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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Hom
schildert. Eben dieses fühlt man bey den Reden und
Handlungen, die er seinen Personen beylegt. Kein
unnützes, kein überflüßiges Wort, keines, das nicht
geradezu den Zwek trift, keine, auch nicht die ge-
ringste Handlung, die nicht den bestimmtesten Cha-
rakter anzeiget. Was jeder spricht oder thut, ge-
schieht so, wie es sich für ihn schiket. Sein Aus-
druk und sein Vers sind so, daß die Natur selbst sie
auf den Lippen des Dichters zur besten Bezeichnung
der Sachen scheint gebildet zu haben.

Den Namen eines Vaters der Dichter verdienet
er fürnehmlich dadurch, daß kaum eine Art des poe-
tischen Schwunges, oder der Herablassung zu der na-
türlichen Vorstellung der Sachen; keine Wendung
der Gedanken; kein Theil der poetischen Kunst ist, da-
von er nicht Muster gegeben. Der epische Dichter,
der dramatische, der lyrische, und der Redner, kön-
nen ihr Genie an dem seinigen schärfen. Dieses
große poetische Genie wird überall von Verstand und
Weisheit geleitet, um auf das Zuversichtlichste auf
seinem Wege fortzuschreiten. Er zeiget dem Ver-
stand nichts unerhebliches, nichts unüberlegtes; der
Einbildungskraft nichts kleines, nichts gekünsteltes,
nichts subtiles; dem Gemüthe nichts unnatürliches,
nichts übertriebenes, nichts unbestimmtes. Darum
nennt ihn Horaz mit Recht den Mann,

-- Qui nil molitur inepte.

So hat das Alterthum fast ohne Ausnahm von
dem Vater der Dichter geurtheilt. Jn den neuern
Zeiten hat man unzählige Dinge an ihm auszusetzen
gefunden. Man hat ihn beschuldiget, daß er ungesit-
tet, unphilosophisch und unmoralisch sey. Man
scheinet aber bey diesen Vorwürfen vorauszusetzen,
daß Homer die Absicht gehabt habe, nach den abstrak-
ten und gereinigten Begriffen der Philosophie und Mo-
ral seine Zeitgenossen zu lehren und zu bilden. Man
erwartet einen Philosophen, der die Naturkunde, die
Sternkunde, die Theologie, nach den Begriffen der
heutigen Zeiten erkennt, der die moralische Voll-
kommenheit des Menschen nach dem höchsten Jdeal
gebildet habe. Jst es seine Absicht gewesen, einen idea-
lischen Menschen zu schildern, so hat er sie schlecht er-
füllt. Hat er sich aber vorgesetzt die Griechen, als die
größten Helden zu schildern, den verschiedenen Stäm-
men derselben den Stolz einer edlen Herkunft einzuflös-
sen, ihren Nationalcharakter durch Erzählung der
wichtigsten Thaten ihrer Vorfahren, fester zu bilden;
hat er dieses nach den Begebenheiten, deren Anden-
[Spaltenumbruch]

Hor
ken noch nicht veraltert war, und nach den dama-
ligen Sitten gethan, so ist sehr zu zweifeln, daß
jemand zeigen werde, wie er es besser hätte thun
können.

Man erkennt an diesem Dichter noch deutliche
Spuhren von dem Charakter eines Barden. (*) Er hat(*) S.
Dichtkunst
auf der
254 S.

nichts von dem vorsichtigen Wesen eines gelernten
Künstlers. Er singt nicht, weil er ein Liebhaber der
Dichtkunst ist, sondern weil er einen öffentlichen Be-
ruf dazu hat, Thaten, die noch in frischem Andenken
waren, in dem Gedächtnis der Nation zu erhalten.
Daß schon ältere Werke der Dichtkunst vor ihm
vorhanden gewesen, nach denen er sein Model ge-
nommen, kann man nirgend merken; so sehr fließt
bey ihm der volle Strohm aus seiner eigenen Quelle,
ohne Spuhr einer künstlichen Veranstaltung.

Horaz.

Man würde sich einen zu niedrigen Begriff von
einem der größten Dichter des Alterthums machen,
wenn man sich einbildete, daß Horaz aus bloßer
Liebhaberey ein Dichter geworden, daß er, wie es
etwa in unsern Zeiten zu geschehen pflegt, seine Ju-
gend und sein reiferes Alter angewendet habe, poeti-
sche Gedanken und Bilder aufzusuchen, und Sylben
abzuzählen, um bey verschiedenen Gelegenheiten sei-
nen Mitbürgern etwas zu lesen zu geben, das ihnen
gefiele, und ihm den Ruhm eines witzigen Kopfs
erwürbe. Der Graf Shaftesbury hat richtig ange-
merkt, daß die alten und neuen Kunstrichter, die
diesen Dichter mit ihren Anmerkungen erläutert ha-
ben, uns den großen Mann in ihm gar nicht gezei-
get haben, der er würklich gewesen ist. Wenn man
nur das, was er selbst hier und da in seinen Ge-
dichten von seinen persönlichen Umständen und von
seinem Charakter einfließen läßt, zusammen nihmt,
so zeiget er sich in einem sehr vortheilhaften Lichte.

Er war der Sohn eines freygelassenen, vermuth-
lich griechischen, Mannes von Vermögen und recht-
schaffenem Wesen, der ihm eine gute Erziehung ge-
geben. Er drükt sich darüber an verschiedenen Or-
ten sehr deutlich aus; er schreibet es seinem Vater
zu, daß er ein redlicher und beliebter Mann ge-
worden:

-- purus et insons
-- fi et vivo carus amicis:
Causa fuit pater his.
(*)
(*) Sat. L.
6.

Sei-

[Spaltenumbruch]

Hom
ſchildert. Eben dieſes fuͤhlt man bey den Reden und
Handlungen, die er ſeinen Perſonen beylegt. Kein
unnuͤtzes, kein uͤberfluͤßiges Wort, keines, das nicht
geradezu den Zwek trift, keine, auch nicht die ge-
ringſte Handlung, die nicht den beſtimmteſten Cha-
rakter anzeiget. Was jeder ſpricht oder thut, ge-
ſchieht ſo, wie es ſich fuͤr ihn ſchiket. Sein Aus-
druk und ſein Vers ſind ſo, daß die Natur ſelbſt ſie
auf den Lippen des Dichters zur beſten Bezeichnung
der Sachen ſcheint gebildet zu haben.

Den Namen eines Vaters der Dichter verdienet
er fuͤrnehmlich dadurch, daß kaum eine Art des poe-
tiſchen Schwunges, oder der Herablaſſung zu der na-
tuͤrlichen Vorſtellung der Sachen; keine Wendung
der Gedanken; kein Theil der poetiſchen Kunſt iſt, da-
von er nicht Muſter gegeben. Der epiſche Dichter,
der dramatiſche, der lyriſche, und der Redner, koͤn-
nen ihr Genie an dem ſeinigen ſchaͤrfen. Dieſes
große poetiſche Genie wird uͤberall von Verſtand und
Weisheit geleitet, um auf das Zuverſichtlichſte auf
ſeinem Wege fortzuſchreiten. Er zeiget dem Ver-
ſtand nichts unerhebliches, nichts unuͤberlegtes; der
Einbildungskraft nichts kleines, nichts gekuͤnſteltes,
nichts ſubtiles; dem Gemuͤthe nichts unnatuͤrliches,
nichts uͤbertriebenes, nichts unbeſtimmtes. Darum
nennt ihn Horaz mit Recht den Mann,

Qui nil molitur inepte.

So hat das Alterthum faſt ohne Ausnahm von
dem Vater der Dichter geurtheilt. Jn den neuern
Zeiten hat man unzaͤhlige Dinge an ihm auszuſetzen
gefunden. Man hat ihn beſchuldiget, daß er ungeſit-
tet, unphiloſophiſch und unmoraliſch ſey. Man
ſcheinet aber bey dieſen Vorwuͤrfen vorauszuſetzen,
daß Homer die Abſicht gehabt habe, nach den abſtrak-
ten und gereinigten Begriffen der Philoſophie und Mo-
ral ſeine Zeitgenoſſen zu lehren und zu bilden. Man
erwartet einen Philoſophen, der die Naturkunde, die
Sternkunde, die Theologie, nach den Begriffen der
heutigen Zeiten erkennt, der die moraliſche Voll-
kommenheit des Menſchen nach dem hoͤchſten Jdeal
gebildet habe. Jſt es ſeine Abſicht geweſen, einen idea-
liſchen Menſchen zu ſchildern, ſo hat er ſie ſchlecht er-
fuͤllt. Hat er ſich aber vorgeſetzt die Griechen, als die
groͤßten Helden zu ſchildern, den verſchiedenen Staͤm-
men derſelben den Stolz einer edlen Herkunft einzufloͤſ-
ſen, ihren Nationalcharakter durch Erzaͤhlung der
wichtigſten Thaten ihrer Vorfahren, feſter zu bilden;
hat er dieſes nach den Begebenheiten, deren Anden-
[Spaltenumbruch]

Hor
ken noch nicht veraltert war, und nach den dama-
ligen Sitten gethan, ſo iſt ſehr zu zweifeln, daß
jemand zeigen werde, wie er es beſſer haͤtte thun
koͤnnen.

Man erkennt an dieſem Dichter noch deutliche
Spuhren von dem Charakter eines Barden. (*) Er hat(*) S.
Dichtkunſt
auf der
254 S.

nichts von dem vorſichtigen Weſen eines gelernten
Kuͤnſtlers. Er ſingt nicht, weil er ein Liebhaber der
Dichtkunſt iſt, ſondern weil er einen oͤffentlichen Be-
ruf dazu hat, Thaten, die noch in friſchem Andenken
waren, in dem Gedaͤchtnis der Nation zu erhalten.
Daß ſchon aͤltere Werke der Dichtkunſt vor ihm
vorhanden geweſen, nach denen er ſein Model ge-
nommen, kann man nirgend merken; ſo ſehr fließt
bey ihm der volle Strohm aus ſeiner eigenen Quelle,
ohne Spuhr einer kuͤnſtlichen Veranſtaltung.

Horaz.

Man wuͤrde ſich einen zu niedrigen Begriff von
einem der groͤßten Dichter des Alterthums machen,
wenn man ſich einbildete, daß Horaz aus bloßer
Liebhaberey ein Dichter geworden, daß er, wie es
etwa in unſern Zeiten zu geſchehen pflegt, ſeine Ju-
gend und ſein reiferes Alter angewendet habe, poeti-
ſche Gedanken und Bilder aufzuſuchen, und Sylben
abzuzaͤhlen, um bey verſchiedenen Gelegenheiten ſei-
nen Mitbuͤrgern etwas zu leſen zu geben, das ihnen
gefiele, und ihm den Ruhm eines witzigen Kopfs
erwuͤrbe. Der Graf Shaftesbury hat richtig ange-
merkt, daß die alten und neuen Kunſtrichter, die
dieſen Dichter mit ihren Anmerkungen erlaͤutert ha-
ben, uns den großen Mann in ihm gar nicht gezei-
get haben, der er wuͤrklich geweſen iſt. Wenn man
nur das, was er ſelbſt hier und da in ſeinen Ge-
dichten von ſeinen perſoͤnlichen Umſtaͤnden und von
ſeinem Charakter einfließen laͤßt, zuſammen nihmt,
ſo zeiget er ſich in einem ſehr vortheilhaften Lichte.

Er war der Sohn eines freygelaſſenen, vermuth-
lich griechiſchen, Mannes von Vermoͤgen und recht-
ſchaffenem Weſen, der ihm eine gute Erziehung ge-
geben. Er druͤkt ſich daruͤber an verſchiedenen Or-
ten ſehr deutlich aus; er ſchreibet es ſeinem Vater
zu, daß er ein redlicher und beliebter Mann ge-
worden:

purus et inſons
— fi et vivo carus amicis:
Cauſa fuit pater his.
(*)
(*) Sat. L.
6.

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[548/0560] Hom Hor ſchildert. Eben dieſes fuͤhlt man bey den Reden und Handlungen, die er ſeinen Perſonen beylegt. Kein unnuͤtzes, kein uͤberfluͤßiges Wort, keines, das nicht geradezu den Zwek trift, keine, auch nicht die ge- ringſte Handlung, die nicht den beſtimmteſten Cha- rakter anzeiget. Was jeder ſpricht oder thut, ge- ſchieht ſo, wie es ſich fuͤr ihn ſchiket. Sein Aus- druk und ſein Vers ſind ſo, daß die Natur ſelbſt ſie auf den Lippen des Dichters zur beſten Bezeichnung der Sachen ſcheint gebildet zu haben. Den Namen eines Vaters der Dichter verdienet er fuͤrnehmlich dadurch, daß kaum eine Art des poe- tiſchen Schwunges, oder der Herablaſſung zu der na- tuͤrlichen Vorſtellung der Sachen; keine Wendung der Gedanken; kein Theil der poetiſchen Kunſt iſt, da- von er nicht Muſter gegeben. Der epiſche Dichter, der dramatiſche, der lyriſche, und der Redner, koͤn- nen ihr Genie an dem ſeinigen ſchaͤrfen. Dieſes große poetiſche Genie wird uͤberall von Verſtand und Weisheit geleitet, um auf das Zuverſichtlichſte auf ſeinem Wege fortzuſchreiten. Er zeiget dem Ver- ſtand nichts unerhebliches, nichts unuͤberlegtes; der Einbildungskraft nichts kleines, nichts gekuͤnſteltes, nichts ſubtiles; dem Gemuͤthe nichts unnatuͤrliches, nichts uͤbertriebenes, nichts unbeſtimmtes. Darum nennt ihn Horaz mit Recht den Mann, — Qui nil molitur inepte. So hat das Alterthum faſt ohne Ausnahm von dem Vater der Dichter geurtheilt. Jn den neuern Zeiten hat man unzaͤhlige Dinge an ihm auszuſetzen gefunden. Man hat ihn beſchuldiget, daß er ungeſit- tet, unphiloſophiſch und unmoraliſch ſey. Man ſcheinet aber bey dieſen Vorwuͤrfen vorauszuſetzen, daß Homer die Abſicht gehabt habe, nach den abſtrak- ten und gereinigten Begriffen der Philoſophie und Mo- ral ſeine Zeitgenoſſen zu lehren und zu bilden. Man erwartet einen Philoſophen, der die Naturkunde, die Sternkunde, die Theologie, nach den Begriffen der heutigen Zeiten erkennt, der die moraliſche Voll- kommenheit des Menſchen nach dem hoͤchſten Jdeal gebildet habe. Jſt es ſeine Abſicht geweſen, einen idea- liſchen Menſchen zu ſchildern, ſo hat er ſie ſchlecht er- fuͤllt. Hat er ſich aber vorgeſetzt die Griechen, als die groͤßten Helden zu ſchildern, den verſchiedenen Staͤm- men derſelben den Stolz einer edlen Herkunft einzufloͤſ- ſen, ihren Nationalcharakter durch Erzaͤhlung der wichtigſten Thaten ihrer Vorfahren, feſter zu bilden; hat er dieſes nach den Begebenheiten, deren Anden- ken noch nicht veraltert war, und nach den dama- ligen Sitten gethan, ſo iſt ſehr zu zweifeln, daß jemand zeigen werde, wie er es beſſer haͤtte thun koͤnnen. Man erkennt an dieſem Dichter noch deutliche Spuhren von dem Charakter eines Barden. (*) Er hat nichts von dem vorſichtigen Weſen eines gelernten Kuͤnſtlers. Er ſingt nicht, weil er ein Liebhaber der Dichtkunſt iſt, ſondern weil er einen oͤffentlichen Be- ruf dazu hat, Thaten, die noch in friſchem Andenken waren, in dem Gedaͤchtnis der Nation zu erhalten. Daß ſchon aͤltere Werke der Dichtkunſt vor ihm vorhanden geweſen, nach denen er ſein Model ge- nommen, kann man nirgend merken; ſo ſehr fließt bey ihm der volle Strohm aus ſeiner eigenen Quelle, ohne Spuhr einer kuͤnſtlichen Veranſtaltung. (*) S. Dichtkunſt auf der 254 S. Horaz. Man wuͤrde ſich einen zu niedrigen Begriff von einem der groͤßten Dichter des Alterthums machen, wenn man ſich einbildete, daß Horaz aus bloßer Liebhaberey ein Dichter geworden, daß er, wie es etwa in unſern Zeiten zu geſchehen pflegt, ſeine Ju- gend und ſein reiferes Alter angewendet habe, poeti- ſche Gedanken und Bilder aufzuſuchen, und Sylben abzuzaͤhlen, um bey verſchiedenen Gelegenheiten ſei- nen Mitbuͤrgern etwas zu leſen zu geben, das ihnen gefiele, und ihm den Ruhm eines witzigen Kopfs erwuͤrbe. Der Graf Shaftesbury hat richtig ange- merkt, daß die alten und neuen Kunſtrichter, die dieſen Dichter mit ihren Anmerkungen erlaͤutert ha- ben, uns den großen Mann in ihm gar nicht gezei- get haben, der er wuͤrklich geweſen iſt. Wenn man nur das, was er ſelbſt hier und da in ſeinen Ge- dichten von ſeinen perſoͤnlichen Umſtaͤnden und von ſeinem Charakter einfließen laͤßt, zuſammen nihmt, ſo zeiget er ſich in einem ſehr vortheilhaften Lichte. Er war der Sohn eines freygelaſſenen, vermuth- lich griechiſchen, Mannes von Vermoͤgen und recht- ſchaffenem Weſen, der ihm eine gute Erziehung ge- geben. Er druͤkt ſich daruͤber an verſchiedenen Or- ten ſehr deutlich aus; er ſchreibet es ſeinem Vater zu, daß er ein redlicher und beliebter Mann ge- worden: — purus et inſons — fi et vivo carus amicis: Cauſa fuit pater his. (*) Sei-

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 548. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/560>, abgerufen am 25.04.2024.