lich mit einer traurigen Catastrophe, sich endigen. Wenn wir mit Begierde zusehen, wie Menschen bey einem Schiffbruch das äußerste thun, sich zu retten, so wenden wir doch gern die Augen weg, indem wir sie umkommen sehen. Da macht uns ihre Noth nicht das geringste Vergnügen.
Aus diesen Beobachtungen folget, daß der Mensch überhaupt eine Neigung hat, leidenschaftliche Scenen, sie seyen angenehm oder unangenehm, zu sehen, wenn nur dabey kein würkliches Unglük geschieht. So lange wir hoffen, oder wissen, daß die Menschen, die wir in Noth sehen, sich daraus retten werden, nebmen wir gern Antheil an allem, was sie empfin- den; wir leiden gern mit ihnen; bestreben uns, sie zu retten, arbeiten und schwizen vom bloßen Zu- schauen, wie sie selbst; die Hofnung, daß sie dem Ue- bel entgehen werden, läßt uns von den verschiedenen durch einanderlaufenden Gemüthsbewegungen, auch das Angenehme empfinden; nämlich die Würksam- keit und die Kräfte der Seele. Der erste Grund- trieb unsers ganzen Wesens ist die Begierde, Kräfte zu besizen, und sie zu brauchen. Dieser Trieb fin- det bey jeder leidenschaftlichen Bewegung seine Nah- rung, so lange nicht eine gäuzliche Catastrophe uns der Würksamkeit beraubet, oder sie völlig hemmet.
Deswegen haben alle Leidenschaften, in so fern die Seele sich thätig dabey erzeiget, wie unange- nehm sie sonst seyn mögen, etwas das uns gefällt. Jndem wir aber Zeugen leidenschaftlicher Scenen sind, entstehen, wiewol in geringerem Grad, alle Bewegungen in uns, welche die darin würklich be- griffenen Personen fühlen; und aus diesem Grunde gefallen uns diese Scenen, sowol in der Natur, als in der Nachahmung. Nur findet sich zwischen den würklichen und nachgeahmten Scenen dieser Unter- schied, daß wir in den leztern die Catastrophe selbst noch sehen mögen, die in den Würklichen zu schmerz- haft seyn würde; weil wir dort iunner noch die Vor- stellung haben, daß die Sachen nicht würklich sind.
Daher kommt es, daß man den Künstlern em- pfiehlet, das würkliche Unglük, womit traurige Scenen sich endigen, nicht gar zu lebhaft zu schil- dern, damit nicht ein blos reiner Schmerz, ohne Beymischung des Vergnügens übrig bleibe; und daß kluge Künstler überhaupt das Wiedrige in den Scenen, nicht bis zum Ekelhaften treiben, (*) wel- ches nur Abscheu verursachen würde.
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Wer also für diesen Zwek arbeitet, kann jeden leidenschaftlichen Gegenstand wählen, wenn er sich nur in Acht nimmt, die Sachen nicht zu übertrei- ben. Weil sonst empfindsame Menschen Aug und Ohr von seinem Gegenstand abwenden würden. Der Künstler muß wol überlegen, daß die Absicht solcher Werke dahin geht, die Gemüther eine Zeitlang in der angenehmen Würksamkeit, die aus verschiedenen Empfindungen entsteht, zu unterhalten, ohne sie durch allzuheftige Eindrüke zu ermüden, oder die Leidenschaften auf einen Grad zu treiben, wo sie anfangen uns mit Heftigkeit anzugreifen, und Ver- wirrung anzurichten. Solche Werke müssen auf das Gemüth die Würkung haben, welche man in Absicht auf den Körper von allen zur Gesundheit und Erhaltung der Kräfte abziehlenden Leibesübun- gen erwartet. Auch diese werden schädlich, wenn sie zu heftig sind. Dieses haben verschiedene neuere Dichter in Trauerspielen, wo man doch keinen an- dern Zwek, als eine solche Gemüthsübung entdeket, nicht wol bedacht; daher sie auf das Vorurtheil ge- rathen sind, sie müßten sich hauptsächlich bestreben, die Leidenschaften recht heftig zu reizen, und deswe- gen den Gegenständen, wodurch sie sollten erwekt werden, eine rechte Abscheulichkeit, oder eine so ausnehmende sinnliche Kraft zu geben, daß die Zu- schauer recht erschüttert werden, und ihnen, wie man sagt, die Haare zu Berge stehen sollten. Wo die Leidenschaften blos zur Unterhaltung des Zuschauers, und gleichsam nur zu einer gesunden, aber angeneh- men Gemüthsübung geschildert werden, da befleißige sich der Künstler einer schiklichen Mäßigung: stär- kere Erschütterungen aber verspahre er auf die beson- deren Gelegenheiten, wo man die Absicht hat, Ge- müther von herrschenden verderblichen Uebeln zu hei- len; so wie man bey ähnlichen körperlichen Umstän- den, den Körper auch ausserordentlich angreift.
Man kann aber bey Werken leidenschaftlichen Jnhalts auch die Absicht haben andere dadurch, als durch Beyspiele, von der Beschaffenheit, von den Würkungen und den guten und bösen Folgen der Leidenschaften zu unterrichten. Wir erfahren da- durch was für unerwarteter Dinge der in Leiden- schaft gesezte Mensch fähig ist; wie hoch er sich er- heben und wie tief er fallen kann. Wir lernen dar- aus die eigentlichen Kräfte wodurch in der sittli- chen Welt das meiste ausgerichtet wird, und die seltsamen und bisweilen unerwarteten Eigenschaften
der
(*) Man sehe einige hierüber ge- machte An- merkungen in dem Art. Entsezen.
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lich mit einer traurigen Cataſtrophe, ſich endigen. Wenn wir mit Begierde zuſehen, wie Menſchen bey einem Schiffbruch das aͤußerſte thun, ſich zu retten, ſo wenden wir doch gern die Augen weg, indem wir ſie umkommen ſehen. Da macht uns ihre Noth nicht das geringſte Vergnuͤgen.
Aus dieſen Beobachtungen folget, daß der Menſch uͤberhaupt eine Neigung hat, leidenſchaftliche Scenen, ſie ſeyen angenehm oder unangenehm, zu ſehen, wenn nur dabey kein wuͤrkliches Ungluͤk geſchieht. So lange wir hoffen, oder wiſſen, daß die Menſchen, die wir in Noth ſehen, ſich daraus retten werden, nebmen wir gern Antheil an allem, was ſie empfin- den; wir leiden gern mit ihnen; beſtreben uns, ſie zu retten, arbeiten und ſchwizen vom bloßen Zu- ſchauen, wie ſie ſelbſt; die Hofnung, daß ſie dem Ue- bel entgehen werden, laͤßt uns von den verſchiedenen durch einanderlaufenden Gemuͤthsbewegungen, auch das Angenehme empfinden; naͤmlich die Wuͤrkſam- keit und die Kraͤfte der Seele. Der erſte Grund- trieb unſers ganzen Weſens iſt die Begierde, Kraͤfte zu beſizen, und ſie zu brauchen. Dieſer Trieb fin- det bey jeder leidenſchaftlichen Bewegung ſeine Nah- rung, ſo lange nicht eine gaͤuzliche Cataſtrophe uns der Wuͤrkſamkeit beraubet, oder ſie voͤllig hemmet.
Deswegen haben alle Leidenſchaften, in ſo fern die Seele ſich thaͤtig dabey erzeiget, wie unange- nehm ſie ſonſt ſeyn moͤgen, etwas das uns gefaͤllt. Jndem wir aber Zeugen leidenſchaftlicher Scenen ſind, entſtehen, wiewol in geringerem Grad, alle Bewegungen in uns, welche die darin wuͤrklich be- griffenen Perſonen fuͤhlen; und aus dieſem Grunde gefallen uns dieſe Scenen, ſowol in der Natur, als in der Nachahmung. Nur findet ſich zwiſchen den wuͤrklichen und nachgeahmten Scenen dieſer Unter- ſchied, daß wir in den leztern die Cataſtrophe ſelbſt noch ſehen moͤgen, die in den Wuͤrklichen zu ſchmerz- haft ſeyn wuͤrde; weil wir dort iunner noch die Vor- ſtellung haben, daß die Sachen nicht wuͤrklich ſind.
Daher kommt es, daß man den Kuͤnſtlern em- pfiehlet, das wuͤrkliche Ungluͤk, womit traurige Scenen ſich endigen, nicht gar zu lebhaft zu ſchil- dern, damit nicht ein blos reiner Schmerz, ohne Beymiſchung des Vergnuͤgens uͤbrig bleibe; und daß kluge Kuͤnſtler uͤberhaupt das Wiedrige in den Scenen, nicht bis zum Ekelhaften treiben, (*) wel- ches nur Abſcheu verurſachen wuͤrde.
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Wer alſo fuͤr dieſen Zwek arbeitet, kann jeden leidenſchaftlichen Gegenſtand waͤhlen, wenn er ſich nur in Acht nimmt, die Sachen nicht zu uͤbertrei- ben. Weil ſonſt empfindſame Menſchen Aug und Ohr von ſeinem Gegenſtand abwenden wuͤrden. Der Kuͤnſtler muß wol uͤberlegen, daß die Abſicht ſolcher Werke dahin geht, die Gemuͤther eine Zeitlang in der angenehmen Wuͤrkſamkeit, die aus verſchiedenen Empfindungen entſteht, zu unterhalten, ohne ſie durch allzuheftige Eindruͤke zu ermuͤden, oder die Leidenſchaften auf einen Grad zu treiben, wo ſie anfangen uns mit Heftigkeit anzugreifen, und Ver- wirrung anzurichten. Solche Werke muͤſſen auf das Gemuͤth die Wuͤrkung haben, welche man in Abſicht auf den Koͤrper von allen zur Geſundheit und Erhaltung der Kraͤfte abziehlenden Leibesuͤbun- gen erwartet. Auch dieſe werden ſchaͤdlich, wenn ſie zu heftig ſind. Dieſes haben verſchiedene neuere Dichter in Trauerſpielen, wo man doch keinen an- dern Zwek, als eine ſolche Gemuͤthsuͤbung entdeket, nicht wol bedacht; daher ſie auf das Vorurtheil ge- rathen ſind, ſie muͤßten ſich hauptſaͤchlich beſtreben, die Leidenſchaften recht heftig zu reizen, und deswe- gen den Gegenſtaͤnden, wodurch ſie ſollten erwekt werden, eine rechte Abſcheulichkeit, oder eine ſo ausnehmende ſinnliche Kraft zu geben, daß die Zu- ſchauer recht erſchuͤttert werden, und ihnen, wie man ſagt, die Haare zu Berge ſtehen ſollten. Wo die Leidenſchaften blos zur Unterhaltung des Zuſchauers, und gleichſam nur zu einer geſunden, aber angeneh- men Gemuͤthsuͤbung geſchildert werden, da befleißige ſich der Kuͤnſtler einer ſchiklichen Maͤßigung: ſtaͤr- kere Erſchuͤtterungen aber verſpahre er auf die beſon- deren Gelegenheiten, wo man die Abſicht hat, Ge- muͤther von herrſchenden verderblichen Uebeln zu hei- len; ſo wie man bey aͤhnlichen koͤrperlichen Umſtaͤn- den, den Koͤrper auch auſſerordentlich angreift.
Man kann aber bey Werken leidenſchaftlichen Jnhalts auch die Abſicht haben andere dadurch, als durch Beyſpiele, von der Beſchaffenheit, von den Wuͤrkungen und den guten und boͤſen Folgen der Leidenſchaften zu unterrichten. Wir erfahren da- durch was fuͤr unerwarteter Dinge der in Leiden- ſchaft geſezte Menſch faͤhig iſt; wie hoch er ſich er- heben und wie tief er fallen kann. Wir lernen dar- aus die eigentlichen Kraͤfte wodurch in der ſittli- chen Welt das meiſte ausgerichtet wird, und die ſeltſamen und bisweilen unerwarteten Eigenſchaften
der
(*) Man ſehe einige hieruͤber ge- machte An- merkungen in dem Art. Entſezen.
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[701[683]/0118]
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lich mit einer traurigen Cataſtrophe, ſich endigen.
Wenn wir mit Begierde zuſehen, wie Menſchen
bey einem Schiffbruch das aͤußerſte thun, ſich zu
retten, ſo wenden wir doch gern die Augen weg,
indem wir ſie umkommen ſehen. Da macht uns
ihre Noth nicht das geringſte Vergnuͤgen.
Aus dieſen Beobachtungen folget, daß der Menſch
uͤberhaupt eine Neigung hat, leidenſchaftliche Scenen,
ſie ſeyen angenehm oder unangenehm, zu ſehen, wenn
nur dabey kein wuͤrkliches Ungluͤk geſchieht. So
lange wir hoffen, oder wiſſen, daß die Menſchen,
die wir in Noth ſehen, ſich daraus retten werden,
nebmen wir gern Antheil an allem, was ſie empfin-
den; wir leiden gern mit ihnen; beſtreben uns, ſie
zu retten, arbeiten und ſchwizen vom bloßen Zu-
ſchauen, wie ſie ſelbſt; die Hofnung, daß ſie dem Ue-
bel entgehen werden, laͤßt uns von den verſchiedenen
durch einanderlaufenden Gemuͤthsbewegungen, auch
das Angenehme empfinden; naͤmlich die Wuͤrkſam-
keit und die Kraͤfte der Seele. Der erſte Grund-
trieb unſers ganzen Weſens iſt die Begierde, Kraͤfte
zu beſizen, und ſie zu brauchen. Dieſer Trieb fin-
det bey jeder leidenſchaftlichen Bewegung ſeine Nah-
rung, ſo lange nicht eine gaͤuzliche Cataſtrophe uns
der Wuͤrkſamkeit beraubet, oder ſie voͤllig hemmet.
Deswegen haben alle Leidenſchaften, in ſo fern
die Seele ſich thaͤtig dabey erzeiget, wie unange-
nehm ſie ſonſt ſeyn moͤgen, etwas das uns gefaͤllt.
Jndem wir aber Zeugen leidenſchaftlicher Scenen
ſind, entſtehen, wiewol in geringerem Grad, alle
Bewegungen in uns, welche die darin wuͤrklich be-
griffenen Perſonen fuͤhlen; und aus dieſem Grunde
gefallen uns dieſe Scenen, ſowol in der Natur, als
in der Nachahmung. Nur findet ſich zwiſchen den
wuͤrklichen und nachgeahmten Scenen dieſer Unter-
ſchied, daß wir in den leztern die Cataſtrophe ſelbſt
noch ſehen moͤgen, die in den Wuͤrklichen zu ſchmerz-
haft ſeyn wuͤrde; weil wir dort iunner noch die Vor-
ſtellung haben, daß die Sachen nicht wuͤrklich ſind.
Daher kommt es, daß man den Kuͤnſtlern em-
pfiehlet, das wuͤrkliche Ungluͤk, womit traurige
Scenen ſich endigen, nicht gar zu lebhaft zu ſchil-
dern, damit nicht ein blos reiner Schmerz, ohne
Beymiſchung des Vergnuͤgens uͤbrig bleibe; und
daß kluge Kuͤnſtler uͤberhaupt das Wiedrige in den
Scenen, nicht bis zum Ekelhaften treiben, (*) wel-
ches nur Abſcheu verurſachen wuͤrde.
Wer alſo fuͤr dieſen Zwek arbeitet, kann jeden
leidenſchaftlichen Gegenſtand waͤhlen, wenn er ſich
nur in Acht nimmt, die Sachen nicht zu uͤbertrei-
ben. Weil ſonſt empfindſame Menſchen Aug und
Ohr von ſeinem Gegenſtand abwenden wuͤrden. Der
Kuͤnſtler muß wol uͤberlegen, daß die Abſicht ſolcher
Werke dahin geht, die Gemuͤther eine Zeitlang in der
angenehmen Wuͤrkſamkeit, die aus verſchiedenen
Empfindungen entſteht, zu unterhalten, ohne ſie
durch allzuheftige Eindruͤke zu ermuͤden, oder die
Leidenſchaften auf einen Grad zu treiben, wo ſie
anfangen uns mit Heftigkeit anzugreifen, und Ver-
wirrung anzurichten. Solche Werke muͤſſen auf
das Gemuͤth die Wuͤrkung haben, welche man in
Abſicht auf den Koͤrper von allen zur Geſundheit
und Erhaltung der Kraͤfte abziehlenden Leibesuͤbun-
gen erwartet. Auch dieſe werden ſchaͤdlich, wenn
ſie zu heftig ſind. Dieſes haben verſchiedene neuere
Dichter in Trauerſpielen, wo man doch keinen an-
dern Zwek, als eine ſolche Gemuͤthsuͤbung entdeket,
nicht wol bedacht; daher ſie auf das Vorurtheil ge-
rathen ſind, ſie muͤßten ſich hauptſaͤchlich beſtreben,
die Leidenſchaften recht heftig zu reizen, und deswe-
gen den Gegenſtaͤnden, wodurch ſie ſollten erwekt
werden, eine rechte Abſcheulichkeit, oder eine ſo
ausnehmende ſinnliche Kraft zu geben, daß die Zu-
ſchauer recht erſchuͤttert werden, und ihnen, wie man
ſagt, die Haare zu Berge ſtehen ſollten. Wo die
Leidenſchaften blos zur Unterhaltung des Zuſchauers,
und gleichſam nur zu einer geſunden, aber angeneh-
men Gemuͤthsuͤbung geſchildert werden, da befleißige
ſich der Kuͤnſtler einer ſchiklichen Maͤßigung: ſtaͤr-
kere Erſchuͤtterungen aber verſpahre er auf die beſon-
deren Gelegenheiten, wo man die Abſicht hat, Ge-
muͤther von herrſchenden verderblichen Uebeln zu hei-
len; ſo wie man bey aͤhnlichen koͤrperlichen Umſtaͤn-
den, den Koͤrper auch auſſerordentlich angreift.
Man kann aber bey Werken leidenſchaftlichen
Jnhalts auch die Abſicht haben andere dadurch, als
durch Beyſpiele, von der Beſchaffenheit, von den
Wuͤrkungen und den guten und boͤſen Folgen der
Leidenſchaften zu unterrichten. Wir erfahren da-
durch was fuͤr unerwarteter Dinge der in Leiden-
ſchaft geſezte Menſch faͤhig iſt; wie hoch er ſich er-
heben und wie tief er fallen kann. Wir lernen dar-
aus die eigentlichen Kraͤfte wodurch in der ſittli-
chen Welt das meiſte ausgerichtet wird, und die
ſeltſamen und bisweilen unerwarteten Eigenſchaften
der
(*) Man
ſehe einige
hieruͤber ge-
machte An-
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Entſezen.
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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 701[683]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/118>, abgerufen am 24.11.2024.
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