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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Mit
dern wiederfährt, kein Mitleiden erweken, und so
wird der, welcher den Besiz des Reichthums gering
schäzet, kein Mitleiden mit dem haben, der sein
Vermögen verlohren hat; auch sogar alsdenn nicht,
wenn es diesem schmerzhaft ist. Es giebt so gar
Fälle, wo wir den über sein Elend klagenden, schel-
ten, und es ihm übel nehmen, daß er sich elend
fühlet. So gewiß ist es, daß wir nur alsdenn
Mitleiden haben, wo wir selbst leiden würden, wenn
wir an des andern Stelle wären.

Die andere Erfodernis zum Mitleiden ist, daß
uns die Personen, deren Elend wir fühlen sollen,
nicht gleichgültig seyen. Denn das Elend derer, für
die man gleichgültig ist, macht keinen Eindruk; trift
es Personen, die man hasset, so macht es so gar Ver-
gnügen. Aber auf den höchsten Grad steiget es,
wenn das Elend Personen betrift, für die man große
Hochachtung, oder sehr zärtliche Zuneigung hat.
Ueberhaupt ist ein Mensch nur in so fern zum Mit-
leiden geneigt, als er Achtung und Zuneigung gegen
andre hat. Es giebt Menschen, die Niemand ach-
ten, als sich, und die, welche ihnen angehören, und
diese sind gegen alle Menschen hart und unempfind-
lich -- Große, die alles verachten, was unter ih-
rem Stand ist: diese haben nur mit Personen ihres
Standes Mitleiden; sie sehen die Noth der gerin-
gern, ohne die geringste Rührung. Nicht selten
findet man Menschen, die so sehr in sich selbst ver-
liebt, und dabey so kurzsichtig, und daher so unge-
recht sind, daß sie jeden andern Menschen, der nicht
so denkt und handelt, wie sie es erwarten, verachten,
oder gar hassen, und daher kein Mitleiden mit ihm
haben. Daher kommt es, daß Menschen, die ge-
gen ihre Freunde sehr mitleidig sind, ohne alles Ge-
fühl des Mitleidens mit Feuer und Schwerdt gegen
die wüthen, die in bürgerlichen, oder gottesdienstli-
chen Angelegenheiten, von einer andern Parthey, als
sie selbst sind. Jch habe einen Mann gekannt, der
sich aus unmenschlichen Grausamkeiten ein Spiel
machte, und für Mitleiden fast außer sich kam, wenn
er eines seiner Kinder leiden sah. So wenig kann
man auf das gute Herz eines Menschen den Schluß
machen, wenn man ihn von Mitleiden gerührt sieht.

Der Dichter, der Thränen des Mitleidens will
fließen machen, muß also nicht nur das Elend der
Personen lebhaft schildern, sondern vorher unsre
Hochachtung und Zuneigung für sie erweken. Bey-
des hat Shatespear in einem hohen Grade beseßen.
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Mit
Auch Eurivides kann darin als ein Muster ange-
führt werden, vorzüglich in Schilderung des Elends.
Und wem wird nicht hier die Clarissa, oder die Cle-
mentina della Poretta, als vollkommene Muster bey-
fallen? Jst der hochachtungswürdige Mensch bey
seinem Leiden noch geduldig, oder entsteht sein Elend
ganz unmittelbar aus der Größe seiner Tugend, so
steiget das Mittleiden auf den höchsten Grad. Jm
erstern Falle befindet sich Anchises in der Aeneis,
der im größten Elende die andern in ihrem Mitlei-
den gegen ihn noch tröstet.

Sic o! sic positum adsati discedite corpus.
Ipse mann mortem inveniam; miserebitur hostis
Exuviasque petet: facilis jactura sepulchri est.
(*)

Für den andern Fall kann eine Scene aus Thomsons
Tancred und Sigismunde angeführt werden, die
jedem Menschen von Empfindung das Herz durch-
bohrt. Der alte Siffredi, der Sigismunde Vater,
ist ein verehrungswürdiger Held, dem Tancred seine
Errettung vom Tode, seine Erziehung, und zulezt die
Crone von Sicilien zu danken hat. Tancred ver-
ehret und liebet ihn auch als seinen Vater. Aber
da dieser verliebte Jüngling erfährt, daß Siffredi,
obgleich in der edelsten Absicht, und aus einem Ueber-
maaß von Tugend, seine Verbindung mit Sigismunde
hintertreibet, bricht er in den heftigsten Zorn gegen
ihn aus; nennet seinen Wolthäter und Erretter ei-
nen alten Betrüger, und begegnet ihm, wie einem
Nichtswürdigen. Da auch Tancred selbst ein hoch-
achtungs- und liebenswürdiger Jüngling ist, so
übernihmt uns zugleich auch ein tiefes Mitleiden
für ihn, der sich durch die Heftigkeit der Leidenschaft
zu dieser Abschenlichkeit hinreißen läßt. Man wird
ungewiß, ob man mehr mit Siffredi oder mit Tan-
cred Mitleiden haben soll. Dies ist meines Erach-
tens eine der stärksten tragischen Scenen, die mög-
lich sind.

Der Redner, oder der Dichter, der sich vorsezt
zum Mittleiden zu bewegen, muß wol bedenken,
für was für eine Gattung Menschen er arbeitet;
denn nach der Sinnesart und dem Charakter der
Menschen richten sich ihre Vorstellungen von Elend
und Unglük. Weichliche, verzärtelte Menschen wer-
den mitleidig, wenn andre Ungemach, oder auch nur
geringe körperliche Schmerzen ausstehen, und wer
vorzüglich zur Zärtlichkeit und Liebe geneigt ist, fühlt
bey einer unglüklichen Liebe das größte Mitleiden,
wo ein andrer nur spotten würde. Es giebt Men-

schen
(*) Ae-
neid. L. II.
B b b b b 3

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Mit
dern wiederfaͤhrt, kein Mitleiden erweken, und ſo
wird der, welcher den Beſiz des Reichthums gering
ſchaͤzet, kein Mitleiden mit dem haben, der ſein
Vermoͤgen verlohren hat; auch ſogar alsdenn nicht,
wenn es dieſem ſchmerzhaft iſt. Es giebt ſo gar
Faͤlle, wo wir den uͤber ſein Elend klagenden, ſchel-
ten, und es ihm uͤbel nehmen, daß er ſich elend
fuͤhlet. So gewiß iſt es, daß wir nur alsdenn
Mitleiden haben, wo wir ſelbſt leiden wuͤrden, wenn
wir an des andern Stelle waͤren.

Die andere Erfodernis zum Mitleiden iſt, daß
uns die Perſonen, deren Elend wir fuͤhlen ſollen,
nicht gleichguͤltig ſeyen. Denn das Elend derer, fuͤr
die man gleichguͤltig iſt, macht keinen Eindruk; trift
es Perſonen, die man haſſet, ſo macht es ſo gar Ver-
gnuͤgen. Aber auf den hoͤchſten Grad ſteiget es,
wenn das Elend Perſonen betrift, fuͤr die man große
Hochachtung, oder ſehr zaͤrtliche Zuneigung hat.
Ueberhaupt iſt ein Menſch nur in ſo fern zum Mit-
leiden geneigt, als er Achtung und Zuneigung gegen
andre hat. Es giebt Menſchen, die Niemand ach-
ten, als ſich, und die, welche ihnen angehoͤren, und
dieſe ſind gegen alle Menſchen hart und unempfind-
lich — Große, die alles verachten, was unter ih-
rem Stand iſt: dieſe haben nur mit Perſonen ihres
Standes Mitleiden; ſie ſehen die Noth der gerin-
gern, ohne die geringſte Ruͤhrung. Nicht ſelten
findet man Menſchen, die ſo ſehr in ſich ſelbſt ver-
liebt, und dabey ſo kurzſichtig, und daher ſo unge-
recht ſind, daß ſie jeden andern Menſchen, der nicht
ſo denkt und handelt, wie ſie es erwarten, verachten,
oder gar haſſen, und daher kein Mitleiden mit ihm
haben. Daher kommt es, daß Menſchen, die ge-
gen ihre Freunde ſehr mitleidig ſind, ohne alles Ge-
fuͤhl des Mitleidens mit Feuer und Schwerdt gegen
die wuͤthen, die in buͤrgerlichen, oder gottesdienſtli-
chen Angelegenheiten, von einer andern Parthey, als
ſie ſelbſt ſind. Jch habe einen Mann gekannt, der
ſich aus unmenſchlichen Grauſamkeiten ein Spiel
machte, und fuͤr Mitleiden faſt außer ſich kam, wenn
er eines ſeiner Kinder leiden ſah. So wenig kann
man auf das gute Herz eines Menſchen den Schluß
machen, wenn man ihn von Mitleiden geruͤhrt ſieht.

Der Dichter, der Thraͤnen des Mitleidens will
fließen machen, muß alſo nicht nur das Elend der
Perſonen lebhaft ſchildern, ſondern vorher unſre
Hochachtung und Zuneigung fuͤr ſie erweken. Bey-
des hat Shatespear in einem hohen Grade beſeßen.
[Spaltenumbruch]

Mit
Auch Eurivides kann darin als ein Muſter ange-
fuͤhrt werden, vorzuͤglich in Schilderung des Elends.
Und wem wird nicht hier die Clariſſa, oder die Cle-
mentina della Poretta, als vollkommene Muſter bey-
fallen? Jſt der hochachtungswuͤrdige Menſch bey
ſeinem Leiden noch geduldig, oder entſteht ſein Elend
ganz unmittelbar aus der Groͤße ſeiner Tugend, ſo
ſteiget das Mittleiden auf den hoͤchſten Grad. Jm
erſtern Falle befindet ſich Anchiſes in der Aeneis,
der im groͤßten Elende die andern in ihrem Mitlei-
den gegen ihn noch troͤſtet.

Sic o! ſic poſitum adſati diſcedite corpus.
Ipſe mann mortem inveniam; miſerebitur hoſtis
Exuviasque petet: facilis jactura ſepulchri eſt.
(*)

Fuͤr den andern Fall kann eine Scene aus Thomſons
Tancred und Sigismunde angefuͤhrt werden, die
jedem Menſchen von Empfindung das Herz durch-
bohrt. Der alte Siffredi, der Sigismunde Vater,
iſt ein verehrungswuͤrdiger Held, dem Tancred ſeine
Errettung vom Tode, ſeine Erziehung, und zulezt die
Crone von Sicilien zu danken hat. Tancred ver-
ehret und liebet ihn auch als ſeinen Vater. Aber
da dieſer verliebte Juͤngling erfaͤhrt, daß Siffredi,
obgleich in der edelſten Abſicht, und aus einem Ueber-
maaß von Tugend, ſeine Verbindung mit Sigismunde
hintertreibet, bricht er in den heftigſten Zorn gegen
ihn aus; nennet ſeinen Wolthaͤter und Erretter ei-
nen alten Betruͤger, und begegnet ihm, wie einem
Nichtswuͤrdigen. Da auch Tancred ſelbſt ein hoch-
achtungs- und liebenswuͤrdiger Juͤngling iſt, ſo
uͤbernihmt uns zugleich auch ein tiefes Mitleiden
fuͤr ihn, der ſich durch die Heftigkeit der Leidenſchaft
zu dieſer Abſchenlichkeit hinreißen laͤßt. Man wird
ungewiß, ob man mehr mit Siffredi oder mit Tan-
cred Mitleiden haben ſoll. Dies iſt meines Erach-
tens eine der ſtaͤrkſten tragiſchen Scenen, die moͤg-
lich ſind.

Der Redner, oder der Dichter, der ſich vorſezt
zum Mittleiden zu bewegen, muß wol bedenken,
fuͤr was fuͤr eine Gattung Menſchen er arbeitet;
denn nach der Sinnesart und dem Charakter der
Menſchen richten ſich ihre Vorſtellungen von Elend
und Ungluͤk. Weichliche, verzaͤrtelte Menſchen wer-
den mitleidig, wenn andre Ungemach, oder auch nur
geringe koͤrperliche Schmerzen ausſtehen, und wer
vorzuͤglich zur Zaͤrtlichkeit und Liebe geneigt iſt, fuͤhlt
bey einer ungluͤklichen Liebe das groͤßte Mitleiden,
wo ein andrer nur ſpotten wuͤrde. Es giebt Men-

ſchen
(*) Ae-
neid. L. II.
B b b b b 3
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[767[749]/0184] Mit Mit dern wiederfaͤhrt, kein Mitleiden erweken, und ſo wird der, welcher den Beſiz des Reichthums gering ſchaͤzet, kein Mitleiden mit dem haben, der ſein Vermoͤgen verlohren hat; auch ſogar alsdenn nicht, wenn es dieſem ſchmerzhaft iſt. Es giebt ſo gar Faͤlle, wo wir den uͤber ſein Elend klagenden, ſchel- ten, und es ihm uͤbel nehmen, daß er ſich elend fuͤhlet. So gewiß iſt es, daß wir nur alsdenn Mitleiden haben, wo wir ſelbſt leiden wuͤrden, wenn wir an des andern Stelle waͤren. Die andere Erfodernis zum Mitleiden iſt, daß uns die Perſonen, deren Elend wir fuͤhlen ſollen, nicht gleichguͤltig ſeyen. Denn das Elend derer, fuͤr die man gleichguͤltig iſt, macht keinen Eindruk; trift es Perſonen, die man haſſet, ſo macht es ſo gar Ver- gnuͤgen. Aber auf den hoͤchſten Grad ſteiget es, wenn das Elend Perſonen betrift, fuͤr die man große Hochachtung, oder ſehr zaͤrtliche Zuneigung hat. Ueberhaupt iſt ein Menſch nur in ſo fern zum Mit- leiden geneigt, als er Achtung und Zuneigung gegen andre hat. Es giebt Menſchen, die Niemand ach- ten, als ſich, und die, welche ihnen angehoͤren, und dieſe ſind gegen alle Menſchen hart und unempfind- lich — Große, die alles verachten, was unter ih- rem Stand iſt: dieſe haben nur mit Perſonen ihres Standes Mitleiden; ſie ſehen die Noth der gerin- gern, ohne die geringſte Ruͤhrung. Nicht ſelten findet man Menſchen, die ſo ſehr in ſich ſelbſt ver- liebt, und dabey ſo kurzſichtig, und daher ſo unge- recht ſind, daß ſie jeden andern Menſchen, der nicht ſo denkt und handelt, wie ſie es erwarten, verachten, oder gar haſſen, und daher kein Mitleiden mit ihm haben. Daher kommt es, daß Menſchen, die ge- gen ihre Freunde ſehr mitleidig ſind, ohne alles Ge- fuͤhl des Mitleidens mit Feuer und Schwerdt gegen die wuͤthen, die in buͤrgerlichen, oder gottesdienſtli- chen Angelegenheiten, von einer andern Parthey, als ſie ſelbſt ſind. Jch habe einen Mann gekannt, der ſich aus unmenſchlichen Grauſamkeiten ein Spiel machte, und fuͤr Mitleiden faſt außer ſich kam, wenn er eines ſeiner Kinder leiden ſah. So wenig kann man auf das gute Herz eines Menſchen den Schluß machen, wenn man ihn von Mitleiden geruͤhrt ſieht. Der Dichter, der Thraͤnen des Mitleidens will fließen machen, muß alſo nicht nur das Elend der Perſonen lebhaft ſchildern, ſondern vorher unſre Hochachtung und Zuneigung fuͤr ſie erweken. Bey- des hat Shatespear in einem hohen Grade beſeßen. Auch Eurivides kann darin als ein Muſter ange- fuͤhrt werden, vorzuͤglich in Schilderung des Elends. Und wem wird nicht hier die Clariſſa, oder die Cle- mentina della Poretta, als vollkommene Muſter bey- fallen? Jſt der hochachtungswuͤrdige Menſch bey ſeinem Leiden noch geduldig, oder entſteht ſein Elend ganz unmittelbar aus der Groͤße ſeiner Tugend, ſo ſteiget das Mittleiden auf den hoͤchſten Grad. Jm erſtern Falle befindet ſich Anchiſes in der Aeneis, der im groͤßten Elende die andern in ihrem Mitlei- den gegen ihn noch troͤſtet. Sic o! ſic poſitum adſati diſcedite corpus. Ipſe mann mortem inveniam; miſerebitur hoſtis Exuviasque petet: facilis jactura ſepulchri eſt. (*) Fuͤr den andern Fall kann eine Scene aus Thomſons Tancred und Sigismunde angefuͤhrt werden, die jedem Menſchen von Empfindung das Herz durch- bohrt. Der alte Siffredi, der Sigismunde Vater, iſt ein verehrungswuͤrdiger Held, dem Tancred ſeine Errettung vom Tode, ſeine Erziehung, und zulezt die Crone von Sicilien zu danken hat. Tancred ver- ehret und liebet ihn auch als ſeinen Vater. Aber da dieſer verliebte Juͤngling erfaͤhrt, daß Siffredi, obgleich in der edelſten Abſicht, und aus einem Ueber- maaß von Tugend, ſeine Verbindung mit Sigismunde hintertreibet, bricht er in den heftigſten Zorn gegen ihn aus; nennet ſeinen Wolthaͤter und Erretter ei- nen alten Betruͤger, und begegnet ihm, wie einem Nichtswuͤrdigen. Da auch Tancred ſelbſt ein hoch- achtungs- und liebenswuͤrdiger Juͤngling iſt, ſo uͤbernihmt uns zugleich auch ein tiefes Mitleiden fuͤr ihn, der ſich durch die Heftigkeit der Leidenſchaft zu dieſer Abſchenlichkeit hinreißen laͤßt. Man wird ungewiß, ob man mehr mit Siffredi oder mit Tan- cred Mitleiden haben ſoll. Dies iſt meines Erach- tens eine der ſtaͤrkſten tragiſchen Scenen, die moͤg- lich ſind. Der Redner, oder der Dichter, der ſich vorſezt zum Mittleiden zu bewegen, muß wol bedenken, fuͤr was fuͤr eine Gattung Menſchen er arbeitet; denn nach der Sinnesart und dem Charakter der Menſchen richten ſich ihre Vorſtellungen von Elend und Ungluͤk. Weichliche, verzaͤrtelte Menſchen wer- den mitleidig, wenn andre Ungemach, oder auch nur geringe koͤrperliche Schmerzen ausſtehen, und wer vorzuͤglich zur Zaͤrtlichkeit und Liebe geneigt iſt, fuͤhlt bey einer ungluͤklichen Liebe das groͤßte Mitleiden, wo ein andrer nur ſpotten wuͤrde. Es giebt Men- ſchen (*) Ae- neid. L. II. B b b b b 3

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 767[749]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/184>, abgerufen am 07.05.2024.