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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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der verschiedenen Gemüthsbewegungen, kennen; wel-
ches uns in den Geschäften mit andern sehr nüzlich
werden kann. Ueberhaupt kann man sagen, daß
der Mensch nirgend größer, auch nie kleiner er-
scheinet, als in dem leidenschaftlichen Zustand. Er
kann darin unsre Bewundrung und unsre Verach-
tung verdienen, weil er da im Guten und Bösen
das äußerste, dessen er fähig ist, sehen läßt. Daß
die durch getreue Schilderung leidenschaftlicher Sce-
nen zu erlangende Kenntniß der Menschen eine höchst
wichtige Sache sey, bedärf keines Veweises. (*)

Dieser Zwek wird am besten durch epische und
dramatische Gedichte erreicht. Die Handlungen, die
dabey zum Grund gelegt werden, die Verwikelun-
gen und Schwierigkeiten, die dabey vorkommen;
die verschiedenen und ofte gegeneinander laufenden
Jntressen der Personen, geben dem Dichter, wenn
er nur ein scharfer Beobachter und wahrer Kenner
der Menschen ist, die Gelegenheit jede Leidenschaft
in ihren Ursachen, in ihrem Ursprung, in den Gra-
den und Gestalten, die sie nach dem Stand und
dem Charakter jeder Personen annehmen, in ihrem
Streit gegen andere und in ihren Folgen, auf das
lebhaftesie zu schildern, wodurch auch seine Leser
oder Zuhörer Kenner der Menschen werden können.

Aber hier kommt es auf wahrhafte und treue
Schilderungen an. Man muß uns da nicht mit
Hirngespinsten aufhalten. Wir müssen den Menschen
in seinen Leidenschaften gerade so sehen, wie er würk-
lich ist. Der Dichter muß die verschiedenen Umstände
der Handlung und die verschiedenen Vorfälle, in-
gleichem die Nebenpersonen so bestimmen, daß das
Spiel der Leidenschaften sich auf eine wahrhafte
und natürliche nicht romantische Weise entwikele.
Es ist deßwegen gut, daß die Handlung selbst
nicht mit gar zu viel Vorfällen überladen sey;
weil dieses der ausführlichen Schilderung der Lei-
denschaften hinderlich ist. Die Umstände der Hand-
lung müssen so gewählt seyn, daß die wahre Ent-
wiklung und die mannigsaltigen Wendungen, die
jeder Leidenschaft eigen sind, in einem hellen Licht
erscheinen. Fürnehmlich aber muß der Dichter
sich angelegen seyn lassen, nicht nur die äußerli-
chen, sichtbaren Würkungen der Leidenschaften, son-
dern vorzüglich das Jnnere derselben zu schildern.
Wir lernen die verzweifelnde Reue weniger dadurch
kennen, daß der Mensch sich die Haare ausrauft,
als, wenn der Dichter uns den inneren Zustand
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Lei
schildert. Gar ofte äußert sich die heftigste Leiden-
schaft durch wenig äußerliche Zeichen, und mancher
in der Verstellung ausgelernte Hofmann fühlt bey
anscheinender Gelassenheit die heftigsten Bisse der
Rache, des Hasses, der Habsucht oder des Ehrgei-
zes. Bald jeder Mensch hat Gelegenheit das äus-
sere der verschiedenen Leidenschaften durch seine
Beobachtungen zu kennen; aber zur lebhaften Vor-
stellung des innern Zustandes, hat er die Hülfe
eines Mahlers, wie Shakespear war, vonnöthen.

Endlich liegt dem Dichter, in Absicht auf die dritte
Würkung der Werke dieser Art ob, seine Schilde-
rungen so einzurichten, daß die Gemüther für das,
was die Leidenschaften heilsames haben, geneigt, und
vor dem schädlichen derselben gewarnet werden. Zu
diesem Ende müssen allemal die eigentlichsten und
kräftigsten Farben zu den Schilderungen gebraucht
werden. So sind in der Jlias der Stolz des Aga-
memnons, die Hitze und der unüberwindliche Eigen-
sinn des Achilles; im Messias die Wuth des Philo,
und in Bodmers biblischen Gedichten die herrschende
Gottesfurcht der Patriarchen, jedes mit solchen Far-
ben geschildert, daß man sogleich für oder gegen diese
Leidenschaften eingenommen wird. Durch solche
Schilderungen wird das Schöne und Einnehmende
edler und das Häßliche niedriger Leidenschaften, so-
gleich empfunden.

Dadurch allein, daß wir das wiedrige und ängst-
liche gewisser Leidenschaften, oder das angenehme,
das andre haben, oft empfinden, wird das Gemüth
von jenen gereiniget, und zu diesen geneigt gemacht.
Wer ofte Furcht und Angst empfunden hat, wird
sorgfältig, sich vor allem zu hüten, was diese höchst
unangenehme Leidenschaften erweken kann. Viel-
leicht hat Aristoteles mit seiner oben angeführten An-
merkung über das Trauerspiel dieses sagen wollen.
Man sollte allerdings denken, daß die Angst und
Verzweiflung darin wir einen Menschen, über seine
verübten Verbrechen sehen, und die wir alsdenn mit
ihm fühlen, Eindrüke in uns machen sollten, die
uns für immer, vor solchen Verbrechen zu schüzen,
stark genug wären. Der Künstler soll darum in der
Behandlung der Leidenschaften immer darauf sehen,
daß dergleichen wichtigen Eindrüke von denselben in
den Gemüthern zurük bleiben. Es ist aber nicht
genug, daß er die Leidenschaften selber, so schildere,
daß sie uns reizen oder abschreken; auch ihre Folgen
muß er diesem Zwek gemäß heranzubringen wissen.

Den
(*) Man
sehe einige
hiehe ge-
hörige An-
merkungen
in dem Art.
Größe.

[Spaltenumbruch]

Lei
der verſchiedenen Gemuͤthsbewegungen, kennen; wel-
ches uns in den Geſchaͤften mit andern ſehr nuͤzlich
werden kann. Ueberhaupt kann man ſagen, daß
der Menſch nirgend groͤßer, auch nie kleiner er-
ſcheinet, als in dem leidenſchaftlichen Zuſtand. Er
kann darin unſre Bewundrung und unſre Verach-
tung verdienen, weil er da im Guten und Boͤſen
das aͤußerſte, deſſen er faͤhig iſt, ſehen laͤßt. Daß
die durch getreue Schilderung leidenſchaftlicher Sce-
nen zu erlangende Kenntniß der Menſchen eine hoͤchſt
wichtige Sache ſey, bedaͤrf keines Veweiſes. (*)

Dieſer Zwek wird am beſten durch epiſche und
dramatiſche Gedichte erreicht. Die Handlungen, die
dabey zum Grund gelegt werden, die Verwikelun-
gen und Schwierigkeiten, die dabey vorkommen;
die verſchiedenen und ofte gegeneinander laufenden
Jntreſſen der Perſonen, geben dem Dichter, wenn
er nur ein ſcharfer Beobachter und wahrer Kenner
der Menſchen iſt, die Gelegenheit jede Leidenſchaft
in ihren Urſachen, in ihrem Urſprung, in den Gra-
den und Geſtalten, die ſie nach dem Stand und
dem Charakter jeder Perſonen annehmen, in ihrem
Streit gegen andere und in ihren Folgen, auf das
lebhafteſie zu ſchildern, wodurch auch ſeine Leſer
oder Zuhoͤrer Kenner der Menſchen werden koͤnnen.

Aber hier kommt es auf wahrhafte und treue
Schilderungen an. Man muß uns da nicht mit
Hirngeſpinſten aufhalten. Wir muͤſſen den Menſchen
in ſeinen Leidenſchaften gerade ſo ſehen, wie er wuͤrk-
lich iſt. Der Dichter muß die verſchiedenen Umſtaͤnde
der Handlung und die verſchiedenen Vorfaͤlle, in-
gleichem die Nebenperſonen ſo beſtimmen, daß das
Spiel der Leidenſchaften ſich auf eine wahrhafte
und natuͤrliche nicht romantiſche Weiſe entwikele.
Es iſt deßwegen gut, daß die Handlung ſelbſt
nicht mit gar zu viel Vorfaͤllen uͤberladen ſey;
weil dieſes der ausfuͤhrlichen Schilderung der Lei-
denſchaften hinderlich iſt. Die Umſtaͤnde der Hand-
lung muͤſſen ſo gewaͤhlt ſeyn, daß die wahre Ent-
wiklung und die mannigſaltigen Wendungen, die
jeder Leidenſchaft eigen ſind, in einem hellen Licht
erſcheinen. Fuͤrnehmlich aber muß der Dichter
ſich angelegen ſeyn laſſen, nicht nur die aͤußerli-
chen, ſichtbaren Wuͤrkungen der Leidenſchaften, ſon-
dern vorzuͤglich das Jnnere derſelben zu ſchildern.
Wir lernen die verzweifelnde Reue weniger dadurch
kennen, daß der Menſch ſich die Haare ausrauft,
als, wenn der Dichter uns den inneren Zuſtand
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Lei
ſchildert. Gar ofte aͤußert ſich die heftigſte Leiden-
ſchaft durch wenig aͤußerliche Zeichen, und mancher
in der Verſtellung ausgelernte Hofmann fuͤhlt bey
anſcheinender Gelaſſenheit die heftigſten Biſſe der
Rache, des Haſſes, der Habſucht oder des Ehrgei-
zes. Bald jeder Menſch hat Gelegenheit das aͤuſ-
ſere der verſchiedenen Leidenſchaften durch ſeine
Beobachtungen zu kennen; aber zur lebhaften Vor-
ſtellung des innern Zuſtandes, hat er die Huͤlfe
eines Mahlers, wie Shakeſpear war, vonnoͤthen.

Endlich liegt dem Dichter, in Abſicht auf die dritte
Wuͤrkung der Werke dieſer Art ob, ſeine Schilde-
rungen ſo einzurichten, daß die Gemuͤther fuͤr das,
was die Leidenſchaften heilſames haben, geneigt, und
vor dem ſchaͤdlichen derſelben gewarnet werden. Zu
dieſem Ende muͤſſen allemal die eigentlichſten und
kraͤftigſten Farben zu den Schilderungen gebraucht
werden. So ſind in der Jlias der Stolz des Aga-
memnons, die Hitze und der unuͤberwindliche Eigen-
ſinn des Achilles; im Meſſias die Wuth des Philo,
und in Bodmers bibliſchen Gedichten die herrſchende
Gottesfurcht der Patriarchen, jedes mit ſolchen Far-
ben geſchildert, daß man ſogleich fuͤr oder gegen dieſe
Leidenſchaften eingenommen wird. Durch ſolche
Schilderungen wird das Schoͤne und Einnehmende
edler und das Haͤßliche niedriger Leidenſchaften, ſo-
gleich empfunden.

Dadurch allein, daß wir das wiedrige und aͤngſt-
liche gewiſſer Leidenſchaften, oder das angenehme,
das andre haben, oft empfinden, wird das Gemuͤth
von jenen gereiniget, und zu dieſen geneigt gemacht.
Wer ofte Furcht und Angſt empfunden hat, wird
ſorgfaͤltig, ſich vor allem zu huͤten, was dieſe hoͤchſt
unangenehme Leidenſchaften erweken kann. Viel-
leicht hat Ariſtoteles mit ſeiner oben angefuͤhrten An-
merkung uͤber das Trauerſpiel dieſes ſagen wollen.
Man ſollte allerdings denken, daß die Angſt und
Verzweiflung darin wir einen Menſchen, uͤber ſeine
veruͤbten Verbrechen ſehen, und die wir alsdenn mit
ihm fuͤhlen, Eindruͤke in uns machen ſollten, die
uns fuͤr immer, vor ſolchen Verbrechen zu ſchuͤzen,
ſtark genug waͤren. Der Kuͤnſtler ſoll darum in der
Behandlung der Leidenſchaften immer darauf ſehen,
daß dergleichen wichtigen Eindruͤke von denſelben in
den Gemuͤthern zuruͤk bleiben. Es iſt aber nicht
genug, daß er die Leidenſchaften ſelber, ſo ſchildere,
daß ſie uns reizen oder abſchreken; auch ihre Folgen
muß er dieſem Zwek gemaͤß heranzubringen wiſſen.

Den
(*) Man
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hiehe ge-
hoͤrige An-
merkungen
in dem Art.
Groͤße.
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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 702[684]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/119>, abgerufen am 24.11.2024.