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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Vorrede.
Durch diesen unglüklichen Einfall sind die festen Grundsätze, wonach der Künstler
arbeiten sollte, zernichtet, und seine Schritte unsicher worden. Wir müssen es diesen
verkehrten Begriffen zuschreiben, daß die schönen Künste bey vielen rechtschaffenen
Männern in Verachtung gekommen sind; daß die Politik sie ihrer Vorsorge kaum wür-
dig achtet, und sie dem Zufall überläßt; daß sie bey unsern gottesdienstlichen Festen und
bey unsern politischen Feyerlichkeiten so gar unbedeutend sind. Man hat dadurch dem
Künstler den Weg zum wahren Verdienst gleichsam verrennt, und gemacht, daß er
sich vor den barbarischen Künstlern halb wilder Völker schämen muß, die durch ihre
unharmonische Musik, durch ihre unförmlichen Tänze und durch ihre ganz rohe Poesie,
mehr ausrichten, als unsre feineste Virtuosen. Jene entflammen die Herzen ihrer Mit-
bürger mit patriotischem Feuer, da diese kaum eine vorübergehende Belustigung der
Phantasie zu bewürken vermögend sind.

Es muß jeden rechtschaffenen Philosophen schmerzen wenn er sieht, wie die gött-
liche Kraft des von Geschmak geleiteten Genies so gar übel angewendet wird. Man
kann nicht ohne Betrübnis sehen, was die Künste würklich sind, wenn man erkennt hat,
was sie seyn könnten. Man muß unwillig werden, wenn man siehet, daß Leute, die mit
den Musen nur Unzucht treiben, einen Anspruch auf unsre Hochachtung machen dürffen?
Wie langweilig, wie verdrießlich und wie abgeschmakt bisweilen unsre öffentliche Feyer-
lichkeiten und Feste, und wie so gar schwach unsre Schauspiele seyen, empfindet jeder
Mensch von einigem Gefühl. Und doch könnte man durch dergleichen Veranstaltun-
gen aus dem Menschen machen, was man wollte. Es ist in der Welt nichts, das
die Gemüther so gar bis auf den innersten Grund öffnet, und jedem Eindruk so aus-
nehmende Kraft giebt, als öffentliche Feyerlichkeiten, und solche Veranstaltungen, wo
ein ganzes Volk zusammen kommt. Und doch -- wie brauchen die Künstler diese Ge-
legenheiten die Gemüther der Menschen, derer sie da vollkommen Meister seyn können, zum
Guten zu lenken? Wo lebt der Dichter, der bey einer solchen Gelegenheit ein ganzes
Volk mit Eyfer für die Rechte der Menschlichkeit angeflammt, oder mit Haß gegen
öffentliche Verbrecher erfüllt, oder ungerechte und boßhafte Seelen mit Schaam und
Schreken geschlagen hat?

Es ist nur ein Mittel den durch Wissenschaften unterrichteten Menschen, auf
die Höhe zu heben, die er zu ersteigen würklich im Stand ist. Dieses Mittel
liegt in der Vervollkommung und der wahren Anwendung der schönen Künste.

Noch
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Vorrede.
Durch dieſen ungluͤklichen Einfall ſind die feſten Grundſaͤtze, wonach der Kuͤnſtler
arbeiten ſollte, zernichtet, und ſeine Schritte unſicher worden. Wir muͤſſen es dieſen
verkehrten Begriffen zuſchreiben, daß die ſchoͤnen Kuͤnſte bey vielen rechtſchaffenen
Maͤnnern in Verachtung gekommen ſind; daß die Politik ſie ihrer Vorſorge kaum wuͤr-
dig achtet, und ſie dem Zufall uͤberlaͤßt; daß ſie bey unſern gottesdienſtlichen Feſten und
bey unſern politiſchen Feyerlichkeiten ſo gar unbedeutend ſind. Man hat dadurch dem
Kuͤnſtler den Weg zum wahren Verdienſt gleichſam verrennt, und gemacht, daß er
ſich vor den barbariſchen Kuͤnſtlern halb wilder Voͤlker ſchaͤmen muß, die durch ihre
unharmoniſche Muſik, durch ihre unfoͤrmlichen Taͤnze und durch ihre ganz rohe Poeſie,
mehr ausrichten, als unſre feineſte Virtuoſen. Jene entflammen die Herzen ihrer Mit-
buͤrger mit patriotiſchem Feuer, da dieſe kaum eine voruͤbergehende Beluſtigung der
Phantaſie zu bewuͤrken vermoͤgend ſind.

Es muß jeden rechtſchaffenen Philoſophen ſchmerzen wenn er ſieht, wie die goͤtt-
liche Kraft des von Geſchmak geleiteten Genies ſo gar uͤbel angewendet wird. Man
kann nicht ohne Betruͤbnis ſehen, was die Kuͤnſte wuͤrklich ſind, wenn man erkennt hat,
was ſie ſeyn koͤnnten. Man muß unwillig werden, wenn man ſiehet, daß Leute, die mit
den Muſen nur Unzucht treiben, einen Anſpruch auf unſre Hochachtung machen duͤrffen?
Wie langweilig, wie verdrießlich und wie abgeſchmakt bisweilen unſre oͤffentliche Feyer-
lichkeiten und Feſte, und wie ſo gar ſchwach unſre Schauſpiele ſeyen, empfindet jeder
Menſch von einigem Gefuͤhl. Und doch koͤnnte man durch dergleichen Veranſtaltun-
gen aus dem Menſchen machen, was man wollte. Es iſt in der Welt nichts, das
die Gemuͤther ſo gar bis auf den innerſten Grund oͤffnet, und jedem Eindruk ſo aus-
nehmende Kraft giebt, als oͤffentliche Feyerlichkeiten, und ſolche Veranſtaltungen, wo
ein ganzes Volk zuſammen kommt. Und doch — wie brauchen die Kuͤnſtler dieſe Ge-
legenheiten die Gemuͤther der Menſchen, derer ſie da vollkommen Meiſter ſeyn koͤnnen, zum
Guten zu lenken? Wo lebt der Dichter, der bey einer ſolchen Gelegenheit ein ganzes
Volk mit Eyfer fuͤr die Rechte der Menſchlichkeit angeflammt, oder mit Haß gegen
oͤffentliche Verbrecher erfuͤllt, oder ungerechte und boßhafte Seelen mit Schaam und
Schreken geſchlagen hat?

Es iſt nur ein Mittel den durch Wiſſenſchaften unterrichteten Menſchen, auf
die Hoͤhe zu heben, die er zu erſteigen wuͤrklich im Stand iſt. Dieſes Mittel
liegt in der Vervollkommung und der wahren Anwendung der ſchoͤnen Kuͤnſte.

Noch
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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. V. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/5>, abgerufen am 29.03.2024.