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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Lie
schen, daß diese Beyspiele mehrere Dichter, die aus-
ser dem poetischen Genie wahre Vernunft und Recht-
schaffenheit besizen, zur Nachfolge reize.

Die dritte Stelle könnte man den sittlichen Lie-
dern einräumen, welche Aufmunterungen entweder
zu allgemeinen menschlichen Pflichten, oder zu den
desondern Pflichten gewisser Stände enthalten, oder
die die Annehmlichkeiten gewisser Stände und Le-
bensarten besingen. Diese müssen, wenn man nicht
die natürliche Ordnung der Dinge verkehren will,
den bloßen Ermunterungen zur Freude vorgezogen
werden. Noch ehe man ein: Brüder laßt uns lu-
stig seyn,
anstimmt, welches allerdings auch seine
Zeit hat, sollte man ein: Brüder laßt uns fleißig,
oder redlich
seyn, gesungen haben. Man findet
daß die Griechen Lieder für alle Stände der bürger-
lichen Gesellschaft, und für alle Lebensarten gehabt
haben, (+) die zwar, wie aus einigen Ueberbleib-
seln derselben zu schließen ist, eben nicht immer von
wichtigem Jnhalt gewesen: aber darum sollte eine
so nüzliche Sache nicht völlig versäumt, sondern
mit Verbesserung des Jnhalts nachgeahmt werden.
Man hat ein so leichtes und doch so kräftiges Mit-
tel, die Menschen zum Guten zu ermuntern, nicht so
sehr vernachläßigen sollen. Es ist bereits im Arti-
kel über die Leidenschaften erinnert worden, was
einer der fürtrefflichsten Menschen, der zugleich ein
Mann von großem Genie ist, von der Wichtigkeit
solcher Lieder denkt. Man wird schwerlich ein würk-
sameres und im Gebrauch leichteres Mittel finden,
als dieses ist, die Gesinnungen und Sitten der Men-
schen zu verbessern. Jch besinne mich in einer vor
nicht gar langer Zeit herausgekommenen Samm-
lung englischer Gedichte von einem gewissen Hamil-
ton
ein Lied von ausnehmender Schönheit gelesen
zu haben, darin ein edles junges Frauenzimmer
den Charakter des Jünglings schildert, den sie sich
zum Gemahl wählen wird. Es ist so voll edler Em-
pfindungen, und sie sind in einen so einnehmenden
Ton vorgetragen, daß ich mir nicht vorstellen kann,
wie ein junges Frauenzimmer ein solches Lied, zu-
mal wenn es gut in Musik gesezt wäre, ohne merk-
lich nüzlichen Einfluß auf ihr Gemüth, singen könnte.
Zu wünschen wäre, daß jede Angelegenheit des
Herzens auf eine so einnehmende und rührende Weise
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Lie
in Liedern behandelt würde. Hier öffnet sich ein un-
ermeßliches Feld für Dichter, die die Gabe besizen
ihre Gedanken in leichte und melodiereiche Verse
einzukleiden.

Zunächst an diese Gattung gränzen die sanften
affektvollen Lieder, deren Charakter Zärtlichkeit ist.
Klagelieder über den Tod einer geliebten Person;
Liebeslieder von wahrer Zärtlichkeit, durch feine sitt-
liche Empfindungen veredelt; Klagen über Wieder-
wärtigkeit; freudige Aeußerungen über erfüllte Wün-
sche und dergleichen. Man hat in dieser Art Lieder
von der höchsten Schönheit. Was kann z. E. ein-
nehmender seyn, als der Abschied von der Nice des
Metastasio? Alles, was von wolgeordneten zärtli-
chen Empfindungen der edelsten Art in das mensch-
liche Herz kommen kann, werden recht gute Lieder-
dichter in dieser Art anbringen können. Sie können
ungemein viel zur Veredlung der Empfindungen bey-
tragen. Und wenn auch zulezt nichts darin seyn
sollte, als eine naive Aeußerung irgend einer un-
schuldigen Empfindung, so sind sie wenigstens höchst
angenehm. Hievon will ich nur ein paar Beyspiele
zum Muster anführen. Das eine ist das bekannte
Lied: Siehst du jene Rosen blühn; das andere ein
Lied aus der comischen Oper die Jago, das anfängt:
Schön sind Rosen und Jesminen.

Eine ganz besondere Annehmlichkeit und Kraft
Empfindungen einzupflanzen, könnten solche Lieder
haben, wo zwey Personen abwechselnd singen und
mit einander um den Vorzug feiner und edler Em-
pfindungen streiten. Man weiß wie sehr Scaliger
von dem Horazischen Lied: Donec gratus eram ti-
bi,
(*) gerührt worden: und doch ist es im Grund
blos naiv. So könnte aus Klopstoks Elegie Sel-
mar und Selma
ein fürtreffliches Lied in dieser Art
gemacht werden; und so könnte man zwey in ein-
ander verliebte Personen in abwechselnden Strophen
singen lassen, da jede auf eine ihr eigene Art zwar
natürliche, aber feine und edle Empfindungen äusserte;
oder zwey Jünglinge einführen, die wetteyfernd die
liebenswürdigen Eigenschaften ihrer Schönen besän-
gen. Offenbar ist es, wie dergleichen Gesänge, wenn
der Dichter Verstand und Empfindung genug hat,
von höchstem Nuzen seyn könnten. Nur müßte man
sich dabey auf der einen Seite nicht bey blos sinn-

lichen
(+) Eine ziemlich vollständige Nachricht davon sindet
man in einer Abhandlung des Herrn La Nauze über die
Lieder der Griechen in dem IX Theile der Memoires de
l'Academie des Inscriptions et Belles-Lettres.
(*) Od.
L. III.
19.

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Lie
ſchen, daß dieſe Beyſpiele mehrere Dichter, die auſ-
ſer dem poetiſchen Genie wahre Vernunft und Recht-
ſchaffenheit beſizen, zur Nachfolge reize.

Die dritte Stelle koͤnnte man den ſittlichen Lie-
dern einraͤumen, welche Aufmunterungen entweder
zu allgemeinen menſchlichen Pflichten, oder zu den
deſondern Pflichten gewiſſer Staͤnde enthalten, oder
die die Annehmlichkeiten gewiſſer Staͤnde und Le-
bensarten beſingen. Dieſe muͤſſen, wenn man nicht
die natuͤrliche Ordnung der Dinge verkehren will,
den bloßen Ermunterungen zur Freude vorgezogen
werden. Noch ehe man ein: Bruͤder laßt uns lu-
ſtig ſeyn,
anſtimmt, welches allerdings auch ſeine
Zeit hat, ſollte man ein: Bruͤder laßt uns fleißig,
oder redlich
ſeyn, geſungen haben. Man findet
daß die Griechen Lieder fuͤr alle Staͤnde der buͤrger-
lichen Geſellſchaft, und fuͤr alle Lebensarten gehabt
haben, (†) die zwar, wie aus einigen Ueberbleib-
ſeln derſelben zu ſchließen iſt, eben nicht immer von
wichtigem Jnhalt geweſen: aber darum ſollte eine
ſo nuͤzliche Sache nicht voͤllig verſaͤumt, ſondern
mit Verbeſſerung des Jnhalts nachgeahmt werden.
Man hat ein ſo leichtes und doch ſo kraͤftiges Mit-
tel, die Menſchen zum Guten zu ermuntern, nicht ſo
ſehr vernachlaͤßigen ſollen. Es iſt bereits im Arti-
kel uͤber die Leidenſchaften erinnert worden, was
einer der fuͤrtrefflichſten Menſchen, der zugleich ein
Mann von großem Genie iſt, von der Wichtigkeit
ſolcher Lieder denkt. Man wird ſchwerlich ein wuͤrk-
ſameres und im Gebrauch leichteres Mittel finden,
als dieſes iſt, die Geſinnungen und Sitten der Men-
ſchen zu verbeſſern. Jch beſinne mich in einer vor
nicht gar langer Zeit herausgekommenen Samm-
lung engliſcher Gedichte von einem gewiſſen Hamil-
ton
ein Lied von ausnehmender Schoͤnheit geleſen
zu haben, darin ein edles junges Frauenzimmer
den Charakter des Juͤnglings ſchildert, den ſie ſich
zum Gemahl waͤhlen wird. Es iſt ſo voll edler Em-
pfindungen, und ſie ſind in einen ſo einnehmenden
Ton vorgetragen, daß ich mir nicht vorſtellen kann,
wie ein junges Frauenzimmer ein ſolches Lied, zu-
mal wenn es gut in Muſik geſezt waͤre, ohne merk-
lich nuͤzlichen Einfluß auf ihr Gemuͤth, ſingen koͤnnte.
Zu wuͤnſchen waͤre, daß jede Angelegenheit des
Herzens auf eine ſo einnehmende und ruͤhrende Weiſe
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Lie
in Liedern behandelt wuͤrde. Hier oͤffnet ſich ein un-
ermeßliches Feld fuͤr Dichter, die die Gabe beſizen
ihre Gedanken in leichte und melodiereiche Verſe
einzukleiden.

Zunaͤchſt an dieſe Gattung graͤnzen die ſanften
affektvollen Lieder, deren Charakter Zaͤrtlichkeit iſt.
Klagelieder uͤber den Tod einer geliebten Perſon;
Liebeslieder von wahrer Zaͤrtlichkeit, durch feine ſitt-
liche Empfindungen veredelt; Klagen uͤber Wieder-
waͤrtigkeit; freudige Aeußerungen uͤber erfuͤllte Wuͤn-
ſche und dergleichen. Man hat in dieſer Art Lieder
von der hoͤchſten Schoͤnheit. Was kann z. E. ein-
nehmender ſeyn, als der Abſchied von der Nice des
Metaſtaſio? Alles, was von wolgeordneten zaͤrtli-
chen Empfindungen der edelſten Art in das menſch-
liche Herz kommen kann, werden recht gute Lieder-
dichter in dieſer Art anbringen koͤnnen. Sie koͤnnen
ungemein viel zur Veredlung der Empfindungen bey-
tragen. Und wenn auch zulezt nichts darin ſeyn
ſollte, als eine naive Aeußerung irgend einer un-
ſchuldigen Empfindung, ſo ſind ſie wenigſtens hoͤchſt
angenehm. Hievon will ich nur ein paar Beyſpiele
zum Muſter anfuͤhren. Das eine iſt das bekannte
Lied: Siehſt du jene Roſen bluͤhn; das andere ein
Lied aus der comiſchen Oper die Jago, das anfaͤngt:
Schoͤn ſind Roſen und Jesminen.

Eine ganz beſondere Annehmlichkeit und Kraft
Empfindungen einzupflanzen, koͤnnten ſolche Lieder
haben, wo zwey Perſonen abwechſelnd ſingen und
mit einander um den Vorzug feiner und edler Em-
pfindungen ſtreiten. Man weiß wie ſehr Scaliger
von dem Horaziſchen Lied: Donec gratus eram ti-
bi,
(*) geruͤhrt worden: und doch iſt es im Grund
blos naiv. So koͤnnte aus Klopſtoks Elegie Sel-
mar und Selma
ein fuͤrtreffliches Lied in dieſer Art
gemacht werden; und ſo koͤnnte man zwey in ein-
ander verliebte Perſonen in abwechſelnden Strophen
ſingen laſſen, da jede auf eine ihr eigene Art zwar
natuͤrliche, aber feine und edle Empfindungen aͤuſſerte;
oder zwey Juͤnglinge einfuͤhren, die wetteyfernd die
liebenswuͤrdigen Eigenſchaften ihrer Schoͤnen beſaͤn-
gen. Offenbar iſt es, wie dergleichen Geſaͤnge, wenn
der Dichter Verſtand und Empfindung genug hat,
von hoͤchſtem Nuzen ſeyn koͤnnten. Nur muͤßte man
ſich dabey auf der einen Seite nicht bey blos ſinn-

lichen
(†) Eine ziemlich vollſtaͤndige Nachricht davon ſindet
man in einer Abhandlung des Herrn La Nauze uͤber die
Lieder der Griechen in dem IX Theile der Memoires de
l’Academie des Inſcriptions et Belles-Lettres.
(*) Od.
L. III.
19.
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[716[698]/0133] Lie Lie ſchen, daß dieſe Beyſpiele mehrere Dichter, die auſ- ſer dem poetiſchen Genie wahre Vernunft und Recht- ſchaffenheit beſizen, zur Nachfolge reize. Die dritte Stelle koͤnnte man den ſittlichen Lie- dern einraͤumen, welche Aufmunterungen entweder zu allgemeinen menſchlichen Pflichten, oder zu den deſondern Pflichten gewiſſer Staͤnde enthalten, oder die die Annehmlichkeiten gewiſſer Staͤnde und Le- bensarten beſingen. Dieſe muͤſſen, wenn man nicht die natuͤrliche Ordnung der Dinge verkehren will, den bloßen Ermunterungen zur Freude vorgezogen werden. Noch ehe man ein: Bruͤder laßt uns lu- ſtig ſeyn, anſtimmt, welches allerdings auch ſeine Zeit hat, ſollte man ein: Bruͤder laßt uns fleißig, oder redlich ſeyn, geſungen haben. Man findet daß die Griechen Lieder fuͤr alle Staͤnde der buͤrger- lichen Geſellſchaft, und fuͤr alle Lebensarten gehabt haben, (†) die zwar, wie aus einigen Ueberbleib- ſeln derſelben zu ſchließen iſt, eben nicht immer von wichtigem Jnhalt geweſen: aber darum ſollte eine ſo nuͤzliche Sache nicht voͤllig verſaͤumt, ſondern mit Verbeſſerung des Jnhalts nachgeahmt werden. Man hat ein ſo leichtes und doch ſo kraͤftiges Mit- tel, die Menſchen zum Guten zu ermuntern, nicht ſo ſehr vernachlaͤßigen ſollen. Es iſt bereits im Arti- kel uͤber die Leidenſchaften erinnert worden, was einer der fuͤrtrefflichſten Menſchen, der zugleich ein Mann von großem Genie iſt, von der Wichtigkeit ſolcher Lieder denkt. Man wird ſchwerlich ein wuͤrk- ſameres und im Gebrauch leichteres Mittel finden, als dieſes iſt, die Geſinnungen und Sitten der Men- ſchen zu verbeſſern. Jch beſinne mich in einer vor nicht gar langer Zeit herausgekommenen Samm- lung engliſcher Gedichte von einem gewiſſen Hamil- ton ein Lied von ausnehmender Schoͤnheit geleſen zu haben, darin ein edles junges Frauenzimmer den Charakter des Juͤnglings ſchildert, den ſie ſich zum Gemahl waͤhlen wird. Es iſt ſo voll edler Em- pfindungen, und ſie ſind in einen ſo einnehmenden Ton vorgetragen, daß ich mir nicht vorſtellen kann, wie ein junges Frauenzimmer ein ſolches Lied, zu- mal wenn es gut in Muſik geſezt waͤre, ohne merk- lich nuͤzlichen Einfluß auf ihr Gemuͤth, ſingen koͤnnte. Zu wuͤnſchen waͤre, daß jede Angelegenheit des Herzens auf eine ſo einnehmende und ruͤhrende Weiſe in Liedern behandelt wuͤrde. Hier oͤffnet ſich ein un- ermeßliches Feld fuͤr Dichter, die die Gabe beſizen ihre Gedanken in leichte und melodiereiche Verſe einzukleiden. Zunaͤchſt an dieſe Gattung graͤnzen die ſanften affektvollen Lieder, deren Charakter Zaͤrtlichkeit iſt. Klagelieder uͤber den Tod einer geliebten Perſon; Liebeslieder von wahrer Zaͤrtlichkeit, durch feine ſitt- liche Empfindungen veredelt; Klagen uͤber Wieder- waͤrtigkeit; freudige Aeußerungen uͤber erfuͤllte Wuͤn- ſche und dergleichen. Man hat in dieſer Art Lieder von der hoͤchſten Schoͤnheit. Was kann z. E. ein- nehmender ſeyn, als der Abſchied von der Nice des Metaſtaſio? Alles, was von wolgeordneten zaͤrtli- chen Empfindungen der edelſten Art in das menſch- liche Herz kommen kann, werden recht gute Lieder- dichter in dieſer Art anbringen koͤnnen. Sie koͤnnen ungemein viel zur Veredlung der Empfindungen bey- tragen. Und wenn auch zulezt nichts darin ſeyn ſollte, als eine naive Aeußerung irgend einer un- ſchuldigen Empfindung, ſo ſind ſie wenigſtens hoͤchſt angenehm. Hievon will ich nur ein paar Beyſpiele zum Muſter anfuͤhren. Das eine iſt das bekannte Lied: Siehſt du jene Roſen bluͤhn; das andere ein Lied aus der comiſchen Oper die Jago, das anfaͤngt: Schoͤn ſind Roſen und Jesminen. Eine ganz beſondere Annehmlichkeit und Kraft Empfindungen einzupflanzen, koͤnnten ſolche Lieder haben, wo zwey Perſonen abwechſelnd ſingen und mit einander um den Vorzug feiner und edler Em- pfindungen ſtreiten. Man weiß wie ſehr Scaliger von dem Horaziſchen Lied: Donec gratus eram ti- bi, (*) geruͤhrt worden: und doch iſt es im Grund blos naiv. So koͤnnte aus Klopſtoks Elegie Sel- mar und Selma ein fuͤrtreffliches Lied in dieſer Art gemacht werden; und ſo koͤnnte man zwey in ein- ander verliebte Perſonen in abwechſelnden Strophen ſingen laſſen, da jede auf eine ihr eigene Art zwar natuͤrliche, aber feine und edle Empfindungen aͤuſſerte; oder zwey Juͤnglinge einfuͤhren, die wetteyfernd die liebenswuͤrdigen Eigenſchaften ihrer Schoͤnen beſaͤn- gen. Offenbar iſt es, wie dergleichen Geſaͤnge, wenn der Dichter Verſtand und Empfindung genug hat, von hoͤchſtem Nuzen ſeyn koͤnnten. Nur muͤßte man ſich dabey auf der einen Seite nicht bey blos ſinn- lichen (†) Eine ziemlich vollſtaͤndige Nachricht davon ſindet man in einer Abhandlung des Herrn La Nauze uͤber die Lieder der Griechen in dem IX Theile der Memoires de l’Academie des Inſcriptions et Belles-Lettres. (*) Od. L. III. 19.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 716[698]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/133>, abgerufen am 05.05.2024.