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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Ari
sung des Herzens seyn müsse. Denn nur in der-
gleichen Fällen ist es einem Menschen natürlich, seine
Sprache in einen Gesang zu verwandeln. Die
Arie ist von der Ode und der Elegie nur darin un-
terschieden, daß sie die Empfindung kürzer und
gleichsam nur auf einen Punkt zusammen gedrängt
schildert.

Sie erfodert demnach einen großen Dichter, der
den ganzen Umfang einer Empfindung in wenig,
aber sehr wolfließenden Ausdrüken zu schildern ver-
mag. Eine zu heftige und zugleich unruhige Lei-
denschaft, die überall Gelegenheit sucht auf ver-
schiedene Weise auszuschweifen, schiket sich zur Arie
nicht, weil die Einheit der Empfindung, die hier
nöthig ist, in diesem Fall nicht wol könnte beybe-
halten werden. Daher der angeführte Schriftsteller
(*) Am an-
gezogenen
Orte. S.
132.
gründlich erinnert, (*) daß die Aeußerung solcher
ströhmenden Leidenschaften besser in den so genann-
ten Accompagnamenten ausgedrükt werde.

Alle besondere Regeln, welche der Dichter bey
Verfertigung der Arie in Acht zu nehmen hat, sind
im achten Hauptstüke des angeführten Werks so voll-
kommen gründlich und deutlich ausgeführet, daß
uns nichts hinzu zu thun übrig bleibet. Wir be-
gnügen uns also den Leser dorthin zu weisen.
Dies einzige wollen wir anführen, daß die Arie aus
zwey Theilen, oder eben so viel Sätzen bestehe.
Der erste enthält die allgemeine Aeußerung der Em-
pfindung; der andre aber eine besondere Wendung
derselben Oder wenn der erste das besondere der
Empfindung ausdrükt, so enthält der andre das
Allgemeine derselben. Denn auf diese Weise hat
der Tonsetzer Gelegenheit, den Ausdruk am voll-
kommensten zu bearbeiten. Ueberhaupt ist die Arie
am vollkommensten, wenn der erste Theil mit dem
zweyten einen Gegensatz ausmacht.

Es wäre zu wünschen, daß die Tonsetzer eine
eben so gründliche Anleitung für ihre Bearbeitung
der Arie hätten, als die ist, welche man den Dich-
tern gegeben hat. Aber in diesem Stük, wie in
sehr vielen andern, ist die Theorie des Tonsetzens
überaus versäumt worden.

Jn Ansehung der äußerlichen Form der Arie
haben die welschen Tonsetzer eine Mode eingeführt,
die bey nahe zum Gesez geworden ist. Zuerst ma-
chen die Jnstrumente ein Vorspiel, das Ritornel
genennt, in welchem der Hauptausdruk der Arie
kürzlich vorgetragen wird: hierauf tritt die Singe-
[Spaltenumbruch]

Ari
stimme ein, und singt den ersten Theil der Arie ohne
große Ausdehnung ganz ab: wiederholt hernach die
Sätze und zergliedert sie: alsdenn ruht die Stimme
etliche Takte lang; damit der Sänger wieder frey
Athem holen könne. Während dieser Zeit machen
die Jnstrumente ein kurzes Zwischenspiel, in wel-
chem die Hauptpunkte des Ausdruks wiederholt
werden: hierauf fängt der Sänger wieder an, die
Worte des ersten Theils noch einmal zu zergliedern,
und hält sich vornehmlich bey dem wesentlichsten
der Empfindung auf; alsdenn schließt er den Ge-
sang des ersten Theils, die Jnstrumente aber fahren
fort den Ausdruk immer mehr zu bekräftigen, und
schließen endlich den ersten Theil der Arie.

Der andre Theil wird hernach ohne das viele
wiederholen und zergliedern, das im ersten Theil
statt gehabt, hinter einander abgesungen, nur
daß die Jnstrumente ab und zu, bey kurzen Pausen
der Singestimme den Ausdruk mehr bekräftigen.
Wenn der Sänger ganz fertig ist, so machen die
Jnstrumente wieder ein Ritornel, nach welchem
der erste Theil der Arie noch einmal eben wie zuvor
wiederholet wird. Dis ist die allgemeine Form der
heutigen Arien.

Man muß gestehen, daß sie dem Zwek der Musik
sehr gemäß und vernünftig ausgedacht ist. Das
Ritornel läßt dem Sänger, der durch das vorher-
gehende Recitativ etwas ermüdet worden ist, Zeit,
Athem zu holen und sich zu einem guten Gesang
vorzubereiten; zugleich wird der Zuhörer in die
gehörige Fassung und nöthige Aufmerksamkeit ge-
setzt. Jndessen bindet sich der Tonsetzer nicht al-
lemal an diese Gewohnheit; sondern läßt bisweilen
die Singestimme, ohne alle Vorbereitung, anfan-
gen. Dieses ist bey gewissen Gelegenhetten, wo
die Affekte recht heftig sind, von sehr guter Würkung,
wie jedermann in der Oxera Cinna, welche in Ber-
lin aufgeführt worden, bey der schönen Aria, O
Numi, consiglio in tanto periglio
empfunden hat.

Daß der erste Theil der Arie anfänglich unun-
terbrochen abgesungen wird, wobey die Jnstru-
mente meistens schweigen und nur hier und da der
Stimme einen Nachdruk geben, hat auch seinen
guten Grund. Denn auf diese Weise übersieht
man den ersten Theil geschwind und wird in die ge-
hörige Fassung gesetzt, das zu empfinden, was der
Dichter und der Tonsetzer uns wollen empfinden
machen. Erst alsdenn sieht man, worauf es ei-

gentlich

[Spaltenumbruch]

Ari
ſung des Herzens ſeyn muͤſſe. Denn nur in der-
gleichen Faͤllen iſt es einem Menſchen natuͤrlich, ſeine
Sprache in einen Geſang zu verwandeln. Die
Arie iſt von der Ode und der Elegie nur darin un-
terſchieden, daß ſie die Empfindung kuͤrzer und
gleichſam nur auf einen Punkt zuſammen gedraͤngt
ſchildert.

Sie erfodert demnach einen großen Dichter, der
den ganzen Umfang einer Empfindung in wenig,
aber ſehr wolfließenden Ausdruͤken zu ſchildern ver-
mag. Eine zu heftige und zugleich unruhige Lei-
denſchaft, die uͤberall Gelegenheit ſucht auf ver-
ſchiedene Weiſe auszuſchweifen, ſchiket ſich zur Arie
nicht, weil die Einheit der Empfindung, die hier
noͤthig iſt, in dieſem Fall nicht wol koͤnnte beybe-
halten werden. Daher der angefuͤhrte Schriftſteller
(*) Am an-
gezogenen
Orte. S.
132.
gruͤndlich erinnert, (*) daß die Aeußerung ſolcher
ſtroͤhmenden Leidenſchaften beſſer in den ſo genann-
ten Accompagnamenten ausgedruͤkt werde.

Alle beſondere Regeln, welche der Dichter bey
Verfertigung der Arie in Acht zu nehmen hat, ſind
im achten Hauptſtuͤke des angefuͤhrten Werks ſo voll-
kommen gruͤndlich und deutlich ausgefuͤhret, daß
uns nichts hinzu zu thun uͤbrig bleibet. Wir be-
gnuͤgen uns alſo den Leſer dorthin zu weiſen.
Dies einzige wollen wir anfuͤhren, daß die Arie aus
zwey Theilen, oder eben ſo viel Saͤtzen beſtehe.
Der erſte enthaͤlt die allgemeine Aeußerung der Em-
pfindung; der andre aber eine beſondere Wendung
derſelben Oder wenn der erſte das beſondere der
Empfindung ausdruͤkt, ſo enthaͤlt der andre das
Allgemeine derſelben. Denn auf dieſe Weiſe hat
der Tonſetzer Gelegenheit, den Ausdruk am voll-
kommenſten zu bearbeiten. Ueberhaupt iſt die Arie
am vollkommenſten, wenn der erſte Theil mit dem
zweyten einen Gegenſatz ausmacht.

Es waͤre zu wuͤnſchen, daß die Tonſetzer eine
eben ſo gruͤndliche Anleitung fuͤr ihre Bearbeitung
der Arie haͤtten, als die iſt, welche man den Dich-
tern gegeben hat. Aber in dieſem Stuͤk, wie in
ſehr vielen andern, iſt die Theorie des Tonſetzens
uͤberaus verſaͤumt worden.

Jn Anſehung der aͤußerlichen Form der Arie
haben die welſchen Tonſetzer eine Mode eingefuͤhrt,
die bey nahe zum Geſez geworden iſt. Zuerſt ma-
chen die Jnſtrumente ein Vorſpiel, das Ritornel
genennt, in welchem der Hauptausdruk der Arie
kuͤrzlich vorgetragen wird: hierauf tritt die Singe-
[Spaltenumbruch]

Ari
ſtimme ein, und ſingt den erſten Theil der Arie ohne
große Ausdehnung ganz ab: wiederholt hernach die
Saͤtze und zergliedert ſie: alsdenn ruht die Stimme
etliche Takte lang; damit der Saͤnger wieder frey
Athem holen koͤnne. Waͤhrend dieſer Zeit machen
die Jnſtrumente ein kurzes Zwiſchenſpiel, in wel-
chem die Hauptpunkte des Ausdruks wiederholt
werden: hierauf faͤngt der Saͤnger wieder an, die
Worte des erſten Theils noch einmal zu zergliedern,
und haͤlt ſich vornehmlich bey dem weſentlichſten
der Empfindung auf; alsdenn ſchließt er den Ge-
ſang des erſten Theils, die Jnſtrumente aber fahren
fort den Ausdruk immer mehr zu bekraͤftigen, und
ſchließen endlich den erſten Theil der Arie.

Der andre Theil wird hernach ohne das viele
wiederholen und zergliedern, das im erſten Theil
ſtatt gehabt, hinter einander abgeſungen, nur
daß die Jnſtrumente ab und zu, bey kurzen Pauſen
der Singeſtimme den Ausdruk mehr bekraͤftigen.
Wenn der Saͤnger ganz fertig iſt, ſo machen die
Jnſtrumente wieder ein Ritornel, nach welchem
der erſte Theil der Arie noch einmal eben wie zuvor
wiederholet wird. Dis iſt die allgemeine Form der
heutigen Arien.

Man muß geſtehen, daß ſie dem Zwek der Muſik
ſehr gemaͤß und vernuͤnftig ausgedacht iſt. Das
Ritornel laͤßt dem Saͤnger, der durch das vorher-
gehende Recitativ etwas ermuͤdet worden iſt, Zeit,
Athem zu holen und ſich zu einem guten Geſang
vorzubereiten; zugleich wird der Zuhoͤrer in die
gehoͤrige Faſſung und noͤthige Aufmerkſamkeit ge-
ſetzt. Jndeſſen bindet ſich der Tonſetzer nicht al-
lemal an dieſe Gewohnheit; ſondern laͤßt bisweilen
die Singeſtimme, ohne alle Vorbereitung, anfan-
gen. Dieſes iſt bey gewiſſen Gelegenhetten, wo
die Affekte recht heftig ſind, von ſehr guter Wuͤrkung,
wie jedermann in der Oxera Cinna, welche in Ber-
lin aufgefuͤhrt worden, bey der ſchoͤnen Aria, O
Numi, conſiglio in tanto periglio
empfunden hat.

Daß der erſte Theil der Arie anfaͤnglich unun-
terbrochen abgeſungen wird, wobey die Jnſtru-
mente meiſtens ſchweigen und nur hier und da der
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guten Grund. Denn auf dieſe Weiſe uͤberſieht
man den erſten Theil geſchwind und wird in die ge-
hoͤrige Faſſung geſetzt, das zu empfinden, was der
Dichter und der Tonſetzer uns wollen empfinden
machen. Erſt alsdenn ſieht man, worauf es ei-

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[78/0090] Ari Ari ſung des Herzens ſeyn muͤſſe. Denn nur in der- gleichen Faͤllen iſt es einem Menſchen natuͤrlich, ſeine Sprache in einen Geſang zu verwandeln. Die Arie iſt von der Ode und der Elegie nur darin un- terſchieden, daß ſie die Empfindung kuͤrzer und gleichſam nur auf einen Punkt zuſammen gedraͤngt ſchildert. Sie erfodert demnach einen großen Dichter, der den ganzen Umfang einer Empfindung in wenig, aber ſehr wolfließenden Ausdruͤken zu ſchildern ver- mag. Eine zu heftige und zugleich unruhige Lei- denſchaft, die uͤberall Gelegenheit ſucht auf ver- ſchiedene Weiſe auszuſchweifen, ſchiket ſich zur Arie nicht, weil die Einheit der Empfindung, die hier noͤthig iſt, in dieſem Fall nicht wol koͤnnte beybe- halten werden. Daher der angefuͤhrte Schriftſteller gruͤndlich erinnert, (*) daß die Aeußerung ſolcher ſtroͤhmenden Leidenſchaften beſſer in den ſo genann- ten Accompagnamenten ausgedruͤkt werde. (*) Am an- gezogenen Orte. S. 132. Alle beſondere Regeln, welche der Dichter bey Verfertigung der Arie in Acht zu nehmen hat, ſind im achten Hauptſtuͤke des angefuͤhrten Werks ſo voll- kommen gruͤndlich und deutlich ausgefuͤhret, daß uns nichts hinzu zu thun uͤbrig bleibet. Wir be- gnuͤgen uns alſo den Leſer dorthin zu weiſen. Dies einzige wollen wir anfuͤhren, daß die Arie aus zwey Theilen, oder eben ſo viel Saͤtzen beſtehe. Der erſte enthaͤlt die allgemeine Aeußerung der Em- pfindung; der andre aber eine beſondere Wendung derſelben Oder wenn der erſte das beſondere der Empfindung ausdruͤkt, ſo enthaͤlt der andre das Allgemeine derſelben. Denn auf dieſe Weiſe hat der Tonſetzer Gelegenheit, den Ausdruk am voll- kommenſten zu bearbeiten. Ueberhaupt iſt die Arie am vollkommenſten, wenn der erſte Theil mit dem zweyten einen Gegenſatz ausmacht. Es waͤre zu wuͤnſchen, daß die Tonſetzer eine eben ſo gruͤndliche Anleitung fuͤr ihre Bearbeitung der Arie haͤtten, als die iſt, welche man den Dich- tern gegeben hat. Aber in dieſem Stuͤk, wie in ſehr vielen andern, iſt die Theorie des Tonſetzens uͤberaus verſaͤumt worden. Jn Anſehung der aͤußerlichen Form der Arie haben die welſchen Tonſetzer eine Mode eingefuͤhrt, die bey nahe zum Geſez geworden iſt. Zuerſt ma- chen die Jnſtrumente ein Vorſpiel, das Ritornel genennt, in welchem der Hauptausdruk der Arie kuͤrzlich vorgetragen wird: hierauf tritt die Singe- ſtimme ein, und ſingt den erſten Theil der Arie ohne große Ausdehnung ganz ab: wiederholt hernach die Saͤtze und zergliedert ſie: alsdenn ruht die Stimme etliche Takte lang; damit der Saͤnger wieder frey Athem holen koͤnne. Waͤhrend dieſer Zeit machen die Jnſtrumente ein kurzes Zwiſchenſpiel, in wel- chem die Hauptpunkte des Ausdruks wiederholt werden: hierauf faͤngt der Saͤnger wieder an, die Worte des erſten Theils noch einmal zu zergliedern, und haͤlt ſich vornehmlich bey dem weſentlichſten der Empfindung auf; alsdenn ſchließt er den Ge- ſang des erſten Theils, die Jnſtrumente aber fahren fort den Ausdruk immer mehr zu bekraͤftigen, und ſchließen endlich den erſten Theil der Arie. Der andre Theil wird hernach ohne das viele wiederholen und zergliedern, das im erſten Theil ſtatt gehabt, hinter einander abgeſungen, nur daß die Jnſtrumente ab und zu, bey kurzen Pauſen der Singeſtimme den Ausdruk mehr bekraͤftigen. Wenn der Saͤnger ganz fertig iſt, ſo machen die Jnſtrumente wieder ein Ritornel, nach welchem der erſte Theil der Arie noch einmal eben wie zuvor wiederholet wird. Dis iſt die allgemeine Form der heutigen Arien. Man muß geſtehen, daß ſie dem Zwek der Muſik ſehr gemaͤß und vernuͤnftig ausgedacht iſt. Das Ritornel laͤßt dem Saͤnger, der durch das vorher- gehende Recitativ etwas ermuͤdet worden iſt, Zeit, Athem zu holen und ſich zu einem guten Geſang vorzubereiten; zugleich wird der Zuhoͤrer in die gehoͤrige Faſſung und noͤthige Aufmerkſamkeit ge- ſetzt. Jndeſſen bindet ſich der Tonſetzer nicht al- lemal an dieſe Gewohnheit; ſondern laͤßt bisweilen die Singeſtimme, ohne alle Vorbereitung, anfan- gen. Dieſes iſt bey gewiſſen Gelegenhetten, wo die Affekte recht heftig ſind, von ſehr guter Wuͤrkung, wie jedermann in der Oxera Cinna, welche in Ber- lin aufgefuͤhrt worden, bey der ſchoͤnen Aria, O Numi, conſiglio in tanto periglio empfunden hat. Daß der erſte Theil der Arie anfaͤnglich unun- terbrochen abgeſungen wird, wobey die Jnſtru- mente meiſtens ſchweigen und nur hier und da der Stimme einen Nachdruk geben, hat auch ſeinen guten Grund. Denn auf dieſe Weiſe uͤberſieht man den erſten Theil geſchwind und wird in die ge- hoͤrige Faſſung geſetzt, das zu empfinden, was der Dichter und der Tonſetzer uns wollen empfinden machen. Erſt alsdenn ſieht man, worauf es ei- gentlich

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/90>, abgerufen am 24.11.2024.