in Anſehung der Regeln des Sazes beſonders haben muͤßten, zu beſtimmen. Der Saz ſolcher Stuͤke wuͤrde durch ungleich weniger Regeln einge- ſchraͤnkt ſeyn, als der fuͤr Tonſtuͤke, wo jede Klei- nigkeit in einzelen Stimmen, ſchon gute oder ſchlechte Wuͤrkung thun kann. Jch habe zu meiner eigenen Verwundrung erfahren, daß die unregelmaͤßigſte Muſik, die moͤglich iſt, da hundert unwiſſende Tuͤr- ken, jeder mit ſeinem Jnſtrument nach Gutduͤnken geleyert, oder geraſet hat, worin nichts ordentliches war, als daß eine Art Trommel dieſes Geraͤuſche nach einem Takt abmaaß, — daß dieſe Muſik, be- ſonders in einiger Entfernung, mich in lebhafte Empfindung geſezt hat. Zweytens, zu wichtigen Nationalgeſaͤngen, und uͤberhaupt zu politiſchen Feyerlichkeiten, zu denen ſich ein betraͤchtlicher Theil der Einwohner einer Stadt verſammelt. Dergleichen ſind Huldigungen, Be- graͤbniſſe verſtorbener wahrer Landesvaͤter, Feſte zum Andenken großer Staatsbegebenheiten, und andere Nationalfeyerlichkeiten, die zum Theil aus dem Gebrauch gekommen, aber wieder einge- fuͤhrt zu werden, verdienten. Dabey koͤnnte die Muſik,

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 786[768]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/203>, abgerufen am 06.05.2024.