lung in wol bestimmte Perioden abgetheilt werde. Das End einer jeden Periode muß eine Ruhestelle seyn, auf welcher man das Vorhergegangene deut- lich übersehen, und über das folgende seine Erwar- tungen entwerfen könne.
Es dienet viel zu einer lebhaften und deutlichen Vorstellung der ganzen Handlung, wenn sie in we- nig Perioden eingetheilt ist, die so auf einander folgen, daß man am End einer jeden bestimmt sieht, wie weit die Handlung fortgerükt ist.
Jn Ansehung der Ordnung dieser Perioden ge- ben einige Kunstrichter Regeln, die sehr übel ver- (*) S. Einleitung in die schö- nen Wissen- schaften II. Theil, I. Abschn. p. 118. nach der ersten Ausgabe der Ramle- rischen Ue- bersetzung.standen werden könnten. So sagt Batteux, (*) daß der epische Dichter die Ordnung des Geschicht- schreibers umkehre, und die Erzählung nahe am Ende der Handlung anfange. Man könnte da- durch auf den Wahn gerathen, daß die größte Unord- nung in der Folge der Begebenheiten, eine Schön- heit wäre, die der epische Dichter suchen müsse.
Jndessen ist gewiß, daß keine Unordnung in ei- nem schönen Werke statt hat. Der epische Dichter muß dem Geschichtschreiber in der Ordnung der Be- gebenheiten in so weit folgen, als es mit der Leb- haftigkeit seines Vortrages bestehen kann. Es wäre seltsam, wenn er uns eine Begebenheit von hinten her erzählen wollte. Der Anfang der Hand- lung muß nothwendig zuerst erzählt werden, und die nächste Folge der angefangenen Handlung, die den Grund der folgenden Verwiklungen enthält, muß nothwendig eher, als diese, vorgetragen wer- den.
Aber insofern geht der epische Dichter von dem Geschichtschreiber ab, als die Natur seines Vorha- bens es erfodert. Dieser will uns vollständig von ei- ner Begebenheit unterrichten, und verfährt so, als wenn uns die ganze Sache unbekannt wäre; jener aber stellt uns eine bekannte Sache in der Form vor, in welcher sie uns am kräftigsten rühret. Der Geschichtschreiber darf sich deswegen nicht scheuen, die entferntesten Veranlasungen und die Ursachen, die dem Ausbruch der Handlung vorher gegan- gen, umständlich zu erzählen. Dieses wäre für den Dichter ein zu matter Anfang. Er führt uns gleich zum Anfang der Handlung, und erwähnt die uns schon bekannte Veranlasung, oder Ursache, nur kurz, damit wir ohne Umschweife in die Hitze der Handlung herein kommen.
[Spaltenumbruch]
Ano
So würde der Geschichtschreiber, der den Zug des Aeneas nach Jtalien beschrieben hätte, bey der Zer- stöhrung der Stadt Troja angefangen, und seinem Helden vom Auszug aus der brennenden Stadt, in der genauesten Ordnung seiner Reise, gefolget seyn. Der Dichter aber mußte ganz anders verfahren, oh- ne deswegen die Ordnung der Dinge umzukehren. Seine Absicht war, dem Leser die Niederlassung des Aeneas in Jtalien, deren Veranlasung bekannt war, von der merkwürdigsten Seite vorzustellen. Er fängt deshalb die Handlung nicht von seinem Aus- zug aus Troja, sondern von da an, da die reisenden Helden das Land ihrer Bestimmung gleichsam schon im Gesichte hatten. Das vorhergehende gehört nicht zu seiner Handlung, ob er gleich im Verfolg viel davon erzählt. Wenn man daraus urtheilen wollte, daß das, was der Abfahrt aus Sicilien vor- her gegangen ist, nothwendig zur Handlung der Ae- neis gehörte, weil es der Dichter nachgeholt hat, so müßte man aus eben dem Grunde auch sagen, daß die Geschichte des hölzernen Pferdes ein noth- wendiger Theil der Handlung wäre. Virgil fängt also sein Gedicht nicht mitten in der Handlung, son- dern von Anfang derselben, an.
Wir sehen auch nicht wol, wie man von der Re- gel abweichen könnte, die wesentlichen Perioden der Handlung in der Ordnung vorzutragen, wie sie aus einander folgen. Denn je mehr Deutlichkeit und natürliche Verbindung in der Folge dieser Hauptperioden ist, je lebhafter wird das Ganze in die Vorstellungskraft fallen. Darin aber kann der Dichter von der Ordnung des Geschichtschreibers abgehen, daß er nur das wesentlichste in der besten Ordnung hinter einander stellt, und gewisse Neben- dinge, zum Schmuk des Ganzen, da anbringt, wo er die besten Ruhestellen der Haupthandlung findet, da wo die Lebhaftigkeit der Vorstellung eine Mäs- sigung erfodert.
Wir glauben uns nicht zu irren, wenn wir über- haupt von der Anordnung der epischen Handlung diese allgemeine Regel annehmen: Die wesentlich- sten Theile derselben setze der Dichter in einer so natürlichen Ordnung hinter einander, daß die Vor- stellungskraft den Faden derselben leicht finde und das Ganze mit einem Blik übersehen könne; die, der Haupthandlung untergeordneten, Begebenheiten, die blos zu mehrerer Vollständigkeit derselben und zur Vermehrung der Mannigfaltigkeit gehören, suche
er
J 2
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Ano
lung in wol beſtimmte Perioden abgetheilt werde. Das End einer jeden Periode muß eine Ruheſtelle ſeyn, auf welcher man das Vorhergegangene deut- lich uͤberſehen, und uͤber das folgende ſeine Erwar- tungen entwerfen koͤnne.
Es dienet viel zu einer lebhaften und deutlichen Vorſtellung der ganzen Handlung, wenn ſie in we- nig Perioden eingetheilt iſt, die ſo auf einander folgen, daß man am End einer jeden beſtimmt ſieht, wie weit die Handlung fortgeruͤkt iſt.
Jn Anſehung der Ordnung dieſer Perioden ge- ben einige Kunſtrichter Regeln, die ſehr uͤbel ver- (*) S. Einleitung in die ſchoͤ- nen Wiſſen- ſchaften II. Theil, I. Abſchn. p. 118. nach der erſten Ausgabe der Ramle- riſchen Ue- berſetzung.ſtanden werden koͤnnten. So ſagt Batteux, (*) daß der epiſche Dichter die Ordnung des Geſchicht- ſchreibers umkehre, und die Erzaͤhlung nahe am Ende der Handlung anfange. Man koͤnnte da- durch auf den Wahn gerathen, daß die groͤßte Unord- nung in der Folge der Begebenheiten, eine Schoͤn- heit waͤre, die der epiſche Dichter ſuchen muͤſſe.
Jndeſſen iſt gewiß, daß keine Unordnung in ei- nem ſchoͤnen Werke ſtatt hat. Der epiſche Dichter muß dem Geſchichtſchreiber in der Ordnung der Be- gebenheiten in ſo weit folgen, als es mit der Leb- haftigkeit ſeines Vortrages beſtehen kann. Es waͤre ſeltſam, wenn er uns eine Begebenheit von hinten her erzaͤhlen wollte. Der Anfang der Hand- lung muß nothwendig zuerſt erzaͤhlt werden, und die naͤchſte Folge der angefangenen Handlung, die den Grund der folgenden Verwiklungen enthaͤlt, muß nothwendig eher, als dieſe, vorgetragen wer- den.
Aber inſofern geht der epiſche Dichter von dem Geſchichtſchreiber ab, als die Natur ſeines Vorha- bens es erfodert. Dieſer will uns vollſtaͤndig von ei- ner Begebenheit unterrichten, und verfaͤhrt ſo, als wenn uns die ganze Sache unbekannt waͤre; jener aber ſtellt uns eine bekannte Sache in der Form vor, in welcher ſie uns am kraͤftigſten ruͤhret. Der Geſchichtſchreiber darf ſich deswegen nicht ſcheuen, die entfernteſten Veranlaſungen und die Urſachen, die dem Ausbruch der Handlung vorher gegan- gen, umſtaͤndlich zu erzaͤhlen. Dieſes waͤre fuͤr den Dichter ein zu matter Anfang. Er fuͤhrt uns gleich zum Anfang der Handlung, und erwaͤhnt die uns ſchon bekannte Veranlaſung, oder Urſache, nur kurz, damit wir ohne Umſchweife in die Hitze der Handlung herein kommen.
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Ano
So wuͤrde der Geſchichtſchreiber, der den Zug des Aeneas nach Jtalien beſchrieben haͤtte, bey der Zer- ſtoͤhrung der Stadt Troja angefangen, und ſeinem Helden vom Auszug aus der brennenden Stadt, in der genaueſten Ordnung ſeiner Reiſe, gefolget ſeyn. Der Dichter aber mußte ganz anders verfahren, oh- ne deswegen die Ordnung der Dinge umzukehren. Seine Abſicht war, dem Leſer die Niederlaſſung des Aeneas in Jtalien, deren Veranlaſung bekannt war, von der merkwuͤrdigſten Seite vorzuſtellen. Er faͤngt deshalb die Handlung nicht von ſeinem Aus- zug aus Troja, ſondern von da an, da die reiſenden Helden das Land ihrer Beſtimmung gleichſam ſchon im Geſichte hatten. Das vorhergehende gehoͤrt nicht zu ſeiner Handlung, ob er gleich im Verfolg viel davon erzaͤhlt. Wenn man daraus urtheilen wollte, daß das, was der Abfahrt aus Sicilien vor- her gegangen iſt, nothwendig zur Handlung der Ae- neis gehoͤrte, weil es der Dichter nachgeholt hat, ſo muͤßte man aus eben dem Grunde auch ſagen, daß die Geſchichte des hoͤlzernen Pferdes ein noth- wendiger Theil der Handlung waͤre. Virgil faͤngt alſo ſein Gedicht nicht mitten in der Handlung, ſon- dern von Anfang derſelben, an.
Wir ſehen auch nicht wol, wie man von der Re- gel abweichen koͤnnte, die weſentlichen Perioden der Handlung in der Ordnung vorzutragen, wie ſie aus einander folgen. Denn je mehr Deutlichkeit und natuͤrliche Verbindung in der Folge dieſer Hauptperioden iſt, je lebhafter wird das Ganze in die Vorſtellungskraft fallen. Darin aber kann der Dichter von der Ordnung des Geſchichtſchreibers abgehen, daß er nur das weſentlichſte in der beſten Ordnung hinter einander ſtellt, und gewiſſe Neben- dinge, zum Schmuk des Ganzen, da anbringt, wo er die beſten Ruheſtellen der Haupthandlung findet, da wo die Lebhaftigkeit der Vorſtellung eine Maͤſ- ſigung erfodert.
Wir glauben uns nicht zu irren, wenn wir uͤber- haupt von der Anordnung der epiſchen Handlung dieſe allgemeine Regel annehmen: Die weſentlich- ſten Theile derſelben ſetze der Dichter in einer ſo natuͤrlichen Ordnung hinter einander, daß die Vor- ſtellungskraft den Faden derſelben leicht finde und das Ganze mit einem Blik uͤberſehen koͤnne; die, der Haupthandlung untergeordneten, Begebenheiten, die blos zu mehrerer Vollſtaͤndigkeit derſelben und zur Vermehrung der Mannigfaltigkeit gehoͤren, ſuche
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[67/0079]
Ano
Ano
lung in wol beſtimmte Perioden abgetheilt werde.
Das End einer jeden Periode muß eine Ruheſtelle
ſeyn, auf welcher man das Vorhergegangene deut-
lich uͤberſehen, und uͤber das folgende ſeine Erwar-
tungen entwerfen koͤnne.
Es dienet viel zu einer lebhaften und deutlichen
Vorſtellung der ganzen Handlung, wenn ſie in we-
nig Perioden eingetheilt iſt, die ſo auf einander
folgen, daß man am End einer jeden beſtimmt
ſieht, wie weit die Handlung fortgeruͤkt iſt.
Jn Anſehung der Ordnung dieſer Perioden ge-
ben einige Kunſtrichter Regeln, die ſehr uͤbel ver-
ſtanden werden koͤnnten. So ſagt Batteux, (*)
daß der epiſche Dichter die Ordnung des Geſchicht-
ſchreibers umkehre, und die Erzaͤhlung nahe am
Ende der Handlung anfange. Man koͤnnte da-
durch auf den Wahn gerathen, daß die groͤßte Unord-
nung in der Folge der Begebenheiten, eine Schoͤn-
heit waͤre, die der epiſche Dichter ſuchen muͤſſe.
(*) S.
Einleitung
in die ſchoͤ-
nen Wiſſen-
ſchaften II.
Theil, I.
Abſchn. p.
118. nach
der erſten
Ausgabe
der Ramle-
riſchen Ue-
berſetzung.
Jndeſſen iſt gewiß, daß keine Unordnung in ei-
nem ſchoͤnen Werke ſtatt hat. Der epiſche Dichter
muß dem Geſchichtſchreiber in der Ordnung der Be-
gebenheiten in ſo weit folgen, als es mit der Leb-
haftigkeit ſeines Vortrages beſtehen kann. Es
waͤre ſeltſam, wenn er uns eine Begebenheit von
hinten her erzaͤhlen wollte. Der Anfang der Hand-
lung muß nothwendig zuerſt erzaͤhlt werden, und
die naͤchſte Folge der angefangenen Handlung, die
den Grund der folgenden Verwiklungen enthaͤlt,
muß nothwendig eher, als dieſe, vorgetragen wer-
den.
Aber inſofern geht der epiſche Dichter von dem
Geſchichtſchreiber ab, als die Natur ſeines Vorha-
bens es erfodert. Dieſer will uns vollſtaͤndig von ei-
ner Begebenheit unterrichten, und verfaͤhrt ſo, als
wenn uns die ganze Sache unbekannt waͤre; jener
aber ſtellt uns eine bekannte Sache in der Form
vor, in welcher ſie uns am kraͤftigſten ruͤhret. Der
Geſchichtſchreiber darf ſich deswegen nicht ſcheuen,
die entfernteſten Veranlaſungen und die Urſachen,
die dem Ausbruch der Handlung vorher gegan-
gen, umſtaͤndlich zu erzaͤhlen. Dieſes waͤre fuͤr
den Dichter ein zu matter Anfang. Er fuͤhrt uns
gleich zum Anfang der Handlung, und erwaͤhnt die
uns ſchon bekannte Veranlaſung, oder Urſache, nur
kurz, damit wir ohne Umſchweife in die Hitze der
Handlung herein kommen.
So wuͤrde der Geſchichtſchreiber, der den Zug des
Aeneas nach Jtalien beſchrieben haͤtte, bey der Zer-
ſtoͤhrung der Stadt Troja angefangen, und ſeinem
Helden vom Auszug aus der brennenden Stadt, in
der genaueſten Ordnung ſeiner Reiſe, gefolget ſeyn.
Der Dichter aber mußte ganz anders verfahren, oh-
ne deswegen die Ordnung der Dinge umzukehren.
Seine Abſicht war, dem Leſer die Niederlaſſung des
Aeneas in Jtalien, deren Veranlaſung bekannt war,
von der merkwuͤrdigſten Seite vorzuſtellen. Er
faͤngt deshalb die Handlung nicht von ſeinem Aus-
zug aus Troja, ſondern von da an, da die reiſenden
Helden das Land ihrer Beſtimmung gleichſam ſchon
im Geſichte hatten. Das vorhergehende gehoͤrt
nicht zu ſeiner Handlung, ob er gleich im Verfolg
viel davon erzaͤhlt. Wenn man daraus urtheilen
wollte, daß das, was der Abfahrt aus Sicilien vor-
her gegangen iſt, nothwendig zur Handlung der Ae-
neis gehoͤrte, weil es der Dichter nachgeholt hat,
ſo muͤßte man aus eben dem Grunde auch ſagen,
daß die Geſchichte des hoͤlzernen Pferdes ein noth-
wendiger Theil der Handlung waͤre. Virgil faͤngt
alſo ſein Gedicht nicht mitten in der Handlung, ſon-
dern von Anfang derſelben, an.
Wir ſehen auch nicht wol, wie man von der Re-
gel abweichen koͤnnte, die weſentlichen Perioden der
Handlung in der Ordnung vorzutragen, wie ſie
aus einander folgen. Denn je mehr Deutlichkeit
und natuͤrliche Verbindung in der Folge dieſer
Hauptperioden iſt, je lebhafter wird das Ganze in
die Vorſtellungskraft fallen. Darin aber kann der
Dichter von der Ordnung des Geſchichtſchreibers
abgehen, daß er nur das weſentlichſte in der beſten
Ordnung hinter einander ſtellt, und gewiſſe Neben-
dinge, zum Schmuk des Ganzen, da anbringt, wo
er die beſten Ruheſtellen der Haupthandlung findet,
da wo die Lebhaftigkeit der Vorſtellung eine Maͤſ-
ſigung erfodert.
Wir glauben uns nicht zu irren, wenn wir uͤber-
haupt von der Anordnung der epiſchen Handlung
dieſe allgemeine Regel annehmen: Die weſentlich-
ſten Theile derſelben ſetze der Dichter in einer ſo
natuͤrlichen Ordnung hinter einander, daß die Vor-
ſtellungskraft den Faden derſelben leicht finde und
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Haupthandlung untergeordneten, Begebenheiten, die
blos zu mehrerer Vollſtaͤndigkeit derſelben und zur
Vermehrung der Mannigfaltigkeit gehoͤren, ſuche
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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/79>, abgerufen am 28.07.2024.
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