tur bey den Leidenschaften gemäße Weise. Jeden dieser Punkte müssen wir näher betrachten.
Der Zwek ist keinem Zweifel unterworfen, da es gewiß ist, daß die Lust sich in Empfindung zu unter- halten, und sie zu verstärken, den ersten Keim der Musik hervorgebracht hat. Von allen Empfindun- gen aber scheinet die Fröhlichkeit den ersten Schritt zum Gesang gethan zu haben; den nächsten aber die Begierde sich selbst in schweerer Arbeit zu ermun- tern. Weil dieses auf eine doppelte Weise gesche- hen kann; entweder blos durch Erleichterung, da vermittelst mannigfaltiger Einförmigkeit, die Auf- merksamkeit von dem Beschwerlichen auf das Ange- nehme gelenkt wird, oder durch würkliche Aufmun- terung vermittelst beseelter Töne und lebhafter Be- wegung; so ziehlt die Musik im ersten Fall auf eine Art der Bezauberung oder Ergreifung der Sinnen, im andern aber auf Anfeurung der Leibes- und Ge- müthskräfte. Die zärtlichen, tranrigen und die ver- drießlichen Empfindungen scheinet die blos natürli- che Musik gar nicht, oder sehr selten zum Zwek zu haben. Aber nachdem man einmal erfahren hatte, daß auch Leidenschaften dieser Art, sich durch die Kunst höchst nachdrüklich schildern, folglich auch in den Gemüthern erweken lassen, so ist sie auch dazu an- gewendet worden. Da auch ferner die mehrere, oder mindere Lebhaftigkeit, und die Art, wie sich die Lei- denschaften bey einzeln Menschen äußern, den wich- tigsten Einflus auf seinem sittlichen Charakter haben, so kann auch gar ofte das sittliche einzeler Menschen und ganzer Völker, in so fern es sich empfinden läßt, durch Musik ausgedrükt werden. Und in der That sind die Nationalgesänge und die damit verbun- denen Tänze, eine getreue Schilderung der Sitten. Sie sind munter, oder ernsthaft, sanft oder unge- stühm, fein oder nachläßig, wie die Sitten der Völ- ker selbst.
Daß aber die Musik Gegenstände der Vorstellungs- kraft, die blos durch die überlegte Kenntnis ihrer Beschaffenheit, einigen Einflus, oder auch wol gar keine Beziehung auf die Empfindung haben, schil- dern soll, davon kann man keinen Grund entdeken. Zum Ausdruk der Gedanken und der Vorstellungen ist die Sprach erfunden; diese, nicht die Musik sucht zu unterrichten, und der Phantasie Bilder vor- zuhalten. Es ist dem Zwek der Musik entgegen, daß dergleichen Bilder geschildert werden. (*) Ueber- haupt also würket die Musik auf den Menschen nicht [Spaltenumbruch]
Mus
in so fern er denkt, oder Vorstellungskräfte hat, son- dern in so fern er empfindet. Also ist jedes Ton- stük, das nicht Empfindung erweket, kein Werk der ächten Musik. Und wenn die Töne noch so künst- lich auf einander folgten, die Harmonie noch so mü- hesam überlegt, und nach den schweeresten Regeln richtig wäre, so ist das Stük, das uns nichts von den erwähnten Empfindungen ins Herze legt, nichts werth. Der Zuhörer, für den ein Tonstük ge- macht ist, wenn er auch nichts von der Kunst ver- steht, nur muß er ein empfindsames Herz haben, kann allemal entscheiden, ob ein Stük gut oder schlecht ist: ist es seinem Herzen nicht verständlich, so sag er dreiste, es sey dem Zwek nicht gemäß, und tauge nichts; fühlet er aber sein Herz dadurch angegrif- fen, so kann er ohne Bedenken es für gut erklären; der Zwek ist dadurch erreicht worden. Alles aber, wodurch der Zwek erreicht wird, ist gut. Ob es aber nicht noch besser hätte seyn können, ob der Tonsezer nicht manches, aus Mangel der Kunst oder des Geschmaks, verschwächt, oder verdorben habe, und dergleichen Fragen, überlasse man den Kunstverständigen zu beantworten. Denn nur diese kennen die Mittel zum Zwek zu gelangen, und können von ihrer mehrern, oder mindern Kraft urtheilen.
Es scheinet sehr nothwendig, sowol die Meister der Kunst, als die bloßen Liebhaber des Zweks zu erinnern, da jene sich so gar ofte bemühen, durch blos künstliche Sachen, durch Sprünge, Läufe und Harmonien, die nichts sagen, aber schweer zu ma- chen sind, Beyfall zu suchen, diese, ihn so unüber- legt, am meisten dem geben, der so künstlich, als ein Seiltänzer gespiehlt, oder gesungen, und dem der im Saz so viel Schwierigkeiten überwunden hat, als der, der auf einem Pferde stehend in vollem Gallop davon jaget. Wie viel natürlicher ist es nicht, mit dem Agesilaus den Gesang einer würkli- chen Nachtigall, einem ihm nachahmenden Tonstük vorzuziehen?
Nach dem Zwek kommen die Mittel in Betrach- tung, in deren Kenntnis und Gebrauch eigentlich die Kunst besteht. Hier ist also die Frage zu beant- worten, wie die Töne zu einer verständlichen Spra- che der Empfindung werden, und wie eine Folge von Tönen zusammenzusezen sey, daß der, der sie höret, in Empfindung gesezt, eine Zeitlang darin unterhalten und durch sanften Zwang genöthiget
werde,
(*) S. Mahlerey in der Musik.
D d d d d 3
[Spaltenumbruch]
Muſ
tur bey den Leidenſchaften gemaͤße Weiſe. Jeden dieſer Punkte muͤſſen wir naͤher betrachten.
Der Zwek iſt keinem Zweifel unterworfen, da es gewiß iſt, daß die Luſt ſich in Empfindung zu unter- halten, und ſie zu verſtaͤrken, den erſten Keim der Muſik hervorgebracht hat. Von allen Empfindun- gen aber ſcheinet die Froͤhlichkeit den erſten Schritt zum Geſang gethan zu haben; den naͤchſten aber die Begierde ſich ſelbſt in ſchweerer Arbeit zu ermun- tern. Weil dieſes auf eine doppelte Weiſe geſche- hen kann; entweder blos durch Erleichterung, da vermittelſt mannigfaltiger Einfoͤrmigkeit, die Auf- merkſamkeit von dem Beſchwerlichen auf das Ange- nehme gelenkt wird, oder durch wuͤrkliche Aufmun- terung vermittelſt beſeelter Toͤne und lebhafter Be- wegung; ſo ziehlt die Muſik im erſten Fall auf eine Art der Bezauberung oder Ergreifung der Sinnen, im andern aber auf Anfeurung der Leibes- und Ge- muͤthskraͤfte. Die zaͤrtlichen, tranrigen und die ver- drießlichen Empfindungen ſcheinet die blos natuͤrli- che Muſik gar nicht, oder ſehr ſelten zum Zwek zu haben. Aber nachdem man einmal erfahren hatte, daß auch Leidenſchaften dieſer Art, ſich durch die Kunſt hoͤchſt nachdruͤklich ſchildern, folglich auch in den Gemuͤthern erweken laſſen, ſo iſt ſie auch dazu an- gewendet worden. Da auch ferner die mehrere, oder mindere Lebhaftigkeit, und die Art, wie ſich die Lei- denſchaften bey einzeln Menſchen aͤußern, den wich- tigſten Einflus auf ſeinem ſittlichen Charakter haben, ſo kann auch gar ofte das ſittliche einzeler Menſchen und ganzer Voͤlker, in ſo fern es ſich empfinden laͤßt, durch Muſik ausgedruͤkt werden. Und in der That ſind die Nationalgeſaͤnge und die damit verbun- denen Taͤnze, eine getreue Schilderung der Sitten. Sie ſind munter, oder ernſthaft, ſanft oder unge- ſtuͤhm, fein oder nachlaͤßig, wie die Sitten der Voͤl- ker ſelbſt.
Daß aber die Muſik Gegenſtaͤnde der Vorſtellungs- kraft, die blos durch die uͤberlegte Kenntnis ihrer Beſchaffenheit, einigen Einflus, oder auch wol gar keine Beziehung auf die Empfindung haben, ſchil- dern ſoll, davon kann man keinen Grund entdeken. Zum Ausdruk der Gedanken und der Vorſtellungen iſt die Sprach erfunden; dieſe, nicht die Muſik ſucht zu unterrichten, und der Phantaſie Bilder vor- zuhalten. Es iſt dem Zwek der Muſik entgegen, daß dergleichen Bilder geſchildert werden. (*) Ueber- haupt alſo wuͤrket die Muſik auf den Menſchen nicht [Spaltenumbruch]
Muſ
in ſo fern er denkt, oder Vorſtellungskraͤfte hat, ſon- dern in ſo fern er empfindet. Alſo iſt jedes Ton- ſtuͤk, das nicht Empfindung erweket, kein Werk der aͤchten Muſik. Und wenn die Toͤne noch ſo kuͤnſt- lich auf einander folgten, die Harmonie noch ſo muͤ- heſam uͤberlegt, und nach den ſchweereſten Regeln richtig waͤre, ſo iſt das Stuͤk, das uns nichts von den erwaͤhnten Empfindungen ins Herze legt, nichts werth. Der Zuhoͤrer, fuͤr den ein Tonſtuͤk ge- macht iſt, wenn er auch nichts von der Kunſt ver- ſteht, nur muß er ein empfindſames Herz haben, kann allemal entſcheiden, ob ein Stuͤk gut oder ſchlecht iſt: iſt es ſeinem Herzen nicht verſtaͤndlich, ſo ſag er dreiſte, es ſey dem Zwek nicht gemaͤß, und tauge nichts; fuͤhlet er aber ſein Herz dadurch angegrif- fen, ſo kann er ohne Bedenken es fuͤr gut erklaͤren; der Zwek iſt dadurch erreicht worden. Alles aber, wodurch der Zwek erreicht wird, iſt gut. Ob es aber nicht noch beſſer haͤtte ſeyn koͤnnen, ob der Tonſezer nicht manches, aus Mangel der Kunſt oder des Geſchmaks, verſchwaͤcht, oder verdorben habe, und dergleichen Fragen, uͤberlaſſe man den Kunſtverſtaͤndigen zu beantworten. Denn nur dieſe kennen die Mittel zum Zwek zu gelangen, und koͤnnen von ihrer mehrern, oder mindern Kraft urtheilen.
Es ſcheinet ſehr nothwendig, ſowol die Meiſter der Kunſt, als die bloßen Liebhaber des Zweks zu erinnern, da jene ſich ſo gar ofte bemuͤhen, durch blos kuͤnſtliche Sachen, durch Spruͤnge, Laͤufe und Harmonien, die nichts ſagen, aber ſchweer zu ma- chen ſind, Beyfall zu ſuchen, dieſe, ihn ſo unuͤber- legt, am meiſten dem geben, der ſo kuͤnſtlich, als ein Seiltaͤnzer geſpiehlt, oder geſungen, und dem der im Saz ſo viel Schwierigkeiten uͤberwunden hat, als der, der auf einem Pferde ſtehend in vollem Gallop davon jaget. Wie viel natuͤrlicher iſt es nicht, mit dem Ageſilaus den Geſang einer wuͤrkli- chen Nachtigall, einem ihm nachahmenden Tonſtuͤk vorzuziehen?
Nach dem Zwek kommen die Mittel in Betrach- tung, in deren Kenntnis und Gebrauch eigentlich die Kunſt beſteht. Hier iſt alſo die Frage zu beant- worten, wie die Toͤne zu einer verſtaͤndlichen Spra- che der Empfindung werden, und wie eine Folge von Toͤnen zuſammenzuſezen ſey, daß der, der ſie hoͤret, in Empfindung geſezt, eine Zeitlang darin unterhalten und durch ſanften Zwang genoͤthiget
werde,
(*) S. Mahlerey in der Muſik.
D d d d d 3
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[783[765]/0200]
Muſ
Muſ
tur bey den Leidenſchaften gemaͤße Weiſe. Jeden
dieſer Punkte muͤſſen wir naͤher betrachten.
Der Zwek iſt keinem Zweifel unterworfen, da es
gewiß iſt, daß die Luſt ſich in Empfindung zu unter-
halten, und ſie zu verſtaͤrken, den erſten Keim der
Muſik hervorgebracht hat. Von allen Empfindun-
gen aber ſcheinet die Froͤhlichkeit den erſten Schritt
zum Geſang gethan zu haben; den naͤchſten aber die
Begierde ſich ſelbſt in ſchweerer Arbeit zu ermun-
tern. Weil dieſes auf eine doppelte Weiſe geſche-
hen kann; entweder blos durch Erleichterung, da
vermittelſt mannigfaltiger Einfoͤrmigkeit, die Auf-
merkſamkeit von dem Beſchwerlichen auf das Ange-
nehme gelenkt wird, oder durch wuͤrkliche Aufmun-
terung vermittelſt beſeelter Toͤne und lebhafter Be-
wegung; ſo ziehlt die Muſik im erſten Fall auf eine
Art der Bezauberung oder Ergreifung der Sinnen,
im andern aber auf Anfeurung der Leibes- und Ge-
muͤthskraͤfte. Die zaͤrtlichen, tranrigen und die ver-
drießlichen Empfindungen ſcheinet die blos natuͤrli-
che Muſik gar nicht, oder ſehr ſelten zum Zwek zu
haben. Aber nachdem man einmal erfahren hatte,
daß auch Leidenſchaften dieſer Art, ſich durch die
Kunſt hoͤchſt nachdruͤklich ſchildern, folglich auch in
den Gemuͤthern erweken laſſen, ſo iſt ſie auch dazu an-
gewendet worden. Da auch ferner die mehrere, oder
mindere Lebhaftigkeit, und die Art, wie ſich die Lei-
denſchaften bey einzeln Menſchen aͤußern, den wich-
tigſten Einflus auf ſeinem ſittlichen Charakter haben,
ſo kann auch gar ofte das ſittliche einzeler Menſchen
und ganzer Voͤlker, in ſo fern es ſich empfinden
laͤßt, durch Muſik ausgedruͤkt werden. Und in der
That ſind die Nationalgeſaͤnge und die damit verbun-
denen Taͤnze, eine getreue Schilderung der Sitten.
Sie ſind munter, oder ernſthaft, ſanft oder unge-
ſtuͤhm, fein oder nachlaͤßig, wie die Sitten der Voͤl-
ker ſelbſt.
Daß aber die Muſik Gegenſtaͤnde der Vorſtellungs-
kraft, die blos durch die uͤberlegte Kenntnis ihrer
Beſchaffenheit, einigen Einflus, oder auch wol gar
keine Beziehung auf die Empfindung haben, ſchil-
dern ſoll, davon kann man keinen Grund entdeken.
Zum Ausdruk der Gedanken und der Vorſtellungen
iſt die Sprach erfunden; dieſe, nicht die Muſik
ſucht zu unterrichten, und der Phantaſie Bilder vor-
zuhalten. Es iſt dem Zwek der Muſik entgegen,
daß dergleichen Bilder geſchildert werden. (*) Ueber-
haupt alſo wuͤrket die Muſik auf den Menſchen nicht
in ſo fern er denkt, oder Vorſtellungskraͤfte hat, ſon-
dern in ſo fern er empfindet. Alſo iſt jedes Ton-
ſtuͤk, das nicht Empfindung erweket, kein Werk der
aͤchten Muſik. Und wenn die Toͤne noch ſo kuͤnſt-
lich auf einander folgten, die Harmonie noch ſo muͤ-
heſam uͤberlegt, und nach den ſchweereſten Regeln
richtig waͤre, ſo iſt das Stuͤk, das uns nichts von
den erwaͤhnten Empfindungen ins Herze legt, nichts
werth. Der Zuhoͤrer, fuͤr den ein Tonſtuͤk ge-
macht iſt, wenn er auch nichts von der Kunſt ver-
ſteht, nur muß er ein empfindſames Herz haben,
kann allemal entſcheiden, ob ein Stuͤk gut oder ſchlecht
iſt: iſt es ſeinem Herzen nicht verſtaͤndlich, ſo ſag
er dreiſte, es ſey dem Zwek nicht gemaͤß, und tauge
nichts; fuͤhlet er aber ſein Herz dadurch angegrif-
fen, ſo kann er ohne Bedenken es fuͤr gut erklaͤren;
der Zwek iſt dadurch erreicht worden. Alles aber,
wodurch der Zwek erreicht wird, iſt gut. Ob es
aber nicht noch beſſer haͤtte ſeyn koͤnnen, ob der
Tonſezer nicht manches, aus Mangel der Kunſt
oder des Geſchmaks, verſchwaͤcht, oder verdorben
habe, und dergleichen Fragen, uͤberlaſſe man den
Kunſtverſtaͤndigen zu beantworten. Denn nur dieſe
kennen die Mittel zum Zwek zu gelangen, und
koͤnnen von ihrer mehrern, oder mindern Kraft
urtheilen.
Es ſcheinet ſehr nothwendig, ſowol die Meiſter
der Kunſt, als die bloßen Liebhaber des Zweks zu
erinnern, da jene ſich ſo gar ofte bemuͤhen, durch
blos kuͤnſtliche Sachen, durch Spruͤnge, Laͤufe und
Harmonien, die nichts ſagen, aber ſchweer zu ma-
chen ſind, Beyfall zu ſuchen, dieſe, ihn ſo unuͤber-
legt, am meiſten dem geben, der ſo kuͤnſtlich, als
ein Seiltaͤnzer geſpiehlt, oder geſungen, und dem
der im Saz ſo viel Schwierigkeiten uͤberwunden hat,
als der, der auf einem Pferde ſtehend in vollem
Gallop davon jaget. Wie viel natuͤrlicher iſt es
nicht, mit dem Ageſilaus den Geſang einer wuͤrkli-
chen Nachtigall, einem ihm nachahmenden Tonſtuͤk
vorzuziehen?
Nach dem Zwek kommen die Mittel in Betrach-
tung, in deren Kenntnis und Gebrauch eigentlich
die Kunſt beſteht. Hier iſt alſo die Frage zu beant-
worten, wie die Toͤne zu einer verſtaͤndlichen Spra-
che der Empfindung werden, und wie eine Folge
von Toͤnen zuſammenzuſezen ſey, daß der, der ſie
hoͤret, in Empfindung geſezt, eine Zeitlang darin
unterhalten und durch ſanften Zwang genoͤthiget
werde,
(*) S.
Mahlerey
in der
Muſik.
D d d d d 3
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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 783[765]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/200>, abgerufen am 25.11.2024.
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