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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Anf
lung. Man kann die ganze Handlung vollkommen
begreifen, wenn man auch von dem, was diesem
Anfang vorher gegangen ist, keine Nachricht hat:
es liegt ganz außer der Kette dieser Begebenheit.

Ohne einen Anfang kann man sich demnach
keine Reyhe von Dingen vollkommen vorstellen;
weil man nicht begreift, warum die Sachen da sind.
Es gehört nothwendig zu der Vollkommenheit eines
Werks von Geschmak, daß es einen bestimmten An-
fang habe. Wenn Homer die Begebenheiten der
Jlias besungen hätte, ohne uns zu sagen, warum
Achilles sich von dem Heer entfernt habe, und wa-
rum er gegen den Agamemnon aufgebracht worden, so
würde uns das Vornehmste der Handlung gefehlt
haben: dieses aber der Erzählung vorher gesezt,
giebt uns den vollen Aufschluß zu der Sache; und
wir bekommen dadurch eine vollständige Vorstellung,
dessen, was der Dichter hat besingen wollen; wir
werden völlig befriediget, nachdem wir den Anfaug,
den Fortgang, und das Ende der Sache erkennt
haben.

Hieraus folget, daß der epische Dichter, welcher
eine vollständige Handlung erzählt, oder der dra-
matische, der sie uns auf der Schaubühne vorstellt,
sorgfältig seyn müssen, den Anfang der Handlung
deutlich vor Augen zu legen. Dabey aber haben sie
einige Vorsichtigkeit nöthig, weil dieses mit mehr
oder weniger guter Würkung geschehen kann. Die
Sache ist der Mühe werth ausführlich entwikelt zu
werden.

Weil der Anfang das erste in der Sache ist,
dem nichts, was zu derselben gehört, vorhergehen
kann, so muß die Handlung mit nichts anfangen,
was würklich vor ihr gewesen ist. Dieses wäre
ein verwerflicher Ueberfluß. Die Vorstellungs-
kraft wurde mit etwas fremden, das zur Sache nicht
gehört, beschäftiget. Jn diesen Fehler ist Euripi-
des
bisweilen gefallen. Jn der Hekuba läßt er zum
Anfange der Handlung diese Königinn auftreten und
kläglich thun, noch ehe der der Zuschauer weiß,
welches Elend, das eigentlich der Jnhalt des Stüks
ist, ihr bevorsteht. Der wahre Anfang dieser Hand-
lung ist der Entschluß der Griechen, die Tochter die-
ser Königinn auf dem Grabe des Achilles zu opfern.
Dieses hat uns der Dichter gleich sollen bekannt
machen. Denn alle Klagen der Hekuba, über die
ihr vorher begegneten Unglüksfälle, gehören nicht
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Anf
zu dieser Sache. Eben so läßt er in der Jphigenia
bey den Tauriern, diese Prinzeßin zum Anfang der
Handlung erscheinen, ehe sie weiß, daß Orestes und
Pylades angekommen; da doch die Handlung erst
durch ihre Ankunft den Anfang nimmt. Dergleichen
Eingänge sind würklich von der Handlung abgerissen
und also der Einheit der Vorstellung entgegen.

Ein andrer Fehler ist es in epischen und dramati-
schen Gedichten, wenn man den Anfang mit sehr
entfernten Veranlassungen zu der Handlung macht.
Es würde ungereimt seyn, wenn man, wie Horaz
sagt, die Erzählung des Trojanischen Krieges von
dem Ey anfangen wollte, aus welchem Helena in die
Welt gekommen. Denn daraus erkennt man die
Ursache des Krieges nicht unmittelbar. Dergleichen
weite Umschweife geben der Vorstellung eine Unvoll-
kommenheit, die scharfsinnigen Lesern anstößig ist.
Der Dichter muß demnach ohne Umschweife gleich
zur Sache kommen, und sein Werk beym unmittel-
baren Anfang der Handlung anheben.

Zwar hangen in der Welt gar alle Begebenheiten
so an einander, daß in strengem metaphisischen Sinn
keine, die mitten aus der Geschichte der Welt her-
aus genommen wird, ein für sich bestehendes ganzes
ausmacht. Allein da der Dichter seinen Plan so
machen muß, daß die Handlung die er bearbeitet,
als ein für sich bestehendes ganzes erscheine; so muß
er einen solchen Anfang suchen, der unsre Vorstellung
befriedige und uns nichts vorher gegangenes zu su-
chen übrig lasse. Hat er ein Mißtrauen in die
Fruchtbarkeit seiner Erfindungskraft, so nimmt er
einen entfernten Anfang, damit die Menge der Be-
gebenheiten den Mangel der Erfindungen erseze.
Vielleicht würde Homer die Aeneis von der Ankunft
des Helden in Jtalien angefangen haben. Virgil
glaubte einen entfernten Anfang nöthig zu haben.
So würde ein minder fruchtbarer Dichter sich kaum
getraut haben, die Meßiade, wie Klopstok gethan
hat, mit dem lezten Einzug des Erlösers nach Jeru-
salem anzufangen.

Dem Dichter bleibt also immer die Freyheit den
Anfang seiner Handlung näher oder entfernter von
dem Ende zu nehmen. Nur muß er dieses genau
beobachten, daß er seinem Gedicht einen wahren
Anfang gebe, der weder außer der Handlung liege,
noch unvollständig sey. Je näher der Anfang der
Handlung an dem Ende derselben liegt, je enger
kann das ganze zusammen getrieben werden, daß es

mit
G 2

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Anf
lung. Man kann die ganze Handlung vollkommen
begreifen, wenn man auch von dem, was dieſem
Anfang vorher gegangen iſt, keine Nachricht hat:
es liegt ganz außer der Kette dieſer Begebenheit.

Ohne einen Anfang kann man ſich demnach
keine Reyhe von Dingen vollkommen vorſtellen;
weil man nicht begreift, warum die Sachen da ſind.
Es gehoͤrt nothwendig zu der Vollkommenheit eines
Werks von Geſchmak, daß es einen beſtimmten An-
fang habe. Wenn Homer die Begebenheiten der
Jlias beſungen haͤtte, ohne uns zu ſagen, warum
Achilles ſich von dem Heer entfernt habe, und wa-
rum er gegen den Agamemnon aufgebracht worden, ſo
wuͤrde uns das Vornehmſte der Handlung gefehlt
haben: dieſes aber der Erzaͤhlung vorher geſezt,
giebt uns den vollen Aufſchluß zu der Sache; und
wir bekommen dadurch eine vollſtaͤndige Vorſtellung,
deſſen, was der Dichter hat beſingen wollen; wir
werden voͤllig befriediget, nachdem wir den Anfaug,
den Fortgang, und das Ende der Sache erkennt
haben.

Hieraus folget, daß der epiſche Dichter, welcher
eine vollſtaͤndige Handlung erzaͤhlt, oder der dra-
matiſche, der ſie uns auf der Schaubuͤhne vorſtellt,
ſorgfaͤltig ſeyn muͤſſen, den Anfang der Handlung
deutlich vor Augen zu legen. Dabey aber haben ſie
einige Vorſichtigkeit noͤthig, weil dieſes mit mehr
oder weniger guter Wuͤrkung geſchehen kann. Die
Sache iſt der Muͤhe werth ausfuͤhrlich entwikelt zu
werden.

Weil der Anfang das erſte in der Sache iſt,
dem nichts, was zu derſelben gehoͤrt, vorhergehen
kann, ſo muß die Handlung mit nichts anfangen,
was wuͤrklich vor ihr geweſen iſt. Dieſes waͤre
ein verwerflicher Ueberfluß. Die Vorſtellungs-
kraft wurde mit etwas fremden, das zur Sache nicht
gehoͤrt, beſchaͤftiget. Jn dieſen Fehler iſt Euripi-
des
bisweilen gefallen. Jn der Hekuba laͤßt er zum
Anfange der Handlung dieſe Koͤniginn auftreten und
klaͤglich thun, noch ehe der der Zuſchauer weiß,
welches Elend, das eigentlich der Jnhalt des Stuͤks
iſt, ihr bevorſteht. Der wahre Anfang dieſer Hand-
lung iſt der Entſchluß der Griechen, die Tochter die-
ſer Koͤniginn auf dem Grabe des Achilles zu opfern.
Dieſes hat uns der Dichter gleich ſollen bekannt
machen. Denn alle Klagen der Hekuba, uͤber die
ihr vorher begegneten Ungluͤksfaͤlle, gehoͤren nicht
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Anf
zu dieſer Sache. Eben ſo laͤßt er in der Jphigenia
bey den Tauriern, dieſe Prinzeßin zum Anfang der
Handlung erſcheinen, ehe ſie weiß, daß Oreſtes und
Pylades angekommen; da doch die Handlung erſt
durch ihre Ankunft den Anfang nimmt. Dergleichen
Eingaͤnge ſind wuͤrklich von der Handlung abgeriſſen
und alſo der Einheit der Vorſtellung entgegen.

Ein andrer Fehler iſt es in epiſchen und dramati-
ſchen Gedichten, wenn man den Anfang mit ſehr
entfernten Veranlaſſungen zu der Handlung macht.
Es wuͤrde ungereimt ſeyn, wenn man, wie Horaz
ſagt, die Erzaͤhlung des Trojaniſchen Krieges von
dem Ey anfangen wollte, aus welchem Helena in die
Welt gekommen. Denn daraus erkennt man die
Urſache des Krieges nicht unmittelbar. Dergleichen
weite Umſchweife geben der Vorſtellung eine Unvoll-
kommenheit, die ſcharfſinnigen Leſern anſtoͤßig iſt.
Der Dichter muß demnach ohne Umſchweife gleich
zur Sache kommen, und ſein Werk beym unmittel-
baren Anfang der Handlung anheben.

Zwar hangen in der Welt gar alle Begebenheiten
ſo an einander, daß in ſtrengem metaphiſiſchen Sinn
keine, die mitten aus der Geſchichte der Welt her-
aus genommen wird, ein fuͤr ſich beſtehendes ganzes
ausmacht. Allein da der Dichter ſeinen Plan ſo
machen muß, daß die Handlung die er bearbeitet,
als ein fuͤr ſich beſtehendes ganzes erſcheine; ſo muß
er einen ſolchen Anfang ſuchen, der unſre Vorſtellung
befriedige und uns nichts vorher gegangenes zu ſu-
chen uͤbrig laſſe. Hat er ein Mißtrauen in die
Fruchtbarkeit ſeiner Erfindungskraft, ſo nimmt er
einen entfernten Anfang, damit die Menge der Be-
gebenheiten den Mangel der Erfindungen erſeze.
Vielleicht wuͤrde Homer die Aeneis von der Ankunft
des Helden in Jtalien angefangen haben. Virgil
glaubte einen entfernten Anfang noͤthig zu haben.
So wuͤrde ein minder fruchtbarer Dichter ſich kaum
getraut haben, die Meßiade, wie Klopſtok gethan
hat, mit dem lezten Einzug des Erloͤſers nach Jeru-
ſalem anzufangen.

Dem Dichter bleibt alſo immer die Freyheit den
Anfang ſeiner Handlung naͤher oder entfernter von
dem Ende zu nehmen. Nur muß er dieſes genau
beobachten, daß er ſeinem Gedicht einen wahren
Anfang gebe, der weder außer der Handlung liege,
noch unvollſtaͤndig ſey. Je naͤher der Anfang der
Handlung an dem Ende derſelben liegt, je enger
kann das ganze zuſammen getrieben werden, daß es

mit
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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/63>, abgerufen am 25.04.2024.