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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Ang
die bey dem Wankenden und Widersprechenden der
Beobachtungen ihm zu Hülfe komme; die entwe-
der seine Zweifel rechtfertige, oder auflöse.

Zum Fundament dieser Theorie bemerke er, daß
ein Gegenstand dadurch angenehm wird, daß er
die Würksamkeit der Seele reizt, und daß dieses
auf zweyerley Art geschieht; entweder durch die
Vorstellungskraft, oder durch die Begehrungskraft.
Bey näherer Untersuchung dieser beyden Gattungen
der Würksamkeit wird er die Arten derjenigen Ei-
genschaften der Dinge entdeken, die angenehm sind.
So wird er finden, daß die Vorstellungskraft ge-
reizt wird durch Vollkommenheit, durch Ordnung,
durch Deutlichkeit, durch Wahrheit, durch Schön-
heit, durch Neuigkeit und verschiedene andere ästhe-
tische Eigenschaften; die Begehrungskraft aber
durch das Affektreiche, durch das Zärtliche, durch
das Rührende, durch das Feyerliche, durch das
Große, durch das Wunderbare, durch das Erha-
bene und andre Eigenschaften dieser Art, über wel-
che an sehr vielen Stellen dieses Werks nähere
Untersuchungen angestellt worden, die zusammen
genommen eine, wiewol unvollkommene Theorie
des Angenehmen ausmachen.

Angst.

Der höchste Grad der Furcht, und also eine sehr
wichtige Leidenschaft. Da sie nicht so plötzlich und
so vorüber gehend ist, wie der Schreken, sondern
lange anhalten, und die Seele in ihren innersten
Winkeln durchwühlen kann; so ist schwerlich irgend
eine andre Leidenschaft, die so daurende Eindrüke
in dem Gemüthe zurük läßt. Sie ist deswegen
höchst wichtig, weil sie das kräftigste Mittel ist, ei-
nen immerwährenden Abscheu für dasjenige zu er-
weken, welches diese unerträglichste aller Leiden-
schaften hervor gebracht hat.

Von allen Künstlern kann der tragische Dichter
den besten Gebrauch davon machen, weil er uns
das innere und äußere derselben vor Augen le-
gen, und vermittelst der Täuschung diese Leiden-
schaft in einem ziemlich hohen Grad in uns erwe-
ken kann. Selten können die zeichnenden Künste
sich zu dem Grade der Vollkommenheit erheben,
daß sie die Angst erweken können. Kaum ist Ra-
phaels großes Genie dazu hinreichend.

Jn dem epischen Gedicht hat Klopstok diese
Leidenschaft so wol an dem Abbadona, als an dem
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Ang Ank
Judas Jscharioth, mit einer wahren Meisterhand
behandelt. Auch in der Noachide kommen ver-
schiedene sehr schöne Bearbeitungen dieser Leiden-
schaft vor, besonders im zehnten Gesang, da un-
ter andern die Scene, wo Lamech einen im To-
desschlummer liegenden Sünder aufwekt, der beym
Aufwachen glaubt, daß der Tag des Gerichts er-
schienen sey, eine meisterhafte Erfindung ist, die
auch Füßli in der, dem X. Gesang vorgesetzten,
Zeichnung sehr glüklich ausgedrükt hat.

Jm Trauerspiel hat Aeschylus in den Eumeni-
den die Angst auf das höchste getrieben; und un-
ter den Neuern hat Shakespear sie an verschiedenen
Orten so ausnehmend vorgestellt, daß es kaum
möglich scheint, ihn zu übertreffen.

An die Behandlung dieser Leidenschaft darf sich
kein mittelmäßiger Kopf wagen; sie erfodert einen
großen Meister.

Ankündigung.
(Redende Künste.)

Es trägt sehr viel zur guten Würkung eines Werks
bey, wenn man gleich von Anfang einige Haupt-
begriffe gefaßt hat, welche die Aufmerksamkeit durch
das ganze Werk hindurch lenken und unterhalten.
Jn redenden Künsten, kann diese vortheilhafte Lage
des Geistes durch eine geschikte Ankündigung des
Jnhalts hervor gebracht werden. Dadurch wird
der Aufmerksamkeit die nöthige Spaunung gegeben,
und sie wird zugleich dahin, wo es die Absicht des
Künstlers erfodert, gerichtet.

Daher ist es gekommen, daß die Redner, die
tragischen und epischen Dichter, insgemein gleich an-
fangs ihre Materie auf die vortheilhafteste Weise
anzukündigen gesucht haben. Jn der Ankündigung
liegt das ganze Werk so eingewikelt, wie nach der
Beobachtung der neuern Naturlehrer, die künftige
Pflanze mit ihren Blättern, Blumen und Früchten
in dem Keim des Saamenkorns liegt. Deswegen ist
dieser so kleine Theil eines Gedichts oder einer Rede,
höchst wichtig und erfodert eine große Kunst.

Ueber die epische Ankündigung haben wir am
wenigsten nöthig uns in eine nähere Betrachtung
einzulassen; da sie viel weniger Schwierigkeit
hat, als die dramatische, und man aus den gros-
sen Mustern, die jederman bekannt sind, sich hin-
länglich davon unterrichten kann. Die Bescheiden-

heit

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Ang
die bey dem Wankenden und Widerſprechenden der
Beobachtungen ihm zu Huͤlfe komme; die entwe-
der ſeine Zweifel rechtfertige, oder aufloͤſe.

Zum Fundament dieſer Theorie bemerke er, daß
ein Gegenſtand dadurch angenehm wird, daß er
die Wuͤrkſamkeit der Seele reizt, und daß dieſes
auf zweyerley Art geſchieht; entweder durch die
Vorſtellungskraft, oder durch die Begehrungskraft.
Bey naͤherer Unterſuchung dieſer beyden Gattungen
der Wuͤrkſamkeit wird er die Arten derjenigen Ei-
genſchaften der Dinge entdeken, die angenehm ſind.
So wird er finden, daß die Vorſtellungskraft ge-
reizt wird durch Vollkommenheit, durch Ordnung,
durch Deutlichkeit, durch Wahrheit, durch Schoͤn-
heit, durch Neuigkeit und verſchiedene andere aͤſthe-
tiſche Eigenſchaften; die Begehrungskraft aber
durch das Affektreiche, durch das Zaͤrtliche, durch
das Ruͤhrende, durch das Feyerliche, durch das
Große, durch das Wunderbare, durch das Erha-
bene und andre Eigenſchaften dieſer Art, uͤber wel-
che an ſehr vielen Stellen dieſes Werks naͤhere
Unterſuchungen angeſtellt worden, die zuſammen
genommen eine, wiewol unvollkommene Theorie
des Angenehmen ausmachen.

Angſt.

Der hoͤchſte Grad der Furcht, und alſo eine ſehr
wichtige Leidenſchaft. Da ſie nicht ſo ploͤtzlich und
ſo voruͤber gehend iſt, wie der Schreken, ſondern
lange anhalten, und die Seele in ihren innerſten
Winkeln durchwuͤhlen kann; ſo iſt ſchwerlich irgend
eine andre Leidenſchaft, die ſo daurende Eindruͤke
in dem Gemuͤthe zuruͤk laͤßt. Sie iſt deswegen
hoͤchſt wichtig, weil ſie das kraͤftigſte Mittel iſt, ei-
nen immerwaͤhrenden Abſcheu fuͤr dasjenige zu er-
weken, welches dieſe unertraͤglichſte aller Leiden-
ſchaften hervor gebracht hat.

Von allen Kuͤnſtlern kann der tragiſche Dichter
den beſten Gebrauch davon machen, weil er uns
das innere und aͤußere derſelben vor Augen le-
gen, und vermittelſt der Taͤuſchung dieſe Leiden-
ſchaft in einem ziemlich hohen Grad in uns erwe-
ken kann. Selten koͤnnen die zeichnenden Kuͤnſte
ſich zu dem Grade der Vollkommenheit erheben,
daß ſie die Angſt erweken koͤnnen. Kaum iſt Ra-
phaels großes Genie dazu hinreichend.

Jn dem epiſchen Gedicht hat Klopſtok dieſe
Leidenſchaft ſo wol an dem Abbadona, als an dem
[Spaltenumbruch]

Ang Ank
Judas Jſcharioth, mit einer wahren Meiſterhand
behandelt. Auch in der Noachide kommen ver-
ſchiedene ſehr ſchoͤne Bearbeitungen dieſer Leiden-
ſchaft vor, beſonders im zehnten Geſang, da un-
ter andern die Scene, wo Lamech einen im To-
desſchlummer liegenden Suͤnder aufwekt, der beym
Aufwachen glaubt, daß der Tag des Gerichts er-
ſchienen ſey, eine meiſterhafte Erfindung iſt, die
auch Fuͤßli in der, dem X. Geſang vorgeſetzten,
Zeichnung ſehr gluͤklich ausgedruͤkt hat.

Jm Trauerſpiel hat Aeſchylus in den Eumeni-
den die Angſt auf das hoͤchſte getrieben; und un-
ter den Neuern hat Shakeſpear ſie an verſchiedenen
Orten ſo ausnehmend vorgeſtellt, daß es kaum
moͤglich ſcheint, ihn zu uͤbertreffen.

An die Behandlung dieſer Leidenſchaft darf ſich
kein mittelmaͤßiger Kopf wagen; ſie erfodert einen
großen Meiſter.

Ankuͤndigung.
(Redende Kuͤnſte.)

Es traͤgt ſehr viel zur guten Wuͤrkung eines Werks
bey, wenn man gleich von Anfang einige Haupt-
begriffe gefaßt hat, welche die Aufmerkſamkeit durch
das ganze Werk hindurch lenken und unterhalten.
Jn redenden Kuͤnſten, kann dieſe vortheilhafte Lage
des Geiſtes durch eine geſchikte Ankuͤndigung des
Jnhalts hervor gebracht werden. Dadurch wird
der Aufmerkſamkeit die noͤthige Spaunung gegeben,
und ſie wird zugleich dahin, wo es die Abſicht des
Kuͤnſtlers erfodert, gerichtet.

Daher iſt es gekommen, daß die Redner, die
tragiſchen und epiſchen Dichter, insgemein gleich an-
fangs ihre Materie auf die vortheilhafteſte Weiſe
anzukuͤndigen geſucht haben. Jn der Ankuͤndigung
liegt das ganze Werk ſo eingewikelt, wie nach der
Beobachtung der neuern Naturlehrer, die kuͤnftige
Pflanze mit ihren Blaͤttern, Blumen und Fruͤchten
in dem Keim des Saamenkorns liegt. Deswegen iſt
dieſer ſo kleine Theil eines Gedichts oder einer Rede,
hoͤchſt wichtig und erfodert eine große Kunſt.

Ueber die epiſche Ankuͤndigung haben wir am
wenigſten noͤthig uns in eine naͤhere Betrachtung
einzulaſſen; da ſie viel weniger Schwierigkeit
hat, als die dramatiſche, und man aus den groſ-
ſen Muſtern, die jederman bekannt ſind, ſich hin-
laͤnglich davon unterrichten kann. Die Beſcheiden-

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[54/0066] Ang Ang Ank die bey dem Wankenden und Widerſprechenden der Beobachtungen ihm zu Huͤlfe komme; die entwe- der ſeine Zweifel rechtfertige, oder aufloͤſe. Zum Fundament dieſer Theorie bemerke er, daß ein Gegenſtand dadurch angenehm wird, daß er die Wuͤrkſamkeit der Seele reizt, und daß dieſes auf zweyerley Art geſchieht; entweder durch die Vorſtellungskraft, oder durch die Begehrungskraft. Bey naͤherer Unterſuchung dieſer beyden Gattungen der Wuͤrkſamkeit wird er die Arten derjenigen Ei- genſchaften der Dinge entdeken, die angenehm ſind. So wird er finden, daß die Vorſtellungskraft ge- reizt wird durch Vollkommenheit, durch Ordnung, durch Deutlichkeit, durch Wahrheit, durch Schoͤn- heit, durch Neuigkeit und verſchiedene andere aͤſthe- tiſche Eigenſchaften; die Begehrungskraft aber durch das Affektreiche, durch das Zaͤrtliche, durch das Ruͤhrende, durch das Feyerliche, durch das Große, durch das Wunderbare, durch das Erha- bene und andre Eigenſchaften dieſer Art, uͤber wel- che an ſehr vielen Stellen dieſes Werks naͤhere Unterſuchungen angeſtellt worden, die zuſammen genommen eine, wiewol unvollkommene Theorie des Angenehmen ausmachen. Angſt. Der hoͤchſte Grad der Furcht, und alſo eine ſehr wichtige Leidenſchaft. Da ſie nicht ſo ploͤtzlich und ſo voruͤber gehend iſt, wie der Schreken, ſondern lange anhalten, und die Seele in ihren innerſten Winkeln durchwuͤhlen kann; ſo iſt ſchwerlich irgend eine andre Leidenſchaft, die ſo daurende Eindruͤke in dem Gemuͤthe zuruͤk laͤßt. Sie iſt deswegen hoͤchſt wichtig, weil ſie das kraͤftigſte Mittel iſt, ei- nen immerwaͤhrenden Abſcheu fuͤr dasjenige zu er- weken, welches dieſe unertraͤglichſte aller Leiden- ſchaften hervor gebracht hat. Von allen Kuͤnſtlern kann der tragiſche Dichter den beſten Gebrauch davon machen, weil er uns das innere und aͤußere derſelben vor Augen le- gen, und vermittelſt der Taͤuſchung dieſe Leiden- ſchaft in einem ziemlich hohen Grad in uns erwe- ken kann. Selten koͤnnen die zeichnenden Kuͤnſte ſich zu dem Grade der Vollkommenheit erheben, daß ſie die Angſt erweken koͤnnen. Kaum iſt Ra- phaels großes Genie dazu hinreichend. Jn dem epiſchen Gedicht hat Klopſtok dieſe Leidenſchaft ſo wol an dem Abbadona, als an dem Judas Jſcharioth, mit einer wahren Meiſterhand behandelt. Auch in der Noachide kommen ver- ſchiedene ſehr ſchoͤne Bearbeitungen dieſer Leiden- ſchaft vor, beſonders im zehnten Geſang, da un- ter andern die Scene, wo Lamech einen im To- desſchlummer liegenden Suͤnder aufwekt, der beym Aufwachen glaubt, daß der Tag des Gerichts er- ſchienen ſey, eine meiſterhafte Erfindung iſt, die auch Fuͤßli in der, dem X. Geſang vorgeſetzten, Zeichnung ſehr gluͤklich ausgedruͤkt hat. Jm Trauerſpiel hat Aeſchylus in den Eumeni- den die Angſt auf das hoͤchſte getrieben; und un- ter den Neuern hat Shakeſpear ſie an verſchiedenen Orten ſo ausnehmend vorgeſtellt, daß es kaum moͤglich ſcheint, ihn zu uͤbertreffen. An die Behandlung dieſer Leidenſchaft darf ſich kein mittelmaͤßiger Kopf wagen; ſie erfodert einen großen Meiſter. Ankuͤndigung. (Redende Kuͤnſte.) Es traͤgt ſehr viel zur guten Wuͤrkung eines Werks bey, wenn man gleich von Anfang einige Haupt- begriffe gefaßt hat, welche die Aufmerkſamkeit durch das ganze Werk hindurch lenken und unterhalten. Jn redenden Kuͤnſten, kann dieſe vortheilhafte Lage des Geiſtes durch eine geſchikte Ankuͤndigung des Jnhalts hervor gebracht werden. Dadurch wird der Aufmerkſamkeit die noͤthige Spaunung gegeben, und ſie wird zugleich dahin, wo es die Abſicht des Kuͤnſtlers erfodert, gerichtet. Daher iſt es gekommen, daß die Redner, die tragiſchen und epiſchen Dichter, insgemein gleich an- fangs ihre Materie auf die vortheilhafteſte Weiſe anzukuͤndigen geſucht haben. Jn der Ankuͤndigung liegt das ganze Werk ſo eingewikelt, wie nach der Beobachtung der neuern Naturlehrer, die kuͤnftige Pflanze mit ihren Blaͤttern, Blumen und Fruͤchten in dem Keim des Saamenkorns liegt. Deswegen iſt dieſer ſo kleine Theil eines Gedichts oder einer Rede, hoͤchſt wichtig und erfodert eine große Kunſt. Ueber die epiſche Ankuͤndigung haben wir am wenigſten noͤthig uns in eine naͤhere Betrachtung einzulaſſen; da ſie viel weniger Schwierigkeit hat, als die dramatiſche, und man aus den groſ- ſen Muſtern, die jederman bekannt ſind, ſich hin- laͤnglich davon unterrichten kann. Die Beſcheiden- heit

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/66>, abgerufen am 25.04.2024.