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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Gro
Leser genießet die zärtlichste Wollust der ersten Um-
armung mit ihm. Aber erst eine Weile nachher,
nachdem Joseph eine bewegliche Rede des Alten an-
gehöret, und die zärtlichen Blike die dieser auf ihn
geheftet, lebhaft empfunden hat, steigt die Freud
auf den höchsten Gipfel; erst da fühlte der Dichter,
daß nun die Leidenschaft eine Höhe erreicht habe,
die sich kaum beschreiben läßt. Dieses giebt er uns
auf eine ausnehmende Weise zu erkennen, wenn er
sagt:

Vor stark zukender Luft stand zitternd der große Sohn Jacobs
Von den Bliken des Vaters und Worten, im Herzen ge-
(*) Jacob.
IV. Ge-
sang.
rühret. (*)

Die erste Umarmung seines Vaters konnte ihm noch
wie ein Traum vorkommen, aber nun, nachdem er
empfunden, daß seine Blike und seine rührenden
Worte sein innerstes unmittelbar rege machten, ver-
schwindet der Zweifel. Eben so fühlt auch Abba-
dona, mitten in seiner Quaal einen neuen und leb-
haften Anfall von Verzweiflung, so bald die Em-
pfindung von der Unmöglichkeit seinem Jammer zu
entgehen, mit einiger Lebhaftigkeit erneuert wird;
welches man bey folgender Stelle deutlich bemerkt.

-- Jst denn in deiner Ewigkeit künftig
Nichts mehr von Hoffnungen übrig? Ach, wird denn, gött-
licher Richter,
Schöpfer, Vater, Erbarmer! -- -- Ach nun verzweifl'
ich von neuem
Denn ich habe Johova gelästert! Jhn hab ich mit Namen,
(*) Meß.
II. Ges.
Die ich ohne Versöhner nicht nennen darf, angeredet. (*)

Die neue Verzweiflung entsteht hier blos aus dem
plötzlichen Gefühle der Unmöglichkeit der Rettung, die
ohne Versöhner, der für ihn nicht vorhanden ist, nicht
erfolgen konnte. Ueberhaupt also bekommen leiden-
schaftliche Gegenstände, so stark oder groß sie schon
an sich seyn mögen, eine neue Größe von der Em-
pfindung ihrer Gegenwart und ihrer Unveränder-
lichkeit.

Endlich giebt auch bisweilen die bloße Ueberra-
schung, und das Unerwartete darin, ihnen Größe und
Kraft. Wo man auf angenehme oder unange-
nehme Anfälle vorbereitet ist, da rüstet man sich sie
zu fassen; aber bey plötzlichem Angriffe davon wird
man überwältiget. Darum hat das Schrekhafte
allemal etwas Großes, weil es immer schnell und un-
vermuthet kömmt. Noch heftiger wird die Ergrei-
fung des Gemüths, wenn die Sache gerade gegen
die Erwartung kömmt. Wer einen Freund in der
[Spaltenumbruch]

Gro
Person findet, die er für seinen Feind gehalten hat;
wer Großmuth genießt, wo er Rache erwartet hat,
fühlet nothwendig eine gewaltsame Ausdähnung der
Empfindung. Alle bisher erwähnten Arten der
ästhetischen Größe zusammen verbunden, empfindet
man auf eine ausnehmende Weise bey folgender
Stelle im Noah.

Jm achten Gesang erzählt Noah, daß Raphael,
nachdem er ihm die göttliche Posaune | zugestellt,
mit der er alle auf Erden lebende Geschöpfe in die
Arche rufen sollte, sich eilig in die Luft geschwungen,
und über Thamista geflogen; hier thut er hinzu:

Und ich hörte von Ferne die Worte der donnernden Stimme:
Gott ist, die Waag in der Hand, auf seinen Richtstuhl ge-
sessen,
Schon ist das Urtheil gefällt; am fiebenden Tag kommt die
Straffe,
Daß sie die Erd und ihre Bewohner im Wasser vertilge.
Weh dem Geschlecht, über welchem der Zorn des ewigen
aufgeht!

Nun finden wir im neunten Gesang, daß die Gi-
ganten, denen Noah das nahe Verderben verkün-
diget hatte, Anstalt machen durch Opfer und aber-
gläubische Gebräuche das, ihnen gedrohte, Uebel zu
beschwöhren. Jndem nun diese unsinnige Schaar
anfängt, sich für sicher zu halten, geräth sie plötzlich
in verzweifelndes Schreken.

-- Als Og in dem Stolz angebeteter Priefter zurükfuhr,
Legt den abgöttischen Hochmuth der Donner aus heiterem
Himmel.
Dann gleich damals flog über Thamistens Thürmen der
Engel
Und erhob, indem er daher flog, die donnernde Stimme.

Hier erwekt der Donner aus heiterm Himmel ein
plötzliches Schreken; die vernehmlichen Worte des
Engels, der feyerlich schrekliche Ton, und der fürch-
terliche Jnhalt| seiner Rede, stellen das Verderben
nicht nur in seiner Größe, sondern auch in seiner
völligen Gewißheit dar.

Die Leidenschaften selbst, ob sie gleich im Grunde
Schwachheiten sind, können dennoch den Charakter
der Größe an sich haben. Sie entstehen allemal
aus Anfällen auf die innere Würksamkeit der Seele,
auf die Kräfte, durch deren Aeusserung sie eigent-
lich ihr Leben, ihr Daseyn empfindet. Diese Kräfte
werden von den Anfällen der leidenschaftlichen Ge-
genstände entweder gehemmet, oder gereizet. Jn
beyden Fällen entsteht in der Seele das lebhafte Ge-
fühl, wodurch sie empfindet, daß sie nicht ein speku-

latives,

[Spaltenumbruch]

Gro
Leſer genießet die zaͤrtlichſte Wolluſt der erſten Um-
armung mit ihm. Aber erſt eine Weile nachher,
nachdem Joſeph eine bewegliche Rede des Alten an-
gehoͤret, und die zaͤrtlichen Blike die dieſer auf ihn
geheftet, lebhaft empfunden hat, ſteigt die Freud
auf den hoͤchſten Gipfel; erſt da fuͤhlte der Dichter,
daß nun die Leidenſchaft eine Hoͤhe erreicht habe,
die ſich kaum beſchreiben laͤßt. Dieſes giebt er uns
auf eine ausnehmende Weiſe zu erkennen, wenn er
ſagt:

Vor ſtark zukender Luft ſtand zitternd der große Sohn Jacobs
Von den Bliken des Vaters und Worten, im Herzen ge-
(*) Jacob.
IV. Ge-
ſang.
ruͤhret. (*)

Die erſte Umarmung ſeines Vaters konnte ihm noch
wie ein Traum vorkommen, aber nun, nachdem er
empfunden, daß ſeine Blike und ſeine ruͤhrenden
Worte ſein innerſtes unmittelbar rege machten, ver-
ſchwindet der Zweifel. Eben ſo fuͤhlt auch Abba-
dona, mitten in ſeiner Quaal einen neuen und leb-
haften Anfall von Verzweiflung, ſo bald die Em-
pfindung von der Unmoͤglichkeit ſeinem Jammer zu
entgehen, mit einiger Lebhaftigkeit erneuert wird;
welches man bey folgender Stelle deutlich bemerkt.

— Jſt denn in deiner Ewigkeit kuͤnftig
Nichts mehr von Hoffnungen uͤbrig? Ach, wird denn, goͤtt-
licher Richter,
Schoͤpfer, Vater, Erbarmer! — — Ach nun verzweifl’
ich von neuem
Denn ich habe Johova gelaͤſtert! Jhn hab ich mit Namen,
(*) Meß.
II. Geſ.
Die ich ohne Verſoͤhner nicht nennen darf, angeredet. (*)

Die neue Verzweiflung entſteht hier blos aus dem
ploͤtzlichen Gefuͤhle der Unmoͤglichkeit der Rettung, die
ohne Verſoͤhner, der fuͤr ihn nicht vorhanden iſt, nicht
erfolgen konnte. Ueberhaupt alſo bekommen leiden-
ſchaftliche Gegenſtaͤnde, ſo ſtark oder groß ſie ſchon
an ſich ſeyn moͤgen, eine neue Groͤße von der Em-
pfindung ihrer Gegenwart und ihrer Unveraͤnder-
lichkeit.

Endlich giebt auch bisweilen die bloße Ueberra-
ſchung, und das Unerwartete darin, ihnen Groͤße und
Kraft. Wo man auf angenehme oder unange-
nehme Anfaͤlle vorbereitet iſt, da ruͤſtet man ſich ſie
zu faſſen; aber bey ploͤtzlichem Angriffe davon wird
man uͤberwaͤltiget. Darum hat das Schrekhafte
allemal etwas Großes, weil es immer ſchnell und un-
vermuthet koͤmmt. Noch heftiger wird die Ergrei-
fung des Gemuͤths, wenn die Sache gerade gegen
die Erwartung koͤmmt. Wer einen Freund in der
[Spaltenumbruch]

Gro
Perſon findet, die er fuͤr ſeinen Feind gehalten hat;
wer Großmuth genießt, wo er Rache erwartet hat,
fuͤhlet nothwendig eine gewaltſame Ausdaͤhnung der
Empfindung. Alle bisher erwaͤhnten Arten der
aͤſthetiſchen Groͤße zuſammen verbunden, empfindet
man auf eine ausnehmende Weiſe bey folgender
Stelle im Noah.

Jm achten Geſang erzaͤhlt Noah, daß Raphael,
nachdem er ihm die goͤttliche Poſaune | zugeſtellt,
mit der er alle auf Erden lebende Geſchoͤpfe in die
Arche rufen ſollte, ſich eilig in die Luft geſchwungen,
und uͤber Thamiſta geflogen; hier thut er hinzu:

Und ich hoͤrte von Ferne die Worte der donnernden Stimme:
Gott iſt, die Waag in der Hand, auf ſeinen Richtſtuhl ge-
ſeſſen,
Schon iſt das Urtheil gefaͤllt; am fiebenden Tag kommt die
Straffe,
Daß ſie die Erd und ihre Bewohner im Waſſer vertilge.
Weh dem Geſchlecht, uͤber welchem der Zorn des ewigen
aufgeht!

Nun finden wir im neunten Geſang, daß die Gi-
ganten, denen Noah das nahe Verderben verkuͤn-
diget hatte, Anſtalt machen durch Opfer und aber-
glaͤubiſche Gebraͤuche das, ihnen gedrohte, Uebel zu
beſchwoͤhren. Jndem nun dieſe unſinnige Schaar
anfaͤngt, ſich fuͤr ſicher zu halten, geraͤth ſie ploͤtzlich
in verzweifelndes Schreken.

— Als Og in dem Stolz angebeteter Priefter zuruͤkfuhr,
Legt den abgoͤttiſchen Hochmuth der Donner aus heiterem
Himmel.
Dann gleich damals flog uͤber Thamiſtens Thuͤrmen der
Engel
Und erhob, indem er daher flog, die donnernde Stimme.

Hier erwekt der Donner aus heiterm Himmel ein
ploͤtzliches Schreken; die vernehmlichen Worte des
Engels, der feyerlich ſchrekliche Ton, und der fuͤrch-
terliche Jnhalt| ſeiner Rede, ſtellen das Verderben
nicht nur in ſeiner Groͤße, ſondern auch in ſeiner
voͤlligen Gewißheit dar.

Die Leidenſchaften ſelbſt, ob ſie gleich im Grunde
Schwachheiten ſind, koͤnnen dennoch den Charakter
der Groͤße an ſich haben. Sie entſtehen allemal
aus Anfaͤllen auf die innere Wuͤrkſamkeit der Seele,
auf die Kraͤfte, durch deren Aeuſſerung ſie eigent-
lich ihr Leben, ihr Daſeyn empfindet. Dieſe Kraͤfte
werden von den Anfaͤllen der leidenſchaftlichen Ge-
genſtaͤnde entweder gehemmet, oder gereizet. Jn
beyden Faͤllen entſteht in der Seele das lebhafte Ge-
fuͤhl, wodurch ſie empfindet, daß ſie nicht ein ſpeku-

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 496. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/508>, abgerufen am 22.11.2024.