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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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His
anzufüllen; der große Mahler, sucht die kleineste
Anzahl Personen, die nur möglich ist, weil er an
einer einzigen Person viel auszudrüken hat. Der
Dichter braucht oft zum Ausdruk des höchsten Affekts,
die wenigsten Worte, und so kann der Mahler eine
an Empfindung sehr reiche Scene durch die wenig-
sten Umstände vorstellen.

Man hat alte Münzen, auf denen römische Kay-
ser vorgestellt sind, die von dem Rednerstuhl eine
Anrede an ihr Heer halten. Das ganze Heer
wird ofte durch wenig Befehlshaber vorgestellt;
denn wozu nützte es ein ganzes Heer vorzustellen?
Gesezt, daß der Mahler historisch vorstellen wollte,
wie Cäsar, nachdem er über den Rubicon gegangen,
seinem Heere Muth zu machen, eine Anrede an das-
selbe gehalten. Wenn nun seine Absicht dabey nicht
ist, diese Handlung des Gepränges wegen vorzustel-
len, oder uns diese Scene ganz übersehen zu lassen,
sondern nur die zuversichtliche Kühnheit des Feldherrn,
und die Würkung derselben auf seine Unterbefehlsha-
ber, so vergeben wirs ihm gar gerne, daß er uns
nur wenig Personen in der Nähe des Redners vor-
stellt, und das ganze Heer etwas in der Entfernung
nur andeutet, oder gar durch etwas Hervorstehendes
bedeket. Der Mahler muß es sich zur Hauptregel
machen, nur das Nothwendige in sein Gemählde
zu bringen.

Nachdem der Jnhalt, die Scene, die Personen
und die Bezeichnung der Sachen völlig berichtiget
sind, hat nun der Künstler an das Wesentliche, näm-
lich den wahren Ausdruk der Sachen zu denken, um
dessentwillen alles andre veranstaltet worden. Da
muß er vor allen Dingen sich selbst erforschen, was
er in seiner Geschichte fühlt, was ihn an den Per-
sonen, die er in der Phantasie schon vor sich sieht,
rühret: und dieses muß er uns so lebhaft vorstellen
können, daß wir in dieselben Empfindungen gera-
then, die er in sich wahrnihmt. Er kann aber im-
mer voraussetzen, daß das Gemählde, welches er
auf die Leinwand bringt, nie so lebhaft seyn werde,
als es würklich in seiner Phantasie liegt; denn auch
der geschikteste Künstler wird selten alles ausdrüken
können, was er innerlich sieht. Darum kann er
nicht erwarten, daß die, für welche er arbeitet, eben
so stark von seiner Arbeit werden gerührt werden,
als er selbst von der Vorstellung derselben gerührt
ist: und dieses muß ihm die Klugheit geben, nichts
zu bearbeiten, bis er eine Vorstellung davon ent-
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His
worfen hat, deren Würkung noch immer intres-
sant bleibet, wenn sie auch noch etwas geschwächt
würde. Nach einer guten und glüklichen Erfindung
des Gemähldes ist nichts so wichtig, als der redende
Ausdruk der Figuren. Nur das Gemähld ist voll-
kommen, in dem jede Figur durch ihre Stellung,
Gebehrdung und Gesichtsbildung wahrhaftig redend
ist, und uns sogleich das, was in ihrem innern vor-
geht, entdeken läßt.

Man siehet hieraus, wie höchst schweer es sey
ein vollkommenes historisches Gemählde zu machen.
Der Historienmahler muß nicht blos, wie ein an-
drer Mahler eine reiche und mit allen Annehmlich-
keiten erfüllte Phantasie besitzen, nicht blos Zeich-
nung, Colorit und alles, was zur Ausführung ge-
hört, in seiner Gewalt haben. Durch diese Talente
würde er wol in Stand gesetzt natürliche Vorstellun-
gen zu machen; aber die innere Kraft des histori-
schen Gemähldes erreicht er dadurch nicht. Wir
wollen nicht Menschen sehen, wie wir sie täglich zu
sehen gewohnt sind; nicht sittliche Gegenstände, wie
sie uns immer vor Augen kommen, und die des-
wegen nicht mehr intressiren. Wir erwarten Sa-
chen von ihm, die unsren Verstandes und Gemüths-
kräften einen stärkern Schwung geben. Er soll uns
mit Menschen bekannt machen, die wir ihres Cha-
rakters halber bewundern, oder die uns wenigstens
sehr intressant sind. Darum muß er, so wie der
Dichter, ein Mann von großem Verstand, und von
vorzüglichen Gemüthskräften seyn. Denn, was er
selbst nicht zu fühlen im Stand ist, wird er gewiß
uns nicht empfinden machen. Er muß ein Philo-
soph seyn, der gewohnt ist, das Genie und die Cha-
raktere des Menschen zu erforschen, ihre Urtheile,
Gesinnungen und Leidenschaften gegen einander ab-
zuwiegen. Jhm müssen Menschen von höherm Geist,
und überwiegenden Seelenkräften bekannt seyn, und
ihre Stärke muß er können empfindbar machen.
Wer nicht zuversichtlich empfindet, daß er das Große
und Kleine in der Gemüthsart der Menschen und in
ihrer Art zu handeln zu beurtheilen vermag, der
muß sich nicht mit dieser Gattung der Mahle-
rey abgeben.

Nihmt er seinen Jnhalt aus entfernten Geschich-
ten und aus fremden Ländern, so muß er eine ge-
naue Kenntnis der Sitten und der Gebräuche des
Landes haben, dahin er seine Scene versetzt, damit
er, wie oben an einem Beyspiele gezeiget worden,

alles

[Spaltenumbruch]

Hiſ
anzufuͤllen; der große Mahler, ſucht die kleineſte
Anzahl Perſonen, die nur moͤglich iſt, weil er an
einer einzigen Perſon viel auszudruͤken hat. Der
Dichter braucht oft zum Ausdruk des hoͤchſten Affekts,
die wenigſten Worte, und ſo kann der Mahler eine
an Empfindung ſehr reiche Scene durch die wenig-
ſten Umſtaͤnde vorſtellen.

Man hat alte Muͤnzen, auf denen roͤmiſche Kay-
ſer vorgeſtellt ſind, die von dem Rednerſtuhl eine
Anrede an ihr Heer halten. Das ganze Heer
wird ofte durch wenig Befehlshaber vorgeſtellt;
denn wozu nuͤtzte es ein ganzes Heer vorzuſtellen?
Geſezt, daß der Mahler hiſtoriſch vorſtellen wollte,
wie Caͤſar, nachdem er uͤber den Rubicon gegangen,
ſeinem Heere Muth zu machen, eine Anrede an daſ-
ſelbe gehalten. Wenn nun ſeine Abſicht dabey nicht
iſt, dieſe Handlung des Gepraͤnges wegen vorzuſtel-
len, oder uns dieſe Scene ganz uͤberſehen zu laſſen,
ſondern nur die zuverſichtliche Kuͤhnheit des Feldherrn,
und die Wuͤrkung derſelben auf ſeine Unterbefehlsha-
ber, ſo vergeben wirs ihm gar gerne, daß er uns
nur wenig Perſonen in der Naͤhe des Redners vor-
ſtellt, und das ganze Heer etwas in der Entfernung
nur andeutet, oder gar durch etwas Hervorſtehendes
bedeket. Der Mahler muß es ſich zur Hauptregel
machen, nur das Nothwendige in ſein Gemaͤhlde
zu bringen.

Nachdem der Jnhalt, die Scene, die Perſonen
und die Bezeichnung der Sachen voͤllig berichtiget
ſind, hat nun der Kuͤnſtler an das Weſentliche, naͤm-
lich den wahren Ausdruk der Sachen zu denken, um
deſſentwillen alles andre veranſtaltet worden. Da
muß er vor allen Dingen ſich ſelbſt erforſchen, was
er in ſeiner Geſchichte fuͤhlt, was ihn an den Per-
ſonen, die er in der Phantaſie ſchon vor ſich ſieht,
ruͤhret: und dieſes muß er uns ſo lebhaft vorſtellen
koͤnnen, daß wir in dieſelben Empfindungen gera-
then, die er in ſich wahrnihmt. Er kann aber im-
mer vorausſetzen, daß das Gemaͤhlde, welches er
auf die Leinwand bringt, nie ſo lebhaft ſeyn werde,
als es wuͤrklich in ſeiner Phantaſie liegt; denn auch
der geſchikteſte Kuͤnſtler wird ſelten alles ausdruͤken
koͤnnen, was er innerlich ſieht. Darum kann er
nicht erwarten, daß die, fuͤr welche er arbeitet, eben
ſo ſtark von ſeiner Arbeit werden geruͤhrt werden,
als er ſelbſt von der Vorſtellung derſelben geruͤhrt
iſt: und dieſes muß ihm die Klugheit geben, nichts
zu bearbeiten, bis er eine Vorſtellung davon ent-
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Hiſ
worfen hat, deren Wuͤrkung noch immer intreſ-
ſant bleibet, wenn ſie auch noch etwas geſchwaͤcht
wuͤrde. Nach einer guten und gluͤklichen Erfindung
des Gemaͤhldes iſt nichts ſo wichtig, als der redende
Ausdruk der Figuren. Nur das Gemaͤhld iſt voll-
kommen, in dem jede Figur durch ihre Stellung,
Gebehrdung und Geſichtsbildung wahrhaftig redend
iſt, und uns ſogleich das, was in ihrem innern vor-
geht, entdeken laͤßt.

Man ſiehet hieraus, wie hoͤchſt ſchweer es ſey
ein vollkommenes hiſtoriſches Gemaͤhlde zu machen.
Der Hiſtorienmahler muß nicht blos, wie ein an-
drer Mahler eine reiche und mit allen Annehmlich-
keiten erfuͤllte Phantaſie beſitzen, nicht blos Zeich-
nung, Colorit und alles, was zur Ausfuͤhrung ge-
hoͤrt, in ſeiner Gewalt haben. Durch dieſe Talente
wuͤrde er wol in Stand geſetzt natuͤrliche Vorſtellun-
gen zu machen; aber die innere Kraft des hiſtori-
ſchen Gemaͤhldes erreicht er dadurch nicht. Wir
wollen nicht Menſchen ſehen, wie wir ſie taͤglich zu
ſehen gewohnt ſind; nicht ſittliche Gegenſtaͤnde, wie
ſie uns immer vor Augen kommen, und die des-
wegen nicht mehr intreſſiren. Wir erwarten Sa-
chen von ihm, die unſren Verſtandes und Gemuͤths-
kraͤften einen ſtaͤrkern Schwung geben. Er ſoll uns
mit Menſchen bekannt machen, die wir ihres Cha-
rakters halber bewundern, oder die uns wenigſtens
ſehr intreſſant ſind. Darum muß er, ſo wie der
Dichter, ein Mann von großem Verſtand, und von
vorzuͤglichen Gemuͤthskraͤften ſeyn. Denn, was er
ſelbſt nicht zu fuͤhlen im Stand iſt, wird er gewiß
uns nicht empfinden machen. Er muß ein Philo-
ſoph ſeyn, der gewohnt iſt, das Genie und die Cha-
raktere des Menſchen zu erforſchen, ihre Urtheile,
Geſinnungen und Leidenſchaften gegen einander ab-
zuwiegen. Jhm muͤſſen Menſchen von hoͤherm Geiſt,
und uͤberwiegenden Seelenkraͤften bekannt ſeyn, und
ihre Staͤrke muß er koͤnnen empfindbar machen.
Wer nicht zuverſichtlich empfindet, daß er das Große
und Kleine in der Gemuͤthsart der Menſchen und in
ihrer Art zu handeln zu beurtheilen vermag, der
muß ſich nicht mit dieſer Gattung der Mahle-
rey abgeben.

Nihmt er ſeinen Jnhalt aus entfernten Geſchich-
ten und aus fremden Laͤndern, ſo muß er eine ge-
naue Kenntnis der Sitten und der Gebraͤuche des
Landes haben, dahin er ſeine Scene verſetzt, damit
er, wie oben an einem Beyſpiele gezeiget worden,

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[544/0556] Hiſ Hiſ anzufuͤllen; der große Mahler, ſucht die kleineſte Anzahl Perſonen, die nur moͤglich iſt, weil er an einer einzigen Perſon viel auszudruͤken hat. Der Dichter braucht oft zum Ausdruk des hoͤchſten Affekts, die wenigſten Worte, und ſo kann der Mahler eine an Empfindung ſehr reiche Scene durch die wenig- ſten Umſtaͤnde vorſtellen. Man hat alte Muͤnzen, auf denen roͤmiſche Kay- ſer vorgeſtellt ſind, die von dem Rednerſtuhl eine Anrede an ihr Heer halten. Das ganze Heer wird ofte durch wenig Befehlshaber vorgeſtellt; denn wozu nuͤtzte es ein ganzes Heer vorzuſtellen? Geſezt, daß der Mahler hiſtoriſch vorſtellen wollte, wie Caͤſar, nachdem er uͤber den Rubicon gegangen, ſeinem Heere Muth zu machen, eine Anrede an daſ- ſelbe gehalten. Wenn nun ſeine Abſicht dabey nicht iſt, dieſe Handlung des Gepraͤnges wegen vorzuſtel- len, oder uns dieſe Scene ganz uͤberſehen zu laſſen, ſondern nur die zuverſichtliche Kuͤhnheit des Feldherrn, und die Wuͤrkung derſelben auf ſeine Unterbefehlsha- ber, ſo vergeben wirs ihm gar gerne, daß er uns nur wenig Perſonen in der Naͤhe des Redners vor- ſtellt, und das ganze Heer etwas in der Entfernung nur andeutet, oder gar durch etwas Hervorſtehendes bedeket. Der Mahler muß es ſich zur Hauptregel machen, nur das Nothwendige in ſein Gemaͤhlde zu bringen. Nachdem der Jnhalt, die Scene, die Perſonen und die Bezeichnung der Sachen voͤllig berichtiget ſind, hat nun der Kuͤnſtler an das Weſentliche, naͤm- lich den wahren Ausdruk der Sachen zu denken, um deſſentwillen alles andre veranſtaltet worden. Da muß er vor allen Dingen ſich ſelbſt erforſchen, was er in ſeiner Geſchichte fuͤhlt, was ihn an den Per- ſonen, die er in der Phantaſie ſchon vor ſich ſieht, ruͤhret: und dieſes muß er uns ſo lebhaft vorſtellen koͤnnen, daß wir in dieſelben Empfindungen gera- then, die er in ſich wahrnihmt. Er kann aber im- mer vorausſetzen, daß das Gemaͤhlde, welches er auf die Leinwand bringt, nie ſo lebhaft ſeyn werde, als es wuͤrklich in ſeiner Phantaſie liegt; denn auch der geſchikteſte Kuͤnſtler wird ſelten alles ausdruͤken koͤnnen, was er innerlich ſieht. Darum kann er nicht erwarten, daß die, fuͤr welche er arbeitet, eben ſo ſtark von ſeiner Arbeit werden geruͤhrt werden, als er ſelbſt von der Vorſtellung derſelben geruͤhrt iſt: und dieſes muß ihm die Klugheit geben, nichts zu bearbeiten, bis er eine Vorſtellung davon ent- worfen hat, deren Wuͤrkung noch immer intreſ- ſant bleibet, wenn ſie auch noch etwas geſchwaͤcht wuͤrde. Nach einer guten und gluͤklichen Erfindung des Gemaͤhldes iſt nichts ſo wichtig, als der redende Ausdruk der Figuren. Nur das Gemaͤhld iſt voll- kommen, in dem jede Figur durch ihre Stellung, Gebehrdung und Geſichtsbildung wahrhaftig redend iſt, und uns ſogleich das, was in ihrem innern vor- geht, entdeken laͤßt. Man ſiehet hieraus, wie hoͤchſt ſchweer es ſey ein vollkommenes hiſtoriſches Gemaͤhlde zu machen. Der Hiſtorienmahler muß nicht blos, wie ein an- drer Mahler eine reiche und mit allen Annehmlich- keiten erfuͤllte Phantaſie beſitzen, nicht blos Zeich- nung, Colorit und alles, was zur Ausfuͤhrung ge- hoͤrt, in ſeiner Gewalt haben. Durch dieſe Talente wuͤrde er wol in Stand geſetzt natuͤrliche Vorſtellun- gen zu machen; aber die innere Kraft des hiſtori- ſchen Gemaͤhldes erreicht er dadurch nicht. Wir wollen nicht Menſchen ſehen, wie wir ſie taͤglich zu ſehen gewohnt ſind; nicht ſittliche Gegenſtaͤnde, wie ſie uns immer vor Augen kommen, und die des- wegen nicht mehr intreſſiren. Wir erwarten Sa- chen von ihm, die unſren Verſtandes und Gemuͤths- kraͤften einen ſtaͤrkern Schwung geben. Er ſoll uns mit Menſchen bekannt machen, die wir ihres Cha- rakters halber bewundern, oder die uns wenigſtens ſehr intreſſant ſind. Darum muß er, ſo wie der Dichter, ein Mann von großem Verſtand, und von vorzuͤglichen Gemuͤthskraͤften ſeyn. Denn, was er ſelbſt nicht zu fuͤhlen im Stand iſt, wird er gewiß uns nicht empfinden machen. Er muß ein Philo- ſoph ſeyn, der gewohnt iſt, das Genie und die Cha- raktere des Menſchen zu erforſchen, ihre Urtheile, Geſinnungen und Leidenſchaften gegen einander ab- zuwiegen. Jhm muͤſſen Menſchen von hoͤherm Geiſt, und uͤberwiegenden Seelenkraͤften bekannt ſeyn, und ihre Staͤrke muß er koͤnnen empfindbar machen. Wer nicht zuverſichtlich empfindet, daß er das Große und Kleine in der Gemuͤthsart der Menſchen und in ihrer Art zu handeln zu beurtheilen vermag, der muß ſich nicht mit dieſer Gattung der Mahle- rey abgeben. Nihmt er ſeinen Jnhalt aus entfernten Geſchich- ten und aus fremden Laͤndern, ſo muß er eine ge- naue Kenntnis der Sitten und der Gebraͤuche des Landes haben, dahin er ſeine Scene verſetzt, damit er, wie oben an einem Beyſpiele gezeiget worden, alles

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 544. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/556>, abgerufen am 26.04.2024.