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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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All
Art, deren Kunst etwas näher entwikelt zu werden
verdienet. Die allegorische Vorstellung einer Be-
gebenheit hat eigentlich nichts erzählendes; denn
sie stellt nicht so wol die Begebenheit, als eine wich-
tige viel sagende Anmerkung über dieselbe vor, der-
gleichen etwa große Geschichtschreiber machen, da
sie eine Begebenheit in einem besonders merkwür-
digen Gesichtspunkt vorstellen, wie es Tacitus oft
thut, als: breves et infaustos populi romani amo-
(*) Tac.
Annal. II.

42.
res. (*) Jhr Endzwek geht nicht auf die ueberlie-
ferung der Geschichte, dieses kann auf eine leichtere
und bessere Art geschehen; sondern auf die Darstel-
lung derselben in einem sehr lebhaften Gesichtspunkte.
Dieses Geschäfft ist für den Geschichtschreiber schon
sehr schweer, für den Mahler ist es ein Gipfel der
Kunst, den die größten Meister selten glüklich errei-
chen. Die Geschichte, welche dabey zum Grunde
gelegt wird, muß sehr bekannt, zugleich aber ent-
weder in ihren Absichten, oder in ihren Umständen,
oder in ihren Folgen, etwas allgemein merkwürdi-
ges haben. Dieses Allgemeine macht eigentlich
das Wesen der Allegorie aus.

Jn der Gallerie von Düsseldorf ist ein Gemählde
von Raphael, das einen Jüngling in dikem Ge-
büsche an einer Quelle sitzend vorstellt, aus welcher
er Wasser geschöpft, das er in einer Schaale vor
sich hält. So weit ist dieses Stük blos historisch,
und mehr kann ein gemeiner Mahler auch mit Ti-
tians
Pinsel nicht ausdrüken. Aber Raphael
wußte in dieser einzelnen Figur hohe Gedanken, ein
so erhabenes Nachdenken über eine Schaale voll
Wasser auszudrüken, daß man in dem Jüngling
Johannes den Täufer erkennt, der in der Wüste
seinen göttlichen Beruf überdenkt, und itzt glaubt
man, seine erhabene Gedanken über die Taufe selbst
zu empfinden. Dieses gränzet nun schon an die
hohe Allegorie. Wer nur Körper mahlen kann,
muß sich daran nicht wagen. Wenn er auch für
jeden einzeln Begriff ein noch so richtiges Bild
hätte, so würde der doch nur eine leserliche Hie-
roglyphe, aber keine Allegorie darstellen. Diese
muß uns nicht den Buchstaben der Geschichte, son-
dern ihren Geist geben.

Darauf kommt es also zuerst an, daß der Künst-
ler in dem Körper der Begebenheit, die er allego-
risch vorstellen will, eine Seele entdeke, und denn,
daß er das unsichtbare Wesen derselben sichtbar ma-
che. So müßte uns ein allegorisches Gemählde
[Spaltenumbruch]

All
von Alexanders Eroberungen des persischen Reichs,
nicht Schlachten und Feldzüge, sondern entweder
edle Rachgier, die, von einem übermüthigen Fürsten,
an einem freyen Volke verübte Gewaltthätigkeit, zu
rächen; oder ausschweifende Herrschsucht mit allen
ihren übeln Folgen, wenn sie einem schon mächtigen
Fürsten von großem Verstande beywohnet; oder etwas
dergleichen vorstellen, das uns gleich in einen Gesichts-
punkt stellt, aus welchem wir die Sache im Ganzen
übersehen können. Hat der Künstler die Seele sei-
ner Geschichte erst entdeket, so wird es ihm nicht
sehr schweer werden, das besondere, wodurch die
Begebenheit angezeiget werden kann, zu erfinden.
Personen, Zeiten, Oerter lassen sich endlich ohne
Namen und Schrift noch wol kenntlich machen.

Wenn es wahr ist, was uns die Alten von
dem Mahler Aristides sagen, daß er in einem
einzigen Bilde den aus widersprechenden Zügen zu-
sammen gesetzten Charakter des atheniensischen
Volks richtig ausgedrükt habe; so dürfen wir hof-
fen, daß uns einmal die Kunst allegorische Ge-
mählde, wie etwa die folgenden dem Jnhalte nach
wären, liefern möchte. Die Verbesserung der
Sitten durch die Wiederherstellung der Wissen-
schaften; das große Werk der Kirchenverbesserung
in seinen wichtigsten Folgen oder in seinen Ursachen;
die Entdekung der neuen Welt durch den Colum-
bus in einigen der wichtigsten Würkungen dersel-
ben. Dergleichen Vorstellungen sind nicht ge-
mahlte Erzählungen, wie so viel halb allegorische
und halb historische Gemählde, sondern Vorstellun-
gen von der Natur oder von der Würkung gewisser
Handlungen. So viel war hier über die Beschaf-
fenheit der Allegorie, über ihre Arten und über
den Werth derselben zu sagen. Folgende Anmer-
kungen beziehen sich auf die Erfindung und auf den
Gebrauch derselben.

Die Vollkommenheit der Allegorie hängt größ-
tentheils von der glüklichen Erfindung einzeler al-
legorischer Bilder ab. Eine Sammlung der besten
schon vorhandenen Bilder mit genauer Beurthei-
lung ihres Werths würde den Künstlern diesen so
wichtigen Theil der Kunst sehr erleichtern. Win-
kelmann
hat einen Anfang dazu gemacht; aber
es fehlt noch immer an der Entwiklung einleuch-
tender Grundsätze zu Erfindung der Bilder. Für
denjenigen, der auf diesem Pfad gründlichen Ruhm

zu

[Spaltenumbruch]

All
Art, deren Kunſt etwas naͤher entwikelt zu werden
verdienet. Die allegoriſche Vorſtellung einer Be-
gebenheit hat eigentlich nichts erzaͤhlendes; denn
ſie ſtellt nicht ſo wol die Begebenheit, als eine wich-
tige viel ſagende Anmerkung uͤber dieſelbe vor, der-
gleichen etwa große Geſchichtſchreiber machen, da
ſie eine Begebenheit in einem beſonders merkwuͤr-
digen Geſichtspunkt vorſtellen, wie es Tacitus oft
thut, als: breves et infauſtos populi romani amo-
(*) Tac.
Annal. II.

42.
res. (*) Jhr Endzwek geht nicht auf die ueberlie-
ferung der Geſchichte, dieſes kann auf eine leichtere
und beſſere Art geſchehen; ſondern auf die Darſtel-
lung derſelben in einem ſehr lebhaften Geſichtspunkte.
Dieſes Geſchaͤfft iſt fuͤr den Geſchichtſchreiber ſchon
ſehr ſchweer, fuͤr den Mahler iſt es ein Gipfel der
Kunſt, den die groͤßten Meiſter ſelten gluͤklich errei-
chen. Die Geſchichte, welche dabey zum Grunde
gelegt wird, muß ſehr bekannt, zugleich aber ent-
weder in ihren Abſichten, oder in ihren Umſtaͤnden,
oder in ihren Folgen, etwas allgemein merkwuͤrdi-
ges haben. Dieſes Allgemeine macht eigentlich
das Weſen der Allegorie aus.

Jn der Gallerie von Duͤſſeldorf iſt ein Gemaͤhlde
von Raphael, das einen Juͤngling in dikem Ge-
buͤſche an einer Quelle ſitzend vorſtellt, aus welcher
er Waſſer geſchoͤpft, das er in einer Schaale vor
ſich haͤlt. So weit iſt dieſes Stuͤk blos hiſtoriſch,
und mehr kann ein gemeiner Mahler auch mit Ti-
tians
Pinſel nicht ausdruͤken. Aber Raphael
wußte in dieſer einzelnen Figur hohe Gedanken, ein
ſo erhabenes Nachdenken uͤber eine Schaale voll
Waſſer auszudruͤken, daß man in dem Juͤngling
Johannes den Taͤufer erkennt, der in der Wuͤſte
ſeinen goͤttlichen Beruf uͤberdenkt, und itzt glaubt
man, ſeine erhabene Gedanken uͤber die Taufe ſelbſt
zu empfinden. Dieſes graͤnzet nun ſchon an die
hohe Allegorie. Wer nur Koͤrper mahlen kann,
muß ſich daran nicht wagen. Wenn er auch fuͤr
jeden einzeln Begriff ein noch ſo richtiges Bild
haͤtte, ſo wuͤrde der doch nur eine leſerliche Hie-
roglyphe, aber keine Allegorie darſtellen. Dieſe
muß uns nicht den Buchſtaben der Geſchichte, ſon-
dern ihren Geiſt geben.

Darauf kommt es alſo zuerſt an, daß der Kuͤnſt-
ler in dem Koͤrper der Begebenheit, die er allego-
riſch vorſtellen will, eine Seele entdeke, und denn,
daß er das unſichtbare Weſen derſelben ſichtbar ma-
che. So muͤßte uns ein allegoriſches Gemaͤhlde
[Spaltenumbruch]

All
von Alexanders Eroberungen des perſiſchen Reichs,
nicht Schlachten und Feldzuͤge, ſondern entweder
edle Rachgier, die, von einem uͤbermuͤthigen Fuͤrſten,
an einem freyen Volke veruͤbte Gewaltthaͤtigkeit, zu
raͤchen; oder ausſchweifende Herrſchſucht mit allen
ihren uͤbeln Folgen, wenn ſie einem ſchon maͤchtigen
Fuͤrſten von großem Verſtande beywohnet; oder etwas
dergleichen vorſtellen, das uns gleich in einen Geſichts-
punkt ſtellt, aus welchem wir die Sache im Ganzen
uͤberſehen koͤnnen. Hat der Kuͤnſtler die Seele ſei-
ner Geſchichte erſt entdeket, ſo wird es ihm nicht
ſehr ſchweer werden, das beſondere, wodurch die
Begebenheit angezeiget werden kann, zu erfinden.
Perſonen, Zeiten, Oerter laſſen ſich endlich ohne
Namen und Schrift noch wol kenntlich machen.

Wenn es wahr iſt, was uns die Alten von
dem Mahler Ariſtides ſagen, daß er in einem
einzigen Bilde den aus widerſprechenden Zuͤgen zu-
ſammen geſetzten Charakter des athenienſiſchen
Volks richtig ausgedruͤkt habe; ſo duͤrfen wir hof-
fen, daß uns einmal die Kunſt allegoriſche Ge-
maͤhlde, wie etwa die folgenden dem Jnhalte nach
waͤren, liefern moͤchte. Die Verbeſſerung der
Sitten durch die Wiederherſtellung der Wiſſen-
ſchaften; das große Werk der Kirchenverbeſſerung
in ſeinen wichtigſten Folgen oder in ſeinen Urſachen;
die Entdekung der neuen Welt durch den Colum-
bus in einigen der wichtigſten Wuͤrkungen derſel-
ben. Dergleichen Vorſtellungen ſind nicht ge-
mahlte Erzaͤhlungen, wie ſo viel halb allegoriſche
und halb hiſtoriſche Gemaͤhlde, ſondern Vorſtellun-
gen von der Natur oder von der Wuͤrkung gewiſſer
Handlungen. So viel war hier uͤber die Beſchaf-
fenheit der Allegorie, uͤber ihre Arten und uͤber
den Werth derſelben zu ſagen. Folgende Anmer-
kungen beziehen ſich auf die Erfindung und auf den
Gebrauch derſelben.

Die Vollkommenheit der Allegorie haͤngt groͤß-
tentheils von der gluͤklichen Erfindung einzeler al-
legoriſcher Bilder ab. Eine Sammlung der beſten
ſchon vorhandenen Bilder mit genauer Beurthei-
lung ihres Werths wuͤrde den Kuͤnſtlern dieſen ſo
wichtigen Theil der Kunſt ſehr erleichtern. Win-
kelmann
hat einen Anfang dazu gemacht; aber
es fehlt noch immer an der Entwiklung einleuch-
tender Grundſaͤtze zu Erfindung der Bilder. Fuͤr
denjenigen, der auf dieſem Pfad gruͤndlichen Ruhm

zu
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[39/0051] All All Art, deren Kunſt etwas naͤher entwikelt zu werden verdienet. Die allegoriſche Vorſtellung einer Be- gebenheit hat eigentlich nichts erzaͤhlendes; denn ſie ſtellt nicht ſo wol die Begebenheit, als eine wich- tige viel ſagende Anmerkung uͤber dieſelbe vor, der- gleichen etwa große Geſchichtſchreiber machen, da ſie eine Begebenheit in einem beſonders merkwuͤr- digen Geſichtspunkt vorſtellen, wie es Tacitus oft thut, als: breves et infauſtos populi romani amo- res. (*) Jhr Endzwek geht nicht auf die ueberlie- ferung der Geſchichte, dieſes kann auf eine leichtere und beſſere Art geſchehen; ſondern auf die Darſtel- lung derſelben in einem ſehr lebhaften Geſichtspunkte. Dieſes Geſchaͤfft iſt fuͤr den Geſchichtſchreiber ſchon ſehr ſchweer, fuͤr den Mahler iſt es ein Gipfel der Kunſt, den die groͤßten Meiſter ſelten gluͤklich errei- chen. Die Geſchichte, welche dabey zum Grunde gelegt wird, muß ſehr bekannt, zugleich aber ent- weder in ihren Abſichten, oder in ihren Umſtaͤnden, oder in ihren Folgen, etwas allgemein merkwuͤrdi- ges haben. Dieſes Allgemeine macht eigentlich das Weſen der Allegorie aus. (*) Tac. Annal. II. 42. Jn der Gallerie von Duͤſſeldorf iſt ein Gemaͤhlde von Raphael, das einen Juͤngling in dikem Ge- buͤſche an einer Quelle ſitzend vorſtellt, aus welcher er Waſſer geſchoͤpft, das er in einer Schaale vor ſich haͤlt. So weit iſt dieſes Stuͤk blos hiſtoriſch, und mehr kann ein gemeiner Mahler auch mit Ti- tians Pinſel nicht ausdruͤken. Aber Raphael wußte in dieſer einzelnen Figur hohe Gedanken, ein ſo erhabenes Nachdenken uͤber eine Schaale voll Waſſer auszudruͤken, daß man in dem Juͤngling Johannes den Taͤufer erkennt, der in der Wuͤſte ſeinen goͤttlichen Beruf uͤberdenkt, und itzt glaubt man, ſeine erhabene Gedanken uͤber die Taufe ſelbſt zu empfinden. Dieſes graͤnzet nun ſchon an die hohe Allegorie. Wer nur Koͤrper mahlen kann, muß ſich daran nicht wagen. Wenn er auch fuͤr jeden einzeln Begriff ein noch ſo richtiges Bild haͤtte, ſo wuͤrde der doch nur eine leſerliche Hie- roglyphe, aber keine Allegorie darſtellen. Dieſe muß uns nicht den Buchſtaben der Geſchichte, ſon- dern ihren Geiſt geben. Darauf kommt es alſo zuerſt an, daß der Kuͤnſt- ler in dem Koͤrper der Begebenheit, die er allego- riſch vorſtellen will, eine Seele entdeke, und denn, daß er das unſichtbare Weſen derſelben ſichtbar ma- che. So muͤßte uns ein allegoriſches Gemaͤhlde von Alexanders Eroberungen des perſiſchen Reichs, nicht Schlachten und Feldzuͤge, ſondern entweder edle Rachgier, die, von einem uͤbermuͤthigen Fuͤrſten, an einem freyen Volke veruͤbte Gewaltthaͤtigkeit, zu raͤchen; oder ausſchweifende Herrſchſucht mit allen ihren uͤbeln Folgen, wenn ſie einem ſchon maͤchtigen Fuͤrſten von großem Verſtande beywohnet; oder etwas dergleichen vorſtellen, das uns gleich in einen Geſichts- punkt ſtellt, aus welchem wir die Sache im Ganzen uͤberſehen koͤnnen. Hat der Kuͤnſtler die Seele ſei- ner Geſchichte erſt entdeket, ſo wird es ihm nicht ſehr ſchweer werden, das beſondere, wodurch die Begebenheit angezeiget werden kann, zu erfinden. Perſonen, Zeiten, Oerter laſſen ſich endlich ohne Namen und Schrift noch wol kenntlich machen. Wenn es wahr iſt, was uns die Alten von dem Mahler Ariſtides ſagen, daß er in einem einzigen Bilde den aus widerſprechenden Zuͤgen zu- ſammen geſetzten Charakter des athenienſiſchen Volks richtig ausgedruͤkt habe; ſo duͤrfen wir hof- fen, daß uns einmal die Kunſt allegoriſche Ge- maͤhlde, wie etwa die folgenden dem Jnhalte nach waͤren, liefern moͤchte. Die Verbeſſerung der Sitten durch die Wiederherſtellung der Wiſſen- ſchaften; das große Werk der Kirchenverbeſſerung in ſeinen wichtigſten Folgen oder in ſeinen Urſachen; die Entdekung der neuen Welt durch den Colum- bus in einigen der wichtigſten Wuͤrkungen derſel- ben. Dergleichen Vorſtellungen ſind nicht ge- mahlte Erzaͤhlungen, wie ſo viel halb allegoriſche und halb hiſtoriſche Gemaͤhlde, ſondern Vorſtellun- gen von der Natur oder von der Wuͤrkung gewiſſer Handlungen. So viel war hier uͤber die Beſchaf- fenheit der Allegorie, uͤber ihre Arten und uͤber den Werth derſelben zu ſagen. Folgende Anmer- kungen beziehen ſich auf die Erfindung und auf den Gebrauch derſelben. Die Vollkommenheit der Allegorie haͤngt groͤß- tentheils von der gluͤklichen Erfindung einzeler al- legoriſcher Bilder ab. Eine Sammlung der beſten ſchon vorhandenen Bilder mit genauer Beurthei- lung ihres Werths wuͤrde den Kuͤnſtlern dieſen ſo wichtigen Theil der Kunſt ſehr erleichtern. Win- kelmann hat einen Anfang dazu gemacht; aber es fehlt noch immer an der Entwiklung einleuch- tender Grundſaͤtze zu Erfindung der Bilder. Fuͤr denjenigen, der auf dieſem Pfad gruͤndlichen Ruhm zu

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/51>, abgerufen am 28.03.2024.