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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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[Spaltenumbruch]

Mus
kann; diese reizet also den Körper selbst zur Bewe-
wegung; sie hat würklich eine körperliche Kraft, wo-
durch die zur Bewegung dienenden Nerven angegrif-
fen werden. Es ist glaublich, daß durch Musik der
Umlauf des Geblüthes etwas angehalten, oder beför-
dert werden könne. Bekannt sind die Geschichten
von dem Einflus der Musik auf gewisse Krankheiten;
und obgleich verschiedenes darin fabelhaft seyn mag,
so wird dem, welcher die Kraft der Musik auf die
Bewegungen des Körpers genau beobachtet hat,
wahrscheinlich, daß auch Krankheiten dadurch würk-
lich können gemildert, oder vermehret werden. Daß
Menschen in schweeren Anfällen des Wahnwizes
durch Musik etwas besänftiget, gesunde Menschen
aber in so heftige Leidenschaft können gesezt werden,
daß sie bis auf einen geringen Grad der Raserey
kommen, kann gar nicht geläugnet werden. Hier-
aus aber ist offenbar, daß die Musik an Kraft alle
anderen Künste weit übertreffe.

Aus diesem Grunde ist hier mehr, als sonst ir-
gend bey einer andern Kunst nöthig, daß sie in ih-
rer Anwendung durch Weißheit geleitet werde. Des-
wegen ist in einigen griechischen Staaten, als sie noch
in ihrer durch die Geseze richtig bestimmten gesun-
den Form waren, dieser Punkt ein Gegenstand der
Geseze gewesen. Er verdienet, daß wir ihn hier in
nähere Betrachtung ziehen.

Man braucht die Musik entweder in allgemeinen
oder besonders bestimmten Absichten; bey öffentli-
chen, oder bey Privatangelegenheiten. Es gehöret
zur Theorie der Kunst, daß diese Fälle genau erwo-
gen werden, und daß der wahre Geist der Musik
für jeden bestimmt werde. Damit wir das, was
in den besondern Artikeln über die Gattungen und
Arten der Tonstüke vergessen, oder sonst aus der
Acht gelassen worden, einigermaaßen ersezen, und
einem Kenner der künftig in Absicht auf die Musik
allein, ein dem unsrigen ähnliches Werk zu schrei-
ben unternehmen möchte, Gelegenheit geben, alles
vollständig abzuhandeln, wird es gut seyn, wenn
hier die Hauptpunkte dieser nicht unwichtigen Ma-
terie wol bestimmt werden.

Die allgemeineste Absicht, die man bey der An-
wendung der Musik haben kann, ist die Bildung der
[Spaltenumbruch]

Mus
Gemüther bey der Erziehung. Daß sie dazu würk-
lich viel beytrage, haben verschiedene griechische
Völker eingesehen, (+) und es ist auch schon erinnert
worden, daß die alten Celten, sie hiezu angewendet
haben. (*) Jn unsern Zeiten ist es zwar auch nicht
ganz ungewöhnlich, die Erlernung der Musik, als
einen Theil einer guten Erziehung anzusehen; aber
man hält die Fertigkeit darin mehr für eine bloße
Zierde junger Personen von feinerer Lebensart, als
für ein Mittel die Gemüther zu bilden. Es scheinet
deswegen nicht überflüßig, daß die Fähigkeit dieser
Kunst, zu jener wichtigen Absicht zu dienen, wovon
man gegenwärtig zu eingeschränkte Begriffe hat,
hier ins Licht gesezt werde.

Allem Ansehen nach hat in den ältern Zeiten Grie-
chenlands jeder Stamm dieses geistreichen und em-
pfindsamen Volkes seine eigene, durch einen beson-
dern Charakter ausgezeichnete Musik gehabt. Die-
ses Eigene bestund vermuthlich nicht blos in der Art
der Tonleiter, und der daraus entstehenden beson-
dern Modulation; sondern es läßt sich vermuthen,
daß auch Takt, Bewegung und Rhythmus bey je-
dem Volk oder Stamm, ihre besondere Art gehabt
haben. Davon haben wir noch gegenwärtig einige
Beyspiele an den Nationalmelodien einiger neuen
Völker, die, so mannigfaltig sie auch sonst, jede in
ihrer Art, sind, allemal einen Charakter behalten,
der sie von den Gesängen andrer Völker unterschei-
det. Ein Schottisches Lied, ist allemal von einem
französischen und beyde von einem italiänischen, oder
deutschen, so wie jedes von dem gemeinen Volke ge-
sungen wird, merklich unterschieden.

Hieraus läßt sich nun schon etwas von dem Ein-
fluß der Musik auf die Bildung der Gemüther schlies-
sen. Wenn die Jugend jeder Nation ehedem be-
ständig blos in ihren eigenen Nationalgesängen ge-
übet worden, so konnte es nicht wol anders seyn,
als daß die Gemüther allmählig die Eindrüke ihres
besondern Charakters annehmen mußten. Denn
eben aus solchen wiederholten Eindrüken von einer-
ley Art, entstehen überhaupt die Nationalcharaktete.
Darum verwies Plato die lydische Tonart aus seiner
Republik, weil sie bey einem gewissen äußerlichen
Schimmer, das Weichliche, wodurch dieser Stamm

sich
(+) Assentior Platoni, nihil tam facile in animos tene-
ros atque molles influere quam varios canendi sonos, quo-
rum dici vix potest, quanta sit vis in utramque partem. Nam-
[Spaltenumbruch] que et incitat languentes et languesacit excitatos, et tum re-
mittit animos, tum contrahit. Cicero de Legib. L. II.
(*) S.
Lied. S.
715.

[Spaltenumbruch]

Muſ
kann; dieſe reizet alſo den Koͤrper ſelbſt zur Bewe-
wegung; ſie hat wuͤrklich eine koͤrperliche Kraft, wo-
durch die zur Bewegung dienenden Nerven angegrif-
fen werden. Es iſt glaublich, daß durch Muſik der
Umlauf des Gebluͤthes etwas angehalten, oder befoͤr-
dert werden koͤnne. Bekannt ſind die Geſchichten
von dem Einflus der Muſik auf gewiſſe Krankheiten;
und obgleich verſchiedenes darin fabelhaft ſeyn mag,
ſo wird dem, welcher die Kraft der Muſik auf die
Bewegungen des Koͤrpers genau beobachtet hat,
wahrſcheinlich, daß auch Krankheiten dadurch wuͤrk-
lich koͤnnen gemildert, oder vermehret werden. Daß
Menſchen in ſchweeren Anfaͤllen des Wahnwizes
durch Muſik etwas beſaͤnftiget, geſunde Menſchen
aber in ſo heftige Leidenſchaft koͤnnen geſezt werden,
daß ſie bis auf einen geringen Grad der Raſerey
kommen, kann gar nicht gelaͤugnet werden. Hier-
aus aber iſt offenbar, daß die Muſik an Kraft alle
anderen Kuͤnſte weit uͤbertreffe.

Aus dieſem Grunde iſt hier mehr, als ſonſt ir-
gend bey einer andern Kunſt noͤthig, daß ſie in ih-
rer Anwendung durch Weißheit geleitet werde. Des-
wegen iſt in einigen griechiſchen Staaten, als ſie noch
in ihrer durch die Geſeze richtig beſtimmten geſun-
den Form waren, dieſer Punkt ein Gegenſtand der
Geſeze geweſen. Er verdienet, daß wir ihn hier in
naͤhere Betrachtung ziehen.

Man braucht die Muſik entweder in allgemeinen
oder beſonders beſtimmten Abſichten; bey oͤffentli-
chen, oder bey Privatangelegenheiten. Es gehoͤret
zur Theorie der Kunſt, daß dieſe Faͤlle genau erwo-
gen werden, und daß der wahre Geiſt der Muſik
fuͤr jeden beſtimmt werde. Damit wir das, was
in den beſondern Artikeln uͤber die Gattungen und
Arten der Tonſtuͤke vergeſſen, oder ſonſt aus der
Acht gelaſſen worden, einigermaaßen erſezen, und
einem Kenner der kuͤnftig in Abſicht auf die Muſik
allein, ein dem unſrigen aͤhnliches Werk zu ſchrei-
ben unternehmen moͤchte, Gelegenheit geben, alles
vollſtaͤndig abzuhandeln, wird es gut ſeyn, wenn
hier die Hauptpunkte dieſer nicht unwichtigen Ma-
terie wol beſtimmt werden.

Die allgemeineſte Abſicht, die man bey der An-
wendung der Muſik haben kann, iſt die Bildung der
[Spaltenumbruch]

Muſ
Gemuͤther bey der Erziehung. Daß ſie dazu wuͤrk-
lich viel beytrage, haben verſchiedene griechiſche
Voͤlker eingeſehen, (†) und es iſt auch ſchon erinnert
worden, daß die alten Celten, ſie hiezu angewendet
haben. (*) Jn unſern Zeiten iſt es zwar auch nicht
ganz ungewoͤhnlich, die Erlernung der Muſik, als
einen Theil einer guten Erziehung anzuſehen; aber
man haͤlt die Fertigkeit darin mehr fuͤr eine bloße
Zierde junger Perſonen von feinerer Lebensart, als
fuͤr ein Mittel die Gemuͤther zu bilden. Es ſcheinet
deswegen nicht uͤberfluͤßig, daß die Faͤhigkeit dieſer
Kunſt, zu jener wichtigen Abſicht zu dienen, wovon
man gegenwaͤrtig zu eingeſchraͤnkte Begriffe hat,
hier ins Licht geſezt werde.

Allem Anſehen nach hat in den aͤltern Zeiten Grie-
chenlands jeder Stamm dieſes geiſtreichen und em-
pfindſamen Volkes ſeine eigene, durch einen beſon-
dern Charakter ausgezeichnete Muſik gehabt. Die-
ſes Eigene beſtund vermuthlich nicht blos in der Art
der Tonleiter, und der daraus entſtehenden beſon-
dern Modulation; ſondern es laͤßt ſich vermuthen,
daß auch Takt, Bewegung und Rhythmus bey je-
dem Volk oder Stamm, ihre beſondere Art gehabt
haben. Davon haben wir noch gegenwaͤrtig einige
Beyſpiele an den Nationalmelodien einiger neuen
Voͤlker, die, ſo mannigfaltig ſie auch ſonſt, jede in
ihrer Art, ſind, allemal einen Charakter behalten,
der ſie von den Geſaͤngen andrer Voͤlker unterſchei-
det. Ein Schottiſches Lied, iſt allemal von einem
franzoͤſiſchen und beyde von einem italiaͤniſchen, oder
deutſchen, ſo wie jedes von dem gemeinen Volke ge-
ſungen wird, merklich unterſchieden.

Hieraus laͤßt ſich nun ſchon etwas von dem Ein-
fluß der Muſik auf die Bildung der Gemuͤther ſchlieſ-
ſen. Wenn die Jugend jeder Nation ehedem be-
ſtaͤndig blos in ihren eigenen Nationalgeſaͤngen ge-
uͤbet worden, ſo konnte es nicht wol anders ſeyn,
als daß die Gemuͤther allmaͤhlig die Eindruͤke ihres
beſondern Charakters annehmen mußten. Denn
eben aus ſolchen wiederholten Eindruͤken von einer-
ley Art, entſtehen uͤberhaupt die Nationalcharaktete.
Darum verwies Plato die lydiſche Tonart aus ſeiner
Republik, weil ſie bey einem gewiſſen aͤußerlichen
Schimmer, das Weichliche, wodurch dieſer Stamm

ſich
(†) Aſſentior Platoni, nihil tam facile in animos tene-
ros atque molles influere quam varios canendi ſonos, quo-
rum dici vix poteſt, quanta ſit vis in utramque partem. Nam-
[Spaltenumbruch] que et incitat languentes et langueſacit excitatos, et tum re-
mittit animos, tum contrahit. Cicero de Legib. L. II.
(*) S.
Lied. S.
715.
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[785[767]/0202] Muſ Muſ kann; dieſe reizet alſo den Koͤrper ſelbſt zur Bewe- wegung; ſie hat wuͤrklich eine koͤrperliche Kraft, wo- durch die zur Bewegung dienenden Nerven angegrif- fen werden. Es iſt glaublich, daß durch Muſik der Umlauf des Gebluͤthes etwas angehalten, oder befoͤr- dert werden koͤnne. Bekannt ſind die Geſchichten von dem Einflus der Muſik auf gewiſſe Krankheiten; und obgleich verſchiedenes darin fabelhaft ſeyn mag, ſo wird dem, welcher die Kraft der Muſik auf die Bewegungen des Koͤrpers genau beobachtet hat, wahrſcheinlich, daß auch Krankheiten dadurch wuͤrk- lich koͤnnen gemildert, oder vermehret werden. Daß Menſchen in ſchweeren Anfaͤllen des Wahnwizes durch Muſik etwas beſaͤnftiget, geſunde Menſchen aber in ſo heftige Leidenſchaft koͤnnen geſezt werden, daß ſie bis auf einen geringen Grad der Raſerey kommen, kann gar nicht gelaͤugnet werden. Hier- aus aber iſt offenbar, daß die Muſik an Kraft alle anderen Kuͤnſte weit uͤbertreffe. Aus dieſem Grunde iſt hier mehr, als ſonſt ir- gend bey einer andern Kunſt noͤthig, daß ſie in ih- rer Anwendung durch Weißheit geleitet werde. Des- wegen iſt in einigen griechiſchen Staaten, als ſie noch in ihrer durch die Geſeze richtig beſtimmten geſun- den Form waren, dieſer Punkt ein Gegenſtand der Geſeze geweſen. Er verdienet, daß wir ihn hier in naͤhere Betrachtung ziehen. Man braucht die Muſik entweder in allgemeinen oder beſonders beſtimmten Abſichten; bey oͤffentli- chen, oder bey Privatangelegenheiten. Es gehoͤret zur Theorie der Kunſt, daß dieſe Faͤlle genau erwo- gen werden, und daß der wahre Geiſt der Muſik fuͤr jeden beſtimmt werde. Damit wir das, was in den beſondern Artikeln uͤber die Gattungen und Arten der Tonſtuͤke vergeſſen, oder ſonſt aus der Acht gelaſſen worden, einigermaaßen erſezen, und einem Kenner der kuͤnftig in Abſicht auf die Muſik allein, ein dem unſrigen aͤhnliches Werk zu ſchrei- ben unternehmen moͤchte, Gelegenheit geben, alles vollſtaͤndig abzuhandeln, wird es gut ſeyn, wenn hier die Hauptpunkte dieſer nicht unwichtigen Ma- terie wol beſtimmt werden. Die allgemeineſte Abſicht, die man bey der An- wendung der Muſik haben kann, iſt die Bildung der Gemuͤther bey der Erziehung. Daß ſie dazu wuͤrk- lich viel beytrage, haben verſchiedene griechiſche Voͤlker eingeſehen, (†) und es iſt auch ſchon erinnert worden, daß die alten Celten, ſie hiezu angewendet haben. (*) Jn unſern Zeiten iſt es zwar auch nicht ganz ungewoͤhnlich, die Erlernung der Muſik, als einen Theil einer guten Erziehung anzuſehen; aber man haͤlt die Fertigkeit darin mehr fuͤr eine bloße Zierde junger Perſonen von feinerer Lebensart, als fuͤr ein Mittel die Gemuͤther zu bilden. Es ſcheinet deswegen nicht uͤberfluͤßig, daß die Faͤhigkeit dieſer Kunſt, zu jener wichtigen Abſicht zu dienen, wovon man gegenwaͤrtig zu eingeſchraͤnkte Begriffe hat, hier ins Licht geſezt werde. Allem Anſehen nach hat in den aͤltern Zeiten Grie- chenlands jeder Stamm dieſes geiſtreichen und em- pfindſamen Volkes ſeine eigene, durch einen beſon- dern Charakter ausgezeichnete Muſik gehabt. Die- ſes Eigene beſtund vermuthlich nicht blos in der Art der Tonleiter, und der daraus entſtehenden beſon- dern Modulation; ſondern es laͤßt ſich vermuthen, daß auch Takt, Bewegung und Rhythmus bey je- dem Volk oder Stamm, ihre beſondere Art gehabt haben. Davon haben wir noch gegenwaͤrtig einige Beyſpiele an den Nationalmelodien einiger neuen Voͤlker, die, ſo mannigfaltig ſie auch ſonſt, jede in ihrer Art, ſind, allemal einen Charakter behalten, der ſie von den Geſaͤngen andrer Voͤlker unterſchei- det. Ein Schottiſches Lied, iſt allemal von einem franzoͤſiſchen und beyde von einem italiaͤniſchen, oder deutſchen, ſo wie jedes von dem gemeinen Volke ge- ſungen wird, merklich unterſchieden. Hieraus laͤßt ſich nun ſchon etwas von dem Ein- fluß der Muſik auf die Bildung der Gemuͤther ſchlieſ- ſen. Wenn die Jugend jeder Nation ehedem be- ſtaͤndig blos in ihren eigenen Nationalgeſaͤngen ge- uͤbet worden, ſo konnte es nicht wol anders ſeyn, als daß die Gemuͤther allmaͤhlig die Eindruͤke ihres beſondern Charakters annehmen mußten. Denn eben aus ſolchen wiederholten Eindruͤken von einer- ley Art, entſtehen uͤberhaupt die Nationalcharaktete. Darum verwies Plato die lydiſche Tonart aus ſeiner Republik, weil ſie bey einem gewiſſen aͤußerlichen Schimmer, das Weichliche, wodurch dieſer Stamm ſich (†) Aſſentior Platoni, nihil tam facile in animos tene- ros atque molles influere quam varios canendi ſonos, quo- rum dici vix poteſt, quanta ſit vis in utramque partem. Nam- que et incitat languentes et langueſacit excitatos, et tum re- mittit animos, tum contrahit. Cicero de Legib. L. II. (*) S. Lied. S. 715.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 785[767]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/202>, abgerufen am 06.05.2024.