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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Vorrede.
Noch ist die höchste Stufe in dem Tempel des Ruhms und Verdienstes unbetreten;
die Stufe, auf welcher einmal der Regent stehen wird, der, aus göttlicher Begierde die
Menschen glüklich zu sehen, mit gleichem Eyfer und mit gleicher Weisheit die beyden
großen Mittel zur Beforderung der Glükseeligkeit, die Cultur des Verstandes und die
sittliche Bildung der Gemüther, jene durch die Wissenschaften, diese durch die schönen
Künste, zum vollkommenen Gebrauch wird gebracht haben.

Man wird sich nicht befremden lassen, daß ich bey dem hohen Begriff, den ich
von dem Werth der schönen Künste habe, von der Ausbreitung des guten Geschmaks
an vielen Stellen dieses Werks, als von einer Angelegenheit spreche, die der Sorge
der Regenten eben so würdig ist, als irgend eine andre öffentliche Veranstaltung; auch
wird man mir es nicht übel nehmen, daß ich den Verfall und die schlechte Anwendung
der Künste als ein die Menschlichkeit betreffendes Verderbnis beklage, und hier und
da einen etwas ernsthaften Ton annehme. Entweder muß man mir zeigen, daß meine
Begriffe von dem Wesen der schönen Künste falsch und übertrieben sind, oder man
muß die Folgen, die ich daraus ziehe, gelten lassen: stehen jene, so müssen auch
diese fest stehen.

Hieraus wird man auch zugleich abnehmen, daß ich über die schönen Künste als
ein Philosoph, und gar nicht als ein so genannter Kunstliebhaber, geschrieben habe.
Diejenigen, die mehr curiöse, als nützliche Anmerkungen über Künstler und Kunstsachen
hier suchen, werden sich betrogen finden. Auch war es meine Absicht nicht die
mechanischen Regeln der Kunst zu sammeln, und dem Künstler, so zu sagen, bey der
Arbeit die Hand zu führen. Das Praktische in allen Künsten wird durch Uebung
erlangt, und nicht durch Regeln erlernt. Zu dem bin ich kein Künstler, und weiß we-
nig von den praktischen Geheimnissen der Kunst. Was ich hier und da davon sage,
steht mehr in der Absicht da, jungen Künstlern die Aufmerksamkeit und den Fleiß zu
schärfen, und den Liebhabern die Schwierigkeiten, die sich bey der Ausübung zeigen,
begreiflich zu machen, als den Künstler zu unterrichten. Denn welcher Mensch von
irgend einigem Nachdenken, wird sich einfallen lassen, daß er, als ein in der Aus-
übung unerfahrner, denen, die schon eigene Uebung und Erfahrung haben, Regeln
geben könnte?

Darin aber glaube ich dem Künstler durch diese Arbeit nützlich zu seyn, daß ich
ihn überall seines Beruffs erinnere, daß ich ihn warne, seine Zeit nicht auf Kleinig-

keiten

Vorrede.
Noch iſt die hoͤchſte Stufe in dem Tempel des Ruhms und Verdienſtes unbetreten;
die Stufe, auf welcher einmal der Regent ſtehen wird, der, aus goͤttlicher Begierde die
Menſchen gluͤklich zu ſehen, mit gleichem Eyfer und mit gleicher Weisheit die beyden
großen Mittel zur Beforderung der Gluͤkſeeligkeit, die Cultur des Verſtandes und die
ſittliche Bildung der Gemuͤther, jene durch die Wiſſenſchaften, dieſe durch die ſchoͤnen
Kuͤnſte, zum vollkommenen Gebrauch wird gebracht haben.

Man wird ſich nicht befremden laſſen, daß ich bey dem hohen Begriff, den ich
von dem Werth der ſchoͤnen Kuͤnſte habe, von der Ausbreitung des guten Geſchmaks
an vielen Stellen dieſes Werks, als von einer Angelegenheit ſpreche, die der Sorge
der Regenten eben ſo wuͤrdig iſt, als irgend eine andre oͤffentliche Veranſtaltung; auch
wird man mir es nicht uͤbel nehmen, daß ich den Verfall und die ſchlechte Anwendung
der Kuͤnſte als ein die Menſchlichkeit betreffendes Verderbnis beklage, und hier und
da einen etwas ernſthaften Ton annehme. Entweder muß man mir zeigen, daß meine
Begriffe von dem Weſen der ſchoͤnen Kuͤnſte falſch und uͤbertrieben ſind, oder man
muß die Folgen, die ich daraus ziehe, gelten laſſen: ſtehen jene, ſo muͤſſen auch
dieſe feſt ſtehen.

Hieraus wird man auch zugleich abnehmen, daß ich uͤber die ſchoͤnen Kuͤnſte als
ein Philoſoph, und gar nicht als ein ſo genannter Kunſtliebhaber, geſchrieben habe.
Diejenigen, die mehr curioͤſe, als nuͤtzliche Anmerkungen uͤber Kuͤnſtler und Kunſtſachen
hier ſuchen, werden ſich betrogen finden. Auch war es meine Abſicht nicht die
mechaniſchen Regeln der Kunſt zu ſammeln, und dem Kuͤnſtler, ſo zu ſagen, bey der
Arbeit die Hand zu fuͤhren. Das Praktiſche in allen Kuͤnſten wird durch Uebung
erlangt, und nicht durch Regeln erlernt. Zu dem bin ich kein Kuͤnſtler, und weiß we-
nig von den praktiſchen Geheimniſſen der Kunſt. Was ich hier und da davon ſage,
ſteht mehr in der Abſicht da, jungen Kuͤnſtlern die Aufmerkſamkeit und den Fleiß zu
ſchaͤrfen, und den Liebhabern die Schwierigkeiten, die ſich bey der Ausuͤbung zeigen,
begreiflich zu machen, als den Kuͤnſtler zu unterrichten. Denn welcher Menſch von
irgend einigem Nachdenken, wird ſich einfallen laſſen, daß er, als ein in der Aus-
uͤbung unerfahrner, denen, die ſchon eigene Uebung und Erfahrung haben, Regeln
geben koͤnnte?

Darin aber glaube ich dem Kuͤnſtler durch dieſe Arbeit nuͤtzlich zu ſeyn, daß ich
ihn uͤberall ſeines Beruffs erinnere, daß ich ihn warne, ſeine Zeit nicht auf Kleinig-

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[VI/0006] Vorrede. Noch iſt die hoͤchſte Stufe in dem Tempel des Ruhms und Verdienſtes unbetreten; die Stufe, auf welcher einmal der Regent ſtehen wird, der, aus goͤttlicher Begierde die Menſchen gluͤklich zu ſehen, mit gleichem Eyfer und mit gleicher Weisheit die beyden großen Mittel zur Beforderung der Gluͤkſeeligkeit, die Cultur des Verſtandes und die ſittliche Bildung der Gemuͤther, jene durch die Wiſſenſchaften, dieſe durch die ſchoͤnen Kuͤnſte, zum vollkommenen Gebrauch wird gebracht haben. Man wird ſich nicht befremden laſſen, daß ich bey dem hohen Begriff, den ich von dem Werth der ſchoͤnen Kuͤnſte habe, von der Ausbreitung des guten Geſchmaks an vielen Stellen dieſes Werks, als von einer Angelegenheit ſpreche, die der Sorge der Regenten eben ſo wuͤrdig iſt, als irgend eine andre oͤffentliche Veranſtaltung; auch wird man mir es nicht uͤbel nehmen, daß ich den Verfall und die ſchlechte Anwendung der Kuͤnſte als ein die Menſchlichkeit betreffendes Verderbnis beklage, und hier und da einen etwas ernſthaften Ton annehme. Entweder muß man mir zeigen, daß meine Begriffe von dem Weſen der ſchoͤnen Kuͤnſte falſch und uͤbertrieben ſind, oder man muß die Folgen, die ich daraus ziehe, gelten laſſen: ſtehen jene, ſo muͤſſen auch dieſe feſt ſtehen. Hieraus wird man auch zugleich abnehmen, daß ich uͤber die ſchoͤnen Kuͤnſte als ein Philoſoph, und gar nicht als ein ſo genannter Kunſtliebhaber, geſchrieben habe. Diejenigen, die mehr curioͤſe, als nuͤtzliche Anmerkungen uͤber Kuͤnſtler und Kunſtſachen hier ſuchen, werden ſich betrogen finden. Auch war es meine Abſicht nicht die mechaniſchen Regeln der Kunſt zu ſammeln, und dem Kuͤnſtler, ſo zu ſagen, bey der Arbeit die Hand zu fuͤhren. Das Praktiſche in allen Kuͤnſten wird durch Uebung erlangt, und nicht durch Regeln erlernt. Zu dem bin ich kein Kuͤnſtler, und weiß we- nig von den praktiſchen Geheimniſſen der Kunſt. Was ich hier und da davon ſage, ſteht mehr in der Abſicht da, jungen Kuͤnſtlern die Aufmerkſamkeit und den Fleiß zu ſchaͤrfen, und den Liebhabern die Schwierigkeiten, die ſich bey der Ausuͤbung zeigen, begreiflich zu machen, als den Kuͤnſtler zu unterrichten. Denn welcher Menſch von irgend einigem Nachdenken, wird ſich einfallen laſſen, daß er, als ein in der Aus- uͤbung unerfahrner, denen, die ſchon eigene Uebung und Erfahrung haben, Regeln geben koͤnnte? Darin aber glaube ich dem Kuͤnſtler durch dieſe Arbeit nuͤtzlich zu ſeyn, daß ich ihn uͤberall ſeines Beruffs erinnere, daß ich ihn warne, ſeine Zeit nicht auf Kleinig- keiten

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. VI. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/6>, abgerufen am 28.03.2024.