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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Ano
schwach ist, wo wir lange zu warten haben, ehe
wir merken, warum es zu thun ist, die Aufmerk-
samkeit ermüdet, ehe man zur Hauptsache kommt.

Der erste Aufzug des Drama muß wie ein be-
fruchtetes Saamenkorn, undeutliche, aber doch zu
bemerkende Spuhren der ganzen Handlung haben,
und uns in Erwartungen über den Verfolg und den
Ausgang sezen. Denn jeder Gegenstand, den wir
eine Zeitlang betrachten, ohne uns viel davon zu ver-
sprechen, erdrükt die Aufmerksamkeit, anstat sie
zu erweken.

Die alten und neuen Schauspiele, welche die
größte Würkung gethan haben, fangen auf die vor-
theilhafte Weise an, die wir hier beschreiben. Es
ist ein Fehler, den die Neuern ofte begehen, daß sie
uns mit Nebensachen, mit ungewissen Vorstellungen,
da man gar nicht absehen kann, wohin sie zielen,
ermüden, ehe die Handlung ihren wahren Anfang
nimmt. Die meisten englischen Lustspiele haben
diesen Fehler an sich.

Nachdem die Handlung auf die angezeigte Art
ihren Anfang genommen; so müssen die folgenden
Aufzüge, die dem lezten vorher gehen, die Fortsezung
und Verwiklung derselben enthalten, über deren
Anordnung man keine bestimmte Form vorschreiben
kann; weil eine Handlung auf unzählige Arten so
durchgeführet werden kann, daß der Zuschauer in
beständiger Aufmerksamkeit erhalten wird. Wir
bemerken demnach hier nur dieses, daß der Dichter
sorgfältig seyn müsse, den Fortgang der Handlung
nach gewissen Perioden zu ordnen. Beym Ende
eines jeden Aufzuges muß man die Lage und Be-
schaffenheit der Sache deutlich sehen, um daraus
seine Erwartungen für den folgenden zu bestimmen.
Man muß also bey dem Ende einer jeden Periode
den ganzen Zustand der Handlung, so weit sie ge-
kommen ist, und was ihr noch fehlt ganz bestimmt
bemerken können. Denn ohne dieses geräth man
nothwendig in eine Verwirrung, welche die Auf-
merksamkeit schwächet.

Es streitet gegen die gute Anordnung, wenn
man mehrere, der Haupthandlung untergeordnete
Jntrigen so in einander lauffen läßt, daß sie ofte
abgebrochen, und nach einigen dazwischen gesezten
Auftritten, wieder vorgenommen werden. Der-
gleichen Unterbrechungen zerstreuen die Aufmerk-
samkeit zum großen Nachtheil der Haupthandlung.
Diese muß in einem fort gehen, und die Auf haltun-
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Ano
gen müssen nicht durch willkührlich eingeflochtene
Vorfälle, sondern durch wesentliche Schwierigkeiten,
welche aus der Hauptsache nothwendig entstehen,
verursachet werden. Es giebt Schauspieldichter,
die sich eher nach den abentheuerlichen Einfällen des
Amadis, als nach der edlen Einfalt des Sophokles,
bilden. Da in dem Drama nothwendig alles in einan-
der gedrungen seyn muß, weil die Handlung kurz
und merkwürdig ist; so können die Haupttheile der
Anordnung, ohne großen Nachtheil der Hauptsache,
durch nichts zufälliges unterbrochen werden.

Von einigen besondern Kunstgriffen der Anord-
nung haben wir in den Artikeln, Einheit, Verwi-
klung, Contrast, Aufhaltung, Verbindung
und
Wahrscheinlichkeit, verschiedenes angeführt, dahin
wir den Leser verweisen. Nur diese allgemeine An-
merkung müssen wir hinzu setzen, daß die einfache-
sten Anordnungen, die jeder leicht übersehen kann,
die besten scheinen. Künstliche Verwiklungen und
mannigfaltige Auf haltungen scheinen zwar ihre gute
Würkung zu thun: allein wenn man sie näher
betrachtet, so findet man, daß sie nicht lange dau-
rende Eindrüke machen, so wie alle blos mechanische
Anstalten. Die wesentlichen Schönheiten des
Schauspiels, die unauslöschliche Eindrüke machen,
müssen in den Charakteren und Empfindungen der
handelnden Personen liegen. Von diesen muß die
Aufmerksamkeit niemals abgezogen, noch auf die
mechanische Einrichtung geführt werden. Ueberhaupt
sind alle künstlich ausgedachte Anordnungen schwa-
che Hülfsmittel, wodurch Dichter ohne Genie, das
wesentliche, das ihnen fehlt, ersetzen wollen.

Die Anordnung der Schaubühne überhaupt, und
jedes Auftritts insbesondere, in Absicht auf die Aus-
führung, verdienet eine besondere Aufmerksamkeit.
S. Schaubühne, Auftritt.

Die Anordnung der epischen Handlung scheinet
wenigern Schwierigkeiten unterworfen zu seyn, als
man im Drama findet; weil die Handlung der Epo-
pee mehr ausgedehnt ist. Dabey hat der epische Dich-
ter den Vortheil, daß er die Lüken und Ruhestellen
der Handlung mit Erzählungen ausfüllen kann,
welche der dramatische Dichter nicht ohne große Be-
hutsamkeit anbringen därf.

Sonst muß die epische Handlung überhaupt nach
denselben Grundsätzen angeordnet werden, die wir
in dem vorhergehenden Artikel ausgeführt haben.
Das Hauptsächlichste davon ist, daß die ganze Hand-

lung

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Ano
ſchwach iſt, wo wir lange zu warten haben, ehe
wir merken, warum es zu thun iſt, die Aufmerk-
ſamkeit ermuͤdet, ehe man zur Hauptſache kommt.

Der erſte Aufzug des Drama muß wie ein be-
fruchtetes Saamenkorn, undeutliche, aber doch zu
bemerkende Spuhren der ganzen Handlung haben,
und uns in Erwartungen uͤber den Verfolg und den
Ausgang ſezen. Denn jeder Gegenſtand, den wir
eine Zeitlang betrachten, ohne uns viel davon zu ver-
ſprechen, erdruͤkt die Aufmerkſamkeit, anſtat ſie
zu erweken.

Die alten und neuen Schauſpiele, welche die
groͤßte Wuͤrkung gethan haben, fangen auf die vor-
theilhafte Weiſe an, die wir hier beſchreiben. Es
iſt ein Fehler, den die Neuern ofte begehen, daß ſie
uns mit Nebenſachen, mit ungewiſſen Vorſtellungen,
da man gar nicht abſehen kann, wohin ſie zielen,
ermuͤden, ehe die Handlung ihren wahren Anfang
nimmt. Die meiſten engliſchen Luſtſpiele haben
dieſen Fehler an ſich.

Nachdem die Handlung auf die angezeigte Art
ihren Anfang genommen; ſo muͤſſen die folgenden
Aufzuͤge, die dem lezten vorher gehen, die Fortſezung
und Verwiklung derſelben enthalten, uͤber deren
Anordnung man keine beſtimmte Form vorſchreiben
kann; weil eine Handlung auf unzaͤhlige Arten ſo
durchgefuͤhret werden kann, daß der Zuſchauer in
beſtaͤndiger Aufmerkſamkeit erhalten wird. Wir
bemerken demnach hier nur dieſes, daß der Dichter
ſorgfaͤltig ſeyn muͤſſe, den Fortgang der Handlung
nach gewiſſen Perioden zu ordnen. Beym Ende
eines jeden Aufzuges muß man die Lage und Be-
ſchaffenheit der Sache deutlich ſehen, um daraus
ſeine Erwartungen fuͤr den folgenden zu beſtimmen.
Man muß alſo bey dem Ende einer jeden Periode
den ganzen Zuſtand der Handlung, ſo weit ſie ge-
kommen iſt, und was ihr noch fehlt ganz beſtimmt
bemerken koͤnnen. Denn ohne dieſes geraͤth man
nothwendig in eine Verwirrung, welche die Auf-
merkſamkeit ſchwaͤchet.

Es ſtreitet gegen die gute Anordnung, wenn
man mehrere, der Haupthandlung untergeordnete
Jntrigen ſo in einander lauffen laͤßt, daß ſie ofte
abgebrochen, und nach einigen dazwiſchen geſezten
Auftritten, wieder vorgenommen werden. Der-
gleichen Unterbrechungen zerſtreuen die Aufmerk-
ſamkeit zum großen Nachtheil der Haupthandlung.
Dieſe muß in einem fort gehen, und die Auf haltun-
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Ano
gen muͤſſen nicht durch willkuͤhrlich eingeflochtene
Vorfaͤlle, ſondern durch weſentliche Schwierigkeiten,
welche aus der Hauptſache nothwendig entſtehen,
verurſachet werden. Es giebt Schauſpieldichter,
die ſich eher nach den abentheuerlichen Einfaͤllen des
Amadis, als nach der edlen Einfalt des Sophokles,
bilden. Da in dem Drama nothwendig alles in einan-
der gedrungen ſeyn muß, weil die Handlung kurz
und merkwuͤrdig iſt; ſo koͤnnen die Haupttheile der
Anordnung, ohne großen Nachtheil der Hauptſache,
durch nichts zufaͤlliges unterbrochen werden.

Von einigen beſondern Kunſtgriffen der Anord-
nung haben wir in den Artikeln, Einheit, Verwi-
klung, Contraſt, Aufhaltung, Verbindung
und
Wahrſcheinlichkeit, verſchiedenes angefuͤhrt, dahin
wir den Leſer verweiſen. Nur dieſe allgemeine An-
merkung muͤſſen wir hinzu ſetzen, daß die einfache-
ſten Anordnungen, die jeder leicht uͤberſehen kann,
die beſten ſcheinen. Kuͤnſtliche Verwiklungen und
mannigfaltige Auf haltungen ſcheinen zwar ihre gute
Wuͤrkung zu thun: allein wenn man ſie naͤher
betrachtet, ſo findet man, daß ſie nicht lange dau-
rende Eindruͤke machen, ſo wie alle blos mechaniſche
Anſtalten. Die weſentlichen Schoͤnheiten des
Schauſpiels, die unausloͤſchliche Eindruͤke machen,
muͤſſen in den Charakteren und Empfindungen der
handelnden Perſonen liegen. Von dieſen muß die
Aufmerkſamkeit niemals abgezogen, noch auf die
mechaniſche Einrichtung gefuͤhrt werden. Ueberhaupt
ſind alle kuͤnſtlich ausgedachte Anordnungen ſchwa-
che Huͤlfsmittel, wodurch Dichter ohne Genie, das
weſentliche, das ihnen fehlt, erſetzen wollen.

Die Anordnung der Schaubuͤhne uͤberhaupt, und
jedes Auftritts insbeſondere, in Abſicht auf die Aus-
fuͤhrung, verdienet eine beſondere Aufmerkſamkeit.
S. Schaubuͤhne, Auftritt.

Die Anordnung der epiſchen Handlung ſcheinet
wenigern Schwierigkeiten unterworfen zu ſeyn, als
man im Drama findet; weil die Handlung der Epo-
pee mehr ausgedehnt iſt. Dabey hat der epiſche Dich-
ter den Vortheil, daß er die Luͤken und Ruheſtellen
der Handlung mit Erzaͤhlungen ausfuͤllen kann,
welche der dramatiſche Dichter nicht ohne große Be-
hutſamkeit anbringen daͤrf.

Sonſt muß die epiſche Handlung uͤberhaupt nach
denſelben Grundſaͤtzen angeordnet werden, die wir
in dem vorhergehenden Artikel ausgefuͤhrt haben.
Das Hauptſaͤchlichſte davon iſt, daß die ganze Hand-

lung
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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/78>, abgerufen am 25.04.2024.