lung. Man kann die ganze Handlung vollkommen begreifen, wenn man auch von dem, was diesem Anfang vorher gegangen ist, keine Nachricht hat: es liegt ganz außer der Kette dieser Begebenheit.
Ohne einen Anfang kann man sich demnach keine Reyhe von Dingen vollkommen vorstellen; weil man nicht begreift, warum die Sachen da sind. Es gehört nothwendig zu der Vollkommenheit eines Werks von Geschmak, daß es einen bestimmten An- fang habe. Wenn Homer die Begebenheiten der Jlias besungen hätte, ohne uns zu sagen, warum Achilles sich von dem Heer entfernt habe, und wa- rum er gegen den Agamemnon aufgebracht worden, so würde uns das Vornehmste der Handlung gefehlt haben: dieses aber der Erzählung vorher gesezt, giebt uns den vollen Aufschluß zu der Sache; und wir bekommen dadurch eine vollständige Vorstellung, dessen, was der Dichter hat besingen wollen; wir werden völlig befriediget, nachdem wir den Anfaug, den Fortgang, und das Ende der Sache erkennt haben.
Hieraus folget, daß der epische Dichter, welcher eine vollständige Handlung erzählt, oder der dra- matische, der sie uns auf der Schaubühne vorstellt, sorgfältig seyn müssen, den Anfang der Handlung deutlich vor Augen zu legen. Dabey aber haben sie einige Vorsichtigkeit nöthig, weil dieses mit mehr oder weniger guter Würkung geschehen kann. Die Sache ist der Mühe werth ausführlich entwikelt zu werden.
Weil der Anfang das erste in der Sache ist, dem nichts, was zu derselben gehört, vorhergehen kann, so muß die Handlung mit nichts anfangen, was würklich vor ihr gewesen ist. Dieses wäre ein verwerflicher Ueberfluß. Die Vorstellungs- kraft wurde mit etwas fremden, das zur Sache nicht gehört, beschäftiget. Jn diesen Fehler ist Euripi- des bisweilen gefallen. Jn der Hekuba läßt er zum Anfange der Handlung diese Königinn auftreten und kläglich thun, noch ehe der der Zuschauer weiß, welches Elend, das eigentlich der Jnhalt des Stüks ist, ihr bevorsteht. Der wahre Anfang dieser Hand- lung ist der Entschluß der Griechen, die Tochter die- ser Königinn auf dem Grabe des Achilles zu opfern. Dieses hat uns der Dichter gleich sollen bekannt machen. Denn alle Klagen der Hekuba, über die ihr vorher begegneten Unglüksfälle, gehören nicht [Spaltenumbruch]
Anf
zu dieser Sache. Eben so läßt er in der Jphigenia bey den Tauriern, diese Prinzeßin zum Anfang der Handlung erscheinen, ehe sie weiß, daß Orestes und Pylades angekommen; da doch die Handlung erst durch ihre Ankunft den Anfang nimmt. Dergleichen Eingänge sind würklich von der Handlung abgerissen und also der Einheit der Vorstellung entgegen.
Ein andrer Fehler ist es in epischen und dramati- schen Gedichten, wenn man den Anfang mit sehr entfernten Veranlassungen zu der Handlung macht. Es würde ungereimt seyn, wenn man, wie Horaz sagt, die Erzählung des Trojanischen Krieges von dem Ey anfangen wollte, aus welchem Helena in die Welt gekommen. Denn daraus erkennt man die Ursache des Krieges nicht unmittelbar. Dergleichen weite Umschweife geben der Vorstellung eine Unvoll- kommenheit, die scharfsinnigen Lesern anstößig ist. Der Dichter muß demnach ohne Umschweife gleich zur Sache kommen, und sein Werk beym unmittel- baren Anfang der Handlung anheben.
Zwar hangen in der Welt gar alle Begebenheiten so an einander, daß in strengem metaphisischen Sinn keine, die mitten aus der Geschichte der Welt her- aus genommen wird, ein für sich bestehendes ganzes ausmacht. Allein da der Dichter seinen Plan so machen muß, daß die Handlung die er bearbeitet, als ein für sich bestehendes ganzes erscheine; so muß er einen solchen Anfang suchen, der unsre Vorstellung befriedige und uns nichts vorher gegangenes zu su- chen übrig lasse. Hat er ein Mißtrauen in die Fruchtbarkeit seiner Erfindungskraft, so nimmt er einen entfernten Anfang, damit die Menge der Be- gebenheiten den Mangel der Erfindungen erseze. Vielleicht würde Homer die Aeneis von der Ankunft des Helden in Jtalien angefangen haben. Virgil glaubte einen entfernten Anfang nöthig zu haben. So würde ein minder fruchtbarer Dichter sich kaum getraut haben, die Meßiade, wie Klopstok gethan hat, mit dem lezten Einzug des Erlösers nach Jeru- salem anzufangen.
Dem Dichter bleibt also immer die Freyheit den Anfang seiner Handlung näher oder entfernter von dem Ende zu nehmen. Nur muß er dieses genau beobachten, daß er seinem Gedicht einen wahren Anfang gebe, der weder außer der Handlung liege, noch unvollständig sey. Je näher der Anfang der Handlung an dem Ende derselben liegt, je enger kann das ganze zusammen getrieben werden, daß es
mit
G 2
[Spaltenumbruch]
Anf
lung. Man kann die ganze Handlung vollkommen begreifen, wenn man auch von dem, was dieſem Anfang vorher gegangen iſt, keine Nachricht hat: es liegt ganz außer der Kette dieſer Begebenheit.
Ohne einen Anfang kann man ſich demnach keine Reyhe von Dingen vollkommen vorſtellen; weil man nicht begreift, warum die Sachen da ſind. Es gehoͤrt nothwendig zu der Vollkommenheit eines Werks von Geſchmak, daß es einen beſtimmten An- fang habe. Wenn Homer die Begebenheiten der Jlias beſungen haͤtte, ohne uns zu ſagen, warum Achilles ſich von dem Heer entfernt habe, und wa- rum er gegen den Agamemnon aufgebracht worden, ſo wuͤrde uns das Vornehmſte der Handlung gefehlt haben: dieſes aber der Erzaͤhlung vorher geſezt, giebt uns den vollen Aufſchluß zu der Sache; und wir bekommen dadurch eine vollſtaͤndige Vorſtellung, deſſen, was der Dichter hat beſingen wollen; wir werden voͤllig befriediget, nachdem wir den Anfaug, den Fortgang, und das Ende der Sache erkennt haben.
Hieraus folget, daß der epiſche Dichter, welcher eine vollſtaͤndige Handlung erzaͤhlt, oder der dra- matiſche, der ſie uns auf der Schaubuͤhne vorſtellt, ſorgfaͤltig ſeyn muͤſſen, den Anfang der Handlung deutlich vor Augen zu legen. Dabey aber haben ſie einige Vorſichtigkeit noͤthig, weil dieſes mit mehr oder weniger guter Wuͤrkung geſchehen kann. Die Sache iſt der Muͤhe werth ausfuͤhrlich entwikelt zu werden.
Weil der Anfang das erſte in der Sache iſt, dem nichts, was zu derſelben gehoͤrt, vorhergehen kann, ſo muß die Handlung mit nichts anfangen, was wuͤrklich vor ihr geweſen iſt. Dieſes waͤre ein verwerflicher Ueberfluß. Die Vorſtellungs- kraft wurde mit etwas fremden, das zur Sache nicht gehoͤrt, beſchaͤftiget. Jn dieſen Fehler iſt Euripi- des bisweilen gefallen. Jn der Hekuba laͤßt er zum Anfange der Handlung dieſe Koͤniginn auftreten und klaͤglich thun, noch ehe der der Zuſchauer weiß, welches Elend, das eigentlich der Jnhalt des Stuͤks iſt, ihr bevorſteht. Der wahre Anfang dieſer Hand- lung iſt der Entſchluß der Griechen, die Tochter die- ſer Koͤniginn auf dem Grabe des Achilles zu opfern. Dieſes hat uns der Dichter gleich ſollen bekannt machen. Denn alle Klagen der Hekuba, uͤber die ihr vorher begegneten Ungluͤksfaͤlle, gehoͤren nicht [Spaltenumbruch]
Anf
zu dieſer Sache. Eben ſo laͤßt er in der Jphigenia bey den Tauriern, dieſe Prinzeßin zum Anfang der Handlung erſcheinen, ehe ſie weiß, daß Oreſtes und Pylades angekommen; da doch die Handlung erſt durch ihre Ankunft den Anfang nimmt. Dergleichen Eingaͤnge ſind wuͤrklich von der Handlung abgeriſſen und alſo der Einheit der Vorſtellung entgegen.
Ein andrer Fehler iſt es in epiſchen und dramati- ſchen Gedichten, wenn man den Anfang mit ſehr entfernten Veranlaſſungen zu der Handlung macht. Es wuͤrde ungereimt ſeyn, wenn man, wie Horaz ſagt, die Erzaͤhlung des Trojaniſchen Krieges von dem Ey anfangen wollte, aus welchem Helena in die Welt gekommen. Denn daraus erkennt man die Urſache des Krieges nicht unmittelbar. Dergleichen weite Umſchweife geben der Vorſtellung eine Unvoll- kommenheit, die ſcharfſinnigen Leſern anſtoͤßig iſt. Der Dichter muß demnach ohne Umſchweife gleich zur Sache kommen, und ſein Werk beym unmittel- baren Anfang der Handlung anheben.
Zwar hangen in der Welt gar alle Begebenheiten ſo an einander, daß in ſtrengem metaphiſiſchen Sinn keine, die mitten aus der Geſchichte der Welt her- aus genommen wird, ein fuͤr ſich beſtehendes ganzes ausmacht. Allein da der Dichter ſeinen Plan ſo machen muß, daß die Handlung die er bearbeitet, als ein fuͤr ſich beſtehendes ganzes erſcheine; ſo muß er einen ſolchen Anfang ſuchen, der unſre Vorſtellung befriedige und uns nichts vorher gegangenes zu ſu- chen uͤbrig laſſe. Hat er ein Mißtrauen in die Fruchtbarkeit ſeiner Erfindungskraft, ſo nimmt er einen entfernten Anfang, damit die Menge der Be- gebenheiten den Mangel der Erfindungen erſeze. Vielleicht wuͤrde Homer die Aeneis von der Ankunft des Helden in Jtalien angefangen haben. Virgil glaubte einen entfernten Anfang noͤthig zu haben. So wuͤrde ein minder fruchtbarer Dichter ſich kaum getraut haben, die Meßiade, wie Klopſtok gethan hat, mit dem lezten Einzug des Erloͤſers nach Jeru- ſalem anzufangen.
Dem Dichter bleibt alſo immer die Freyheit den Anfang ſeiner Handlung naͤher oder entfernter von dem Ende zu nehmen. Nur muß er dieſes genau beobachten, daß er ſeinem Gedicht einen wahren Anfang gebe, der weder außer der Handlung liege, noch unvollſtaͤndig ſey. Je naͤher der Anfang der Handlung an dem Ende derſelben liegt, je enger kann das ganze zuſammen getrieben werden, daß es
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[51/0063]
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lung. Man kann die ganze Handlung vollkommen
begreifen, wenn man auch von dem, was dieſem
Anfang vorher gegangen iſt, keine Nachricht hat:
es liegt ganz außer der Kette dieſer Begebenheit.
Ohne einen Anfang kann man ſich demnach
keine Reyhe von Dingen vollkommen vorſtellen;
weil man nicht begreift, warum die Sachen da ſind.
Es gehoͤrt nothwendig zu der Vollkommenheit eines
Werks von Geſchmak, daß es einen beſtimmten An-
fang habe. Wenn Homer die Begebenheiten der
Jlias beſungen haͤtte, ohne uns zu ſagen, warum
Achilles ſich von dem Heer entfernt habe, und wa-
rum er gegen den Agamemnon aufgebracht worden, ſo
wuͤrde uns das Vornehmſte der Handlung gefehlt
haben: dieſes aber der Erzaͤhlung vorher geſezt,
giebt uns den vollen Aufſchluß zu der Sache; und
wir bekommen dadurch eine vollſtaͤndige Vorſtellung,
deſſen, was der Dichter hat beſingen wollen; wir
werden voͤllig befriediget, nachdem wir den Anfaug,
den Fortgang, und das Ende der Sache erkennt
haben.
Hieraus folget, daß der epiſche Dichter, welcher
eine vollſtaͤndige Handlung erzaͤhlt, oder der dra-
matiſche, der ſie uns auf der Schaubuͤhne vorſtellt,
ſorgfaͤltig ſeyn muͤſſen, den Anfang der Handlung
deutlich vor Augen zu legen. Dabey aber haben ſie
einige Vorſichtigkeit noͤthig, weil dieſes mit mehr
oder weniger guter Wuͤrkung geſchehen kann. Die
Sache iſt der Muͤhe werth ausfuͤhrlich entwikelt zu
werden.
Weil der Anfang das erſte in der Sache iſt,
dem nichts, was zu derſelben gehoͤrt, vorhergehen
kann, ſo muß die Handlung mit nichts anfangen,
was wuͤrklich vor ihr geweſen iſt. Dieſes waͤre
ein verwerflicher Ueberfluß. Die Vorſtellungs-
kraft wurde mit etwas fremden, das zur Sache nicht
gehoͤrt, beſchaͤftiget. Jn dieſen Fehler iſt Euripi-
des bisweilen gefallen. Jn der Hekuba laͤßt er zum
Anfange der Handlung dieſe Koͤniginn auftreten und
klaͤglich thun, noch ehe der der Zuſchauer weiß,
welches Elend, das eigentlich der Jnhalt des Stuͤks
iſt, ihr bevorſteht. Der wahre Anfang dieſer Hand-
lung iſt der Entſchluß der Griechen, die Tochter die-
ſer Koͤniginn auf dem Grabe des Achilles zu opfern.
Dieſes hat uns der Dichter gleich ſollen bekannt
machen. Denn alle Klagen der Hekuba, uͤber die
ihr vorher begegneten Ungluͤksfaͤlle, gehoͤren nicht
zu dieſer Sache. Eben ſo laͤßt er in der Jphigenia
bey den Tauriern, dieſe Prinzeßin zum Anfang der
Handlung erſcheinen, ehe ſie weiß, daß Oreſtes und
Pylades angekommen; da doch die Handlung erſt
durch ihre Ankunft den Anfang nimmt. Dergleichen
Eingaͤnge ſind wuͤrklich von der Handlung abgeriſſen
und alſo der Einheit der Vorſtellung entgegen.
Ein andrer Fehler iſt es in epiſchen und dramati-
ſchen Gedichten, wenn man den Anfang mit ſehr
entfernten Veranlaſſungen zu der Handlung macht.
Es wuͤrde ungereimt ſeyn, wenn man, wie Horaz
ſagt, die Erzaͤhlung des Trojaniſchen Krieges von
dem Ey anfangen wollte, aus welchem Helena in die
Welt gekommen. Denn daraus erkennt man die
Urſache des Krieges nicht unmittelbar. Dergleichen
weite Umſchweife geben der Vorſtellung eine Unvoll-
kommenheit, die ſcharfſinnigen Leſern anſtoͤßig iſt.
Der Dichter muß demnach ohne Umſchweife gleich
zur Sache kommen, und ſein Werk beym unmittel-
baren Anfang der Handlung anheben.
Zwar hangen in der Welt gar alle Begebenheiten
ſo an einander, daß in ſtrengem metaphiſiſchen Sinn
keine, die mitten aus der Geſchichte der Welt her-
aus genommen wird, ein fuͤr ſich beſtehendes ganzes
ausmacht. Allein da der Dichter ſeinen Plan ſo
machen muß, daß die Handlung die er bearbeitet,
als ein fuͤr ſich beſtehendes ganzes erſcheine; ſo muß
er einen ſolchen Anfang ſuchen, der unſre Vorſtellung
befriedige und uns nichts vorher gegangenes zu ſu-
chen uͤbrig laſſe. Hat er ein Mißtrauen in die
Fruchtbarkeit ſeiner Erfindungskraft, ſo nimmt er
einen entfernten Anfang, damit die Menge der Be-
gebenheiten den Mangel der Erfindungen erſeze.
Vielleicht wuͤrde Homer die Aeneis von der Ankunft
des Helden in Jtalien angefangen haben. Virgil
glaubte einen entfernten Anfang noͤthig zu haben.
So wuͤrde ein minder fruchtbarer Dichter ſich kaum
getraut haben, die Meßiade, wie Klopſtok gethan
hat, mit dem lezten Einzug des Erloͤſers nach Jeru-
ſalem anzufangen.
Dem Dichter bleibt alſo immer die Freyheit den
Anfang ſeiner Handlung naͤher oder entfernter von
dem Ende zu nehmen. Nur muß er dieſes genau
beobachten, daß er ſeinem Gedicht einen wahren
Anfang gebe, der weder außer der Handlung liege,
noch unvollſtaͤndig ſey. Je naͤher der Anfang der
Handlung an dem Ende derſelben liegt, je enger
kann das ganze zuſammen getrieben werden, daß es
mit
G 2
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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/63>, abgerufen am 28.07.2024.
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