Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.[Spaltenumbruch] Jnt müßiger Mensch aus seinem Fenster auf die vorihm herumwandelnden Menschen herunter, und ist zufrieden, wenn nur immer etwas Neues vor sein Gesichte kommt. Jn dieser Faßung lesen wir auch bisweilen Beschreibungen von Ländern, oder Erzäh- lungen von Geschichten, an denen wir weiter keinen Antheil nehmen, als daß wir uns dabey die Zeit vertreiben. Von dergleichen Dingen sagt man nicht daß sie interessant seyen, weil sie als Sachen angese- hen werden, die unsre Personen, oder unsern Zustand, weiter nichts angehen. Es kann auch seyn, daß Gegenstände dieser Art Wenn uns aber Gegenstände vorkommen, die Das Jnteressante ist die wichtigste Eigenschaft Jnt unsrer Natur sey. Diese Würksamkeit ist der erste,wahre Grundtrieb unsers Wesens, der Eigennutzen, oder das Jnteresse, welches einige Philosophen zur Quelle aller Handlungen machen. Also kann der Künstler uns durch nichts mehr schmeicheln, uns durch nichts mehr gefallen, als wann er uns durch interessante Gegenstände in Würksamkeit setzet. Je- der Mensch wird gestehen, daß die glüklichsten Tage seines Lebens diejenigen gewesen sind, wo seine Seele die größte Würksamkeit geäußert hat. Noch wichtiger werden intressante Gegenstände da- Auf das Vollkommenste aber erfüllet der Künstler Wer andre rühren will, sagen die Kunstrichter, haben Erster Theil. B b b b
[Spaltenumbruch] Jnt muͤßiger Menſch aus ſeinem Fenſter auf die vorihm herumwandelnden Menſchen herunter, und iſt zufrieden, wenn nur immer etwas Neues vor ſein Geſichte kommt. Jn dieſer Faßung leſen wir auch bisweilen Beſchreibungen von Laͤndern, oder Erzaͤh- lungen von Geſchichten, an denen wir weiter keinen Antheil nehmen, als daß wir uns dabey die Zeit vertreiben. Von dergleichen Dingen ſagt man nicht daß ſie intereſſant ſeyen, weil ſie als Sachen angeſe- hen werden, die unſre Perſonen, oder unſern Zuſtand, weiter nichts angehen. Es kann auch ſeyn, daß Gegenſtaͤnde dieſer Art Wenn uns aber Gegenſtaͤnde vorkommen, die Das Jntereſſante iſt die wichtigſte Eigenſchaft Jnt unſrer Natur ſey. Dieſe Wuͤrkſamkeit iſt der erſte,wahre Grundtrieb unſers Weſens, der Eigennutzen, oder das Jntereſſe, welches einige Philoſophen zur Quelle aller Handlungen machen. Alſo kann der Kuͤnſtler uns durch nichts mehr ſchmeicheln, uns durch nichts mehr gefallen, als wann er uns durch intereſſante Gegenſtaͤnde in Wuͤrkſamkeit ſetzet. Je- der Menſch wird geſtehen, daß die gluͤklichſten Tage ſeines Lebens diejenigen geweſen ſind, wo ſeine Seele die groͤßte Wuͤrkſamkeit geaͤußert hat. Noch wichtiger werden intreſſante Gegenſtaͤnde da- Auf das Vollkommenſte aber erfuͤllet der Kuͤnſtler Wer andre ruͤhren will, ſagen die Kunſtrichter, haben Erſter Theil. B b b b
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Wir nehmen alle dieſe Ein-<lb/> druͤke gern an, weil ſie unterhaltend ſind, oder uns<lb/> gleichſam angenehm einwiegen: aber wir finden uns<lb/> dadurch in keine merkliche Wuͤrkſamkeit geſetzt; es<lb/> wuͤrde uns alles eben ſo gefallen, wenn auch die Em-<lb/> pfindungen anders, als wuͤrklich geſchieht, auf ein-<lb/> ander folgten.</p><lb/> <p>Wenn uns aber Gegenſtaͤnde vorkommen, die<lb/> unſre Wuͤrkſamkeit auffodern; wobey wir uns, als<lb/> mitwuͤrkende Weſen zeigen; bey denen wir Ent-<lb/> wuͤrfe machen; die Wuͤnſche, Furcht und Hoffnung<lb/> in uns erweken; wo uns daran gelegen iſt, daß die<lb/> Sachen gewiſſe Wendungen nehmen, und wo wir<lb/> uns wenigſtens in Gedanken thaͤtig erzeigen, etwas<lb/> zu dem Fortgange der Sachen beyzutragen; alsdenn<lb/> werden dieſe Gegenſtaͤnde intereſſant genennt.</p><lb/> <p>Das Jntereſſante iſt die wichtigſte Eigenſchaft<lb/> aͤſthetiſcher Gegenſtaͤnde; weil der Kuͤnſtler dadurch<lb/> alle Abſichten der Kunſt auf einmal erreicht. 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Jnt
Jnt
muͤßiger Menſch aus ſeinem Fenſter auf die vor
ihm herumwandelnden Menſchen herunter, und iſt
zufrieden, wenn nur immer etwas Neues vor ſein
Geſichte kommt. Jn dieſer Faßung leſen wir auch
bisweilen Beſchreibungen von Laͤndern, oder Erzaͤh-
lungen von Geſchichten, an denen wir weiter keinen
Antheil nehmen, als daß wir uns dabey die Zeit
vertreiben. Von dergleichen Dingen ſagt man nicht
daß ſie intereſſant ſeyen, weil ſie als Sachen angeſe-
hen werden, die unſre Perſonen, oder unſern Zuſtand,
weiter nichts angehen.
Es kann auch ſeyn, daß Gegenſtaͤnde dieſer Art
ziemlich ſtarken Eindruk auf uns machen, ohne darum
im engen Verſtand intereſſant zu ſeyn. Die Vorſtel-
lungen, bey denen wir uns groͤßtentheils leidend
verhalten; wo wir blos genießen, die Sachen ſeyen
gut oder boͤſe, ſind noch nicht von der intereſſanten
Art. Man kann uns freudig, traurig, zaͤrtlich,
wolluͤſtig machen, und uns durch dergleichen Em-
pfindungen angenehm unterhalten, ohne uns leb-
haft zu intereßiren. Wir nehmen alle dieſe Ein-
druͤke gern an, weil ſie unterhaltend ſind, oder uns
gleichſam angenehm einwiegen: aber wir finden uns
dadurch in keine merkliche Wuͤrkſamkeit geſetzt; es
wuͤrde uns alles eben ſo gefallen, wenn auch die Em-
pfindungen anders, als wuͤrklich geſchieht, auf ein-
ander folgten.
Wenn uns aber Gegenſtaͤnde vorkommen, die
unſre Wuͤrkſamkeit auffodern; wobey wir uns, als
mitwuͤrkende Weſen zeigen; bey denen wir Ent-
wuͤrfe machen; die Wuͤnſche, Furcht und Hoffnung
in uns erweken; wo uns daran gelegen iſt, daß die
Sachen gewiſſe Wendungen nehmen, und wo wir
uns wenigſtens in Gedanken thaͤtig erzeigen, etwas
zu dem Fortgange der Sachen beyzutragen; alsdenn
werden dieſe Gegenſtaͤnde intereſſant genennt.
Das Jntereſſante iſt die wichtigſte Eigenſchaft
aͤſthetiſcher Gegenſtaͤnde; weil der Kuͤnſtler dadurch
alle Abſichten der Kunſt auf einmal erreicht. Erſtlich
iſt er verſichert uns dadurch zu gefallen. Denn ob
es gleich ſcheinet, daß der ruhige Genuß angeneh-
mer Empfindungen, der erwuͤnſchteſte Zuſtand ſey,
ſo zeiget ſich doch bey naͤherer Unterſuchung, daß die
innere Wuͤrkſamkeit, oder Thaͤtigkeit, wodurch wir
uns ſelbſt, als freye aus eigenen Kraͤften handelnde
Weſen verhalten, die erſte und groͤßte Augelegenheit
unſrer Natur ſey. Dieſe Wuͤrkſamkeit iſt der erſte,
wahre Grundtrieb unſers Weſens, der Eigennutzen,
oder das Jntereſſe, welches einige Philoſophen zur
Quelle aller Handlungen machen. Alſo kann der
Kuͤnſtler uns durch nichts mehr ſchmeicheln, uns
durch nichts mehr gefallen, als wann er uns durch
intereſſante Gegenſtaͤnde in Wuͤrkſamkeit ſetzet. Je-
der Menſch wird geſtehen, daß die gluͤklichſten Tage
ſeines Lebens diejenigen geweſen ſind, wo ſeine Seele
die groͤßte Wuͤrkſamkeit geaͤußert hat.
Noch wichtiger werden intreſſante Gegenſtaͤnde da-
durch, daß ſie uͤberhaupt die innere Wuͤrkſamkeit
des Geiſtes, die eigentlich den Werth des Menſchen
ausmacht, vermehren. Nicht die ſanften, ſeeligen,
enthuſiaſtiſchen Seelen, die nach dem ruhigen Genuß,
innerer Wolluſt, wenn ſie auch noch ſo himmliſch
waͤre, ſchmachten; ſondern die lebhaften, thaͤtigen,
nach Wuͤrkſamkeit durſtigen Menſchen, ſind das, wozu
die Natur uns hat machen wollen. Alſo beſteht der
groͤßte Werth des Menſchen in einer nervenreichen,
wuͤrkſamen Seele. So wie aber die Kraͤfte des
ſtaͤrkſten Koͤrpers durch Ruhe und Muͤßiggang er-
ſchlaffen, da ein Menſch von mittelmaͤßigen Leibes-
kraͤften, durch beſtaͤndiges Arbeiten ſtark wird; ſo
werden auch die Nerven der Seele durch bloßen Ge-
nuß gleichſam gelaͤhmt. Dieſes Einſchlafen aber koͤn-
nen die ſchoͤnen Kuͤnſte hindern, wenn ſie uns durch
intereſſante Gegenſtaͤnde zur Wuͤrkſamkeit reizen.
Dadurch allein leiſten ſie uns ſchon einen ſehr wich-
tigen Dienſt.
Auf das Vollkommenſte aber erfuͤllet der Kuͤnſtler
die Pflichten ſeines Beruffs, wenn er die gereizten
Kraͤfte der Seele zugleich vortheilhaft lenket; wenn
er uns jederzeit fuͤr Recht und Tugend intereſ-
ſirt. Hingegen handelt er auch verraͤtheriſch an
dem Menſchen, wenn er aus Muthwillen, oder aus
verkehrtem Herzen, oder auch blos aus Unverſtand,
den wuͤrkenden Kraͤften eine ſchlechte Lenkung giebt.
Dieſes iſt der Fehler den man mit Recht dem Moliere
und noch andern comiſchen Dichtern Schuld giebt,
die nur gar zu ofte die Zuſchauer fuͤr die Boßheit
oder fuͤr das Laſter intereßiren.
Wer andre ruͤhren will, ſagen die Kunſtrichter,
muß ſelbſt geruͤhrt ſeyn: mit eben ſo viel Grund
kann man ſagen, daß der, welcher ein intereſſantes
Werk machen will, eine wuͤrkſame intereßirte Seele
haben
Erſter Theil. B b b b
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