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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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[Spaltenumbruch]

Auf
kühne Unternehmung, zuletzt etwas hervorbringt, das
einen unglüklichen Ausgang bewürkt. Es kommt
hiebey darauf an, daß der Dichter eine große Kennt-
niß des Menschen und menschlicher Zufälle habe,
daß er keine Würkung zeige, deren Ursache nicht
hinlänglich dazu wäre; daß er keinen Zufall heran
bringe, der dem natürlichen Lauf der menschlichen
Dinge nicht angemessen sey. Es ist aber nicht ge-
nug, daß er selbst die Möglichkeit der Sache, nach
dem ordentlichen Lauf der physischen oder sittlichen
Natur begreife; auch der Zuschauer muß ihn |be-
greifen. Deswegen muß der Dichter bisweilen
schon von weitem gewisse Sachen einfließen lassen,
die hernach bey der Auflösung alles begreiflicher
machen. Dieses nennt man die Auflösung vor-
bereiten.

Wie in der Natur kein Sprung statt hat, so
muß auch der Dichter bey seinen Auflösungen keinen
machen. Läßt er eine Paßion, oder eine Unter-
nehmung, für die kein guter Ausweg vorzusehen
war, plötzlich einen solchen finden, so geschehe es
so, daß aus der Lage der Sachen, erst nach dem
Erfolg begreiflich werde, wie die Sachen haben
kommen können. Es giebt bisweilen Auflösungen,
die ans unnatürliche gränzen, und eben deswegen
sehr schön werden; weil das, was unmöglich geschie-
nen hat, desto lebhaftere Eindrüke macht, wenn man
es würklich und aus begreiflichen Ursachen bewürkt
findet. So scheinet es unnatürlich, daß ein Mensch
plötzlich seine Sinnesart ändere, daß er aus einem
Bösewicht ein rechtschaffener Mann, aus einem
Tyrannen ein billiger und gütiger Regent werde.
Dennoch finden sich würkliche Veränderungen die-
ser Art in der Natur. So hätte es angehen kön-
nen, daß Corneille seinem Trauerspiel Rodogüne
durch eine andre Auflösung einen guten Ausgang
gegeben hätte. Er hätte die Bosheit und Rach-
gier der Cleopatra auf den höchsten Gipfel kommen
lassen. Denn hätte sie durch eine Rückkehr auf
die mütterliche Zärtlichkeit erst über ihr Vorhaben
gestutzt; dieses hätte sie zu einigem Nachdenken
über ihre ungeheure Bosheit und endlich gar zur
Reue gebracht. Dergleichen Fälle sind in der Na-
tur vorhanden. Der Dichter hatte so gar diese
Auflösung im dritten Auftritt des vierten Aufzu-
ges vorbereitet, da er die Cleopatra zum Antiochus
sagen läßt:

[Spaltenumbruch]
Auf
Vos larmes dans mon coeur ont trop d'intelligence,
Elles ont pres que eteint cette ardeur de vengeance.
Je ne puis refuser des soupirs a vos pleurs.
Je sens que je suis mere aupres de vos douleurs.
C'en est fait, je me rends et ma colere expire,
Rodogune est a vous, aussi bien que l'empire.

Da man Beyspiele von bewundrungswürdigen Ver-
änderungen der Sinnesart der Menschen hat, so
könnten dergleichen zu Auflösungen bisweilen ver-
sucht werden.

Es verdienet wegen der Comödie angemerkt zu
werden, daß die Alten verschiedentlich Auflösungen
gefunden haben, die zu ihrer Zeit natürlich waren,
die es itzt nicht mehr seyn würden. Plautus und
Terenz finden oft die Auflösung dadurch, daß ein
längst vergessener oder für todt gehaltener Mensch
plötzlich wieder erscheint; daß ein Vater sein Kind
erkennet, das er längst vergessen hatte. Dergleichen
Auflösungen sind zwar noch itzt möglich; sie müssen
aber, um wahrscheinlich zu seyn, mit mehr Vor-
sicht behandelt werden, als jene alten nöthig hat-
ten, bey denen dergleichen Zufälle durch die damals
gewöhnliche Aussetzung der Kinder, durch die Scla-
verey, in welche man durch den Krieg oder Men-
schenraub fallen konnte, durch die wenigere Ver-
bindung der Völker unter einander, durch Mangel
der Mittel, die man gegenwärtig hat, einer ver-
lohrnen Person nachzufragen, viel natürlicher wa-
ren, als sie itzo sind.

Die unnatürlichsten Auflösungen sind die, welche
man Maschinen nennt, davon in einem besondern
Artikel gesprochen worden.

Zur vollkommenen Auflösung gehört auch die
Vollständigkeit, die darin besteht, daß unsre ganze
Erwartung von der Sache befriediget, und das
Ende der Handlung so erreicht wird, daß wir gar
nichts mehr erwarten können. Man muß sich die
einzeln Personen, die Vorfälle, die in der Hand-
lung aufstoßen, als so viel Linien vorstellen, die
entweder gerade oder krumm sich zuletzt in einen
einzigen Punkt vereinigen; keine muß abgebrochen
werden, oder sich verlieren, noch auf einen andern,
als den allgemeinen Gesichtspunkt hingehen. Die
Charaktere müssen völlig entwikelt seyn, daß der
Zuschauer nichts mehr davon zu wissen verlanget,
die verschiedenen Unternehmungen müssen ihr Ende
so erreichen, daß die Fortsetzung derselben unmög-
lich wird, und das Schiksal der Personen muß

durch

[Spaltenumbruch]

Auf
kuͤhne Unternehmung, zuletzt etwas hervorbringt, das
einen ungluͤklichen Ausgang bewuͤrkt. Es kommt
hiebey darauf an, daß der Dichter eine große Kennt-
niß des Menſchen und menſchlicher Zufaͤlle habe,
daß er keine Wuͤrkung zeige, deren Urſache nicht
hinlaͤnglich dazu waͤre; daß er keinen Zufall heran
bringe, der dem natuͤrlichen Lauf der menſchlichen
Dinge nicht angemeſſen ſey. Es iſt aber nicht ge-
nug, daß er ſelbſt die Moͤglichkeit der Sache, nach
dem ordentlichen Lauf der phyſiſchen oder ſittlichen
Natur begreife; auch der Zuſchauer muß ihn |be-
greifen. Deswegen muß der Dichter bisweilen
ſchon von weitem gewiſſe Sachen einfließen laſſen,
die hernach bey der Aufloͤſung alles begreiflicher
machen. Dieſes nennt man die Aufloͤſung vor-
bereiten.

Wie in der Natur kein Sprung ſtatt hat, ſo
muß auch der Dichter bey ſeinen Aufloͤſungen keinen
machen. Laͤßt er eine Paßion, oder eine Unter-
nehmung, fuͤr die kein guter Ausweg vorzuſehen
war, ploͤtzlich einen ſolchen finden, ſo geſchehe es
ſo, daß aus der Lage der Sachen, erſt nach dem
Erfolg begreiflich werde, wie die Sachen haben
kommen koͤnnen. Es giebt bisweilen Aufloͤſungen,
die ans unnatuͤrliche graͤnzen, und eben deswegen
ſehr ſchoͤn werden; weil das, was unmoͤglich geſchie-
nen hat, deſto lebhaftere Eindruͤke macht, wenn man
es wuͤrklich und aus begreiflichen Urſachen bewuͤrkt
findet. So ſcheinet es unnatuͤrlich, daß ein Menſch
ploͤtzlich ſeine Sinnesart aͤndere, daß er aus einem
Boͤſewicht ein rechtſchaffener Mann, aus einem
Tyrannen ein billiger und guͤtiger Regent werde.
Dennoch finden ſich wuͤrkliche Veraͤnderungen die-
ſer Art in der Natur. So haͤtte es angehen koͤn-
nen, daß Corneille ſeinem Trauerſpiel Rodoguͤne
durch eine andre Aufloͤſung einen guten Ausgang
gegeben haͤtte. Er haͤtte die Bosheit und Rach-
gier der Cleopatra auf den hoͤchſten Gipfel kommen
laſſen. Denn haͤtte ſie durch eine Ruͤckkehr auf
die muͤtterliche Zaͤrtlichkeit erſt uͤber ihr Vorhaben
geſtutzt; dieſes haͤtte ſie zu einigem Nachdenken
uͤber ihre ungeheure Bosheit und endlich gar zur
Reue gebracht. Dergleichen Faͤlle ſind in der Na-
tur vorhanden. Der Dichter hatte ſo gar dieſe
Aufloͤſung im dritten Auftritt des vierten Aufzu-
ges vorbereitet, da er die Cleopatra zum Antiochus
ſagen laͤßt:

[Spaltenumbruch]
Auf
Vos larmes dans mon coeur ont trop d’intelligence,
Elles ont pres que éteint cette ardeur de vengeance.
Je ne puis refuſer des ſoupirs à vos pleurs.
Je ſens que je ſuis mêre aupres de vos douleurs.
C’en eſt fait, je me rends et ma colére expire,
Rodogune eſt à vous, auſſi bien que l’empire.

Da man Beyſpiele von bewundrungswuͤrdigen Ver-
aͤnderungen der Sinnesart der Menſchen hat, ſo
koͤnnten dergleichen zu Aufloͤſungen bisweilen ver-
ſucht werden.

Es verdienet wegen der Comoͤdie angemerkt zu
werden, daß die Alten verſchiedentlich Aufloͤſungen
gefunden haben, die zu ihrer Zeit natuͤrlich waren,
die es itzt nicht mehr ſeyn wuͤrden. Plautus und
Terenz finden oft die Aufloͤſung dadurch, daß ein
laͤngſt vergeſſener oder fuͤr todt gehaltener Menſch
ploͤtzlich wieder erſcheint; daß ein Vater ſein Kind
erkennet, das er laͤngſt vergeſſen hatte. Dergleichen
Aufloͤſungen ſind zwar noch itzt moͤglich; ſie muͤſſen
aber, um wahrſcheinlich zu ſeyn, mit mehr Vor-
ſicht behandelt werden, als jene alten noͤthig hat-
ten, bey denen dergleichen Zufaͤlle durch die damals
gewoͤhnliche Ausſetzung der Kinder, durch die Scla-
verey, in welche man durch den Krieg oder Men-
ſchenraub fallen konnte, durch die wenigere Ver-
bindung der Voͤlker unter einander, durch Mangel
der Mittel, die man gegenwaͤrtig hat, einer ver-
lohrnen Perſon nachzufragen, viel natuͤrlicher wa-
ren, als ſie itzo ſind.

Die unnatuͤrlichſten Aufloͤſungen ſind die, welche
man Maſchinen nennt, davon in einem beſondern
Artikel geſprochen worden.

Zur vollkommenen Aufloͤſung gehoͤrt auch die
Vollſtaͤndigkeit, die darin beſteht, daß unſre ganze
Erwartung von der Sache befriediget, und das
Ende der Handlung ſo erreicht wird, daß wir gar
nichts mehr erwarten koͤnnen. Man muß ſich die
einzeln Perſonen, die Vorfaͤlle, die in der Hand-
lung aufſtoßen, als ſo viel Linien vorſtellen, die
entweder gerade oder krumm ſich zuletzt in einen
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werden, oder ſich verlieren, noch auf einen andern,
als den allgemeinen Geſichtspunkt hingehen. Die
Charaktere muͤſſen voͤllig entwikelt ſeyn, daß der
Zuſchauer nichts mehr davon zu wiſſen verlanget,
die verſchiedenen Unternehmungen muͤſſen ihr Ende
ſo erreichen, daß die Fortſetzung derſelben unmoͤg-
lich wird, und das Schikſal der Perſonen muß

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[87/0099] Auf Auf kuͤhne Unternehmung, zuletzt etwas hervorbringt, das einen ungluͤklichen Ausgang bewuͤrkt. Es kommt hiebey darauf an, daß der Dichter eine große Kennt- niß des Menſchen und menſchlicher Zufaͤlle habe, daß er keine Wuͤrkung zeige, deren Urſache nicht hinlaͤnglich dazu waͤre; daß er keinen Zufall heran bringe, der dem natuͤrlichen Lauf der menſchlichen Dinge nicht angemeſſen ſey. Es iſt aber nicht ge- nug, daß er ſelbſt die Moͤglichkeit der Sache, nach dem ordentlichen Lauf der phyſiſchen oder ſittlichen Natur begreife; auch der Zuſchauer muß ihn |be- greifen. Deswegen muß der Dichter bisweilen ſchon von weitem gewiſſe Sachen einfließen laſſen, die hernach bey der Aufloͤſung alles begreiflicher machen. Dieſes nennt man die Aufloͤſung vor- bereiten. Wie in der Natur kein Sprung ſtatt hat, ſo muß auch der Dichter bey ſeinen Aufloͤſungen keinen machen. Laͤßt er eine Paßion, oder eine Unter- nehmung, fuͤr die kein guter Ausweg vorzuſehen war, ploͤtzlich einen ſolchen finden, ſo geſchehe es ſo, daß aus der Lage der Sachen, erſt nach dem Erfolg begreiflich werde, wie die Sachen haben kommen koͤnnen. Es giebt bisweilen Aufloͤſungen, die ans unnatuͤrliche graͤnzen, und eben deswegen ſehr ſchoͤn werden; weil das, was unmoͤglich geſchie- nen hat, deſto lebhaftere Eindruͤke macht, wenn man es wuͤrklich und aus begreiflichen Urſachen bewuͤrkt findet. So ſcheinet es unnatuͤrlich, daß ein Menſch ploͤtzlich ſeine Sinnesart aͤndere, daß er aus einem Boͤſewicht ein rechtſchaffener Mann, aus einem Tyrannen ein billiger und guͤtiger Regent werde. Dennoch finden ſich wuͤrkliche Veraͤnderungen die- ſer Art in der Natur. So haͤtte es angehen koͤn- nen, daß Corneille ſeinem Trauerſpiel Rodoguͤne durch eine andre Aufloͤſung einen guten Ausgang gegeben haͤtte. Er haͤtte die Bosheit und Rach- gier der Cleopatra auf den hoͤchſten Gipfel kommen laſſen. Denn haͤtte ſie durch eine Ruͤckkehr auf die muͤtterliche Zaͤrtlichkeit erſt uͤber ihr Vorhaben geſtutzt; dieſes haͤtte ſie zu einigem Nachdenken uͤber ihre ungeheure Bosheit und endlich gar zur Reue gebracht. Dergleichen Faͤlle ſind in der Na- tur vorhanden. Der Dichter hatte ſo gar dieſe Aufloͤſung im dritten Auftritt des vierten Aufzu- ges vorbereitet, da er die Cleopatra zum Antiochus ſagen laͤßt: Vos larmes dans mon coeur ont trop d’intelligence, Elles ont pres que éteint cette ardeur de vengeance. Je ne puis refuſer des ſoupirs à vos pleurs. Je ſens que je ſuis mêre aupres de vos douleurs. C’en eſt fait, je me rends et ma colére expire, Rodogune eſt à vous, auſſi bien que l’empire. Da man Beyſpiele von bewundrungswuͤrdigen Ver- aͤnderungen der Sinnesart der Menſchen hat, ſo koͤnnten dergleichen zu Aufloͤſungen bisweilen ver- ſucht werden. Es verdienet wegen der Comoͤdie angemerkt zu werden, daß die Alten verſchiedentlich Aufloͤſungen gefunden haben, die zu ihrer Zeit natuͤrlich waren, die es itzt nicht mehr ſeyn wuͤrden. Plautus und Terenz finden oft die Aufloͤſung dadurch, daß ein laͤngſt vergeſſener oder fuͤr todt gehaltener Menſch ploͤtzlich wieder erſcheint; daß ein Vater ſein Kind erkennet, das er laͤngſt vergeſſen hatte. Dergleichen Aufloͤſungen ſind zwar noch itzt moͤglich; ſie muͤſſen aber, um wahrſcheinlich zu ſeyn, mit mehr Vor- ſicht behandelt werden, als jene alten noͤthig hat- ten, bey denen dergleichen Zufaͤlle durch die damals gewoͤhnliche Ausſetzung der Kinder, durch die Scla- verey, in welche man durch den Krieg oder Men- ſchenraub fallen konnte, durch die wenigere Ver- bindung der Voͤlker unter einander, durch Mangel der Mittel, die man gegenwaͤrtig hat, einer ver- lohrnen Perſon nachzufragen, viel natuͤrlicher wa- ren, als ſie itzo ſind. Die unnatuͤrlichſten Aufloͤſungen ſind die, welche man Maſchinen nennt, davon in einem beſondern Artikel geſprochen worden. Zur vollkommenen Aufloͤſung gehoͤrt auch die Vollſtaͤndigkeit, die darin beſteht, daß unſre ganze Erwartung von der Sache befriediget, und das Ende der Handlung ſo erreicht wird, daß wir gar nichts mehr erwarten koͤnnen. Man muß ſich die einzeln Perſonen, die Vorfaͤlle, die in der Hand- lung aufſtoßen, als ſo viel Linien vorſtellen, die entweder gerade oder krumm ſich zuletzt in einen einzigen Punkt vereinigen; keine muß abgebrochen werden, oder ſich verlieren, noch auf einen andern, als den allgemeinen Geſichtspunkt hingehen. Die Charaktere muͤſſen voͤllig entwikelt ſeyn, daß der Zuſchauer nichts mehr davon zu wiſſen verlanget, die verſchiedenen Unternehmungen muͤſſen ihr Ende ſo erreichen, daß die Fortſetzung derſelben unmoͤg- lich wird, und das Schikſal der Perſonen muß durch

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/99>, abgerufen am 20.04.2024.