Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.[Spaltenumbruch] Gle oder der Zustand des empfindenden Herzens geschil-dert wird, geräth man sehr natürlich auf ausge- führte Vergleichungen. Wenn der Dichter des 133 Pfalms das Vergnügen besinget, das die brü- derliche Eintracht in seinem Gemüth erwekt, bedie- net er sich der angenehmsten Bilder, um seine Em- pfindung recht lebhaft zu schildern. Diese, zur Leb- haftigkeit der Vorstellung dienenden, Gleichnisse setzen allemal eine etwas erhitzte Phantasie voraus, die von dem Gegenstande stark gerührt, so gleich ähnliche Bilder entdeket, die ihr das Verweilen auf dem Ge- genstand erleichtern. Aus dieser Lust sich auf dem Gegenstande zu ver- Daher kömmt es also, daß der epische Dichter, Wer diese, in der Natur selbst gegründete, An- Gle handeln, und wie sie sich betragen werden, die Auf-merksamkeit auf einmal von dem, was geschehen soll, ablenket, und die Phantasie mit Gemählden un- terhaltet. Wo sich Leidenschaften von der heftigen Art äussern, da werden die Gegenstände der Phan- tasie unmerkbar; ja so gar die äussern Sinnen ver- lieren alsdenn ihre Kraft zu rühren. Wer von Zorn, oder Furcht, oder von irgend einer andern stark würkenden Leidenschaft ergriffen wird, der hört und sieht nichts; um so viel weniger wird er sich mit Bildern der Phantasie unterhalten. Dieses sey von dem Zustande der redenden Per- Nur eine einzige Nebenanmerkung wollen wir zeich-
[Spaltenumbruch] Gle oder der Zuſtand des empfindenden Herzens geſchil-dert wird, geraͤth man ſehr natuͤrlich auf ausge- fuͤhrte Vergleichungen. Wenn der Dichter des 133 Pfalms das Vergnuͤgen beſinget, das die bruͤ- derliche Eintracht in ſeinem Gemuͤth erwekt, bedie- net er ſich der angenehmſten Bilder, um ſeine Em- pfindung recht lebhaft zu ſchildern. Dieſe, zur Leb- haftigkeit der Vorſtellung dienenden, Gleichniſſe ſetzen allemal eine etwas erhitzte Phantaſie voraus, die von dem Gegenſtande ſtark geruͤhrt, ſo gleich aͤhnliche Bilder entdeket, die ihr das Verweilen auf dem Ge- genſtand erleichtern. Aus dieſer Luſt ſich auf dem Gegenſtande zu ver- Daher koͤmmt es alſo, daß der epiſche Dichter, Wer dieſe, in der Natur ſelbſt gegruͤndete, An- Gle handeln, und wie ſie ſich betragen werden, die Auf-merkſamkeit auf einmal von dem, was geſchehen ſoll, ablenket, und die Phantaſie mit Gemaͤhlden un- terhaltet. Wo ſich Leidenſchaften von der heftigen Art aͤuſſern, da werden die Gegenſtaͤnde der Phan- taſie unmerkbar; ja ſo gar die aͤuſſern Sinnen ver- lieren alsdenn ihre Kraft zu ruͤhren. Wer von Zorn, oder Furcht, oder von irgend einer andern ſtark wuͤrkenden Leidenſchaft ergriffen wird, der hoͤrt und ſieht nichts; um ſo viel weniger wird er ſich mit Bildern der Phantaſie unterhalten. Dieſes ſey von dem Zuſtande der redenden Per- Nur eine einzige Nebenanmerkung wollen wir zeich-
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Wer<lb/> bey auszufuͤhrenden Geſchaͤfften, da er ſich wuͤrkſam<lb/> zu zeigen hat, ſich bey vorkommenden Gegenſtaͤnden<lb/> der Betrachtung aufhalten wollte, der wuͤrde ſo wie<lb/> der, welcher moraliſirt, wo er handeln ſoll, ſich als ei-<lb/> nen ſchwachen Kopf und als einen Thoren zeigen.</p><lb/> <p>Daher koͤmmt es alſo, daß der epiſche Dichter,<lb/> wenn er die handelnden Perſonen redend einfuͤhrt,<lb/> ihnen da, wo ſie in Ausfuͤhrung der Geſchaͤffte be-<lb/> griffen ſind, weder Gleichniſſe, noch irgend andre<lb/> den Fortgang der Handlung unterbrechende Reden<lb/> in den Mund legen kann; und daß im Drama das<lb/> Gleichnis nicht vorkommen kann, es ſey denn in<lb/> ruhigern Scenen, da die Handlung ſtille ſteht und<lb/> die Perſonen die Lage der Sachen mit einiger Ruhe<lb/> uͤberſehen; wo das Herz ruhig, und die Phantaſie<lb/> erhitzt iſt. Ueberhaupt hemmet jeder unruhiger Ge-<lb/> muͤthszuſtand die Betrachtung.</p><lb/> <p>Wer dieſe, in der Natur ſelbſt gegruͤndete, An-<lb/> merkung wol uͤberlegt, der wird nie in den Fehler<lb/> verfallen zur Unzeit Gleichniſſe anzubringen. Es<lb/> zeiget einen gaͤnzlichen Mangel der Beurtheilung,<lb/> wenn man bey ſehr lebhaften Scenen, da es blos<lb/> darum zu thun iſt, zu ſehen, wie die Menſchen<lb/><cb/> <fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Gle</hi></fw><lb/> handeln, und wie ſie ſich betragen werden, die Auf-<lb/> merkſamkeit auf einmal von dem, was geſchehen<lb/> ſoll, ablenket, und die Phantaſie mit Gemaͤhlden un-<lb/> terhaltet. Wo ſich Leidenſchaften von der heftigen<lb/> Art aͤuſſern, da werden die Gegenſtaͤnde der Phan-<lb/> taſie unmerkbar; ja ſo gar die aͤuſſern Sinnen ver-<lb/> lieren alsdenn ihre Kraft zu ruͤhren. Wer von<lb/> Zorn, oder Furcht, oder von irgend einer andern<lb/> ſtark wuͤrkenden Leidenſchaft ergriffen wird, der hoͤrt<lb/> und ſieht nichts; um ſo viel weniger wird er ſich mit<lb/> Bildern der Phantaſie unterhalten.</p><lb/> <p>Dieſes ſey von dem Zuſtande der redenden Per-<lb/> ſon in Abſicht auf den Ort, wo die Gleichniſſe na-<lb/> tuͤrlich oder unnatuͤrlich werden, geſagt.</p><lb/> <p>Nur eine einzige Nebenanmerkung wollen wir<lb/> hinzufuͤgen. Man hat verſchiedentlich als etwas be-<lb/> ſonderes angemerkt, daß Homer im erſten Buche der<lb/> Jlias und ſogar in den drey erſten Buͤchern der<lb/> Odyſſee ſich der Gleichniſſe enthalten hat, die her-<lb/> nach ſo haͤufig vorkommen. Es laͤßt ſich hiervon<lb/> ein ganz natuͤrlicher Grund angeben, der aus der<lb/> vorher gemachten Anmerkung fließt, daß das Gleich-<lb/> nis alsdann natuͤrlicher Weiſe entſteht, wenn das<lb/> Herz etwas ruhig, hingegen die Phantaſie erhitzt<lb/> iſt. Dieſe Erhitzung der Phantaſie geſchieht allmaͤh-<lb/> lig, ein geſetzter Kopf wird nicht ſogleich erhitzt, er<lb/> muß vorher ſeinen Gegenſtand eine Zeitlang behan-<lb/> delt, und das Jntreſſante deſſelben recht empfunden<lb/> haben. Je mehr Ueberlegung ein Menſch hat, je<lb/> langſamer geht es mit dieſer Erhitzung zu. Hiezu<lb/> koͤmmt noch der andre Umſtand, daß im Anfange<lb/> der Handlung die Neugierde, die Scene voͤllig eroͤf-<lb/> net und die Handlung bis auf einem gewiſſen Punkt<lb/> fortgeruͤkt zu ſehen, dem Geiſte den ruhigen Genuß<lb/> der Gegenſtaͤnde nicht erlaubet. Wenn uns auf<lb/> einmal eine Menge in lebhafter Handlung begriffene<lb/> Menſchen vor Augen kaͤmen, ſo waͤre im Anfang<lb/> die Neugierde, zu wiſſen, was ſie vorhaben, und<lb/> wie weit etwa der Handel gekommen iſt, zu groß,<lb/> als daß wir einen oder den andern derſelben beſon-<lb/> ders ins Geſicht faßen, oder ſeine Phyſionomie beob-<lb/> achten koͤnnten. Aber alsdenn, wenn die erſte Neu-<lb/> gierd etwas befriediget iſt, werden wir ruhigere<lb/> Zuſchauer. Alſo waͤr es wuͤrklich unnatuͤrlich, wenn<lb/> uns der epiſche Dichter gleich anfaͤnglich, ehe wir an<lb/> dem Orte ſtehen, von weichem wir der Handlung<lb/> etwas ruhig zu ſehen koͤnnen, und ehe die Phantaſie<lb/> Zeit gehabt ſich zu erhitzen, mit ſo beſonders ge-<lb/> <fw place="bottom" type="catch">zeich-</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [484/0496]
Gle
Gle
oder der Zuſtand des empfindenden Herzens geſchil-
dert wird, geraͤth man ſehr natuͤrlich auf ausge-
fuͤhrte Vergleichungen. Wenn der Dichter des
133 Pfalms das Vergnuͤgen beſinget, das die bruͤ-
derliche Eintracht in ſeinem Gemuͤth erwekt, bedie-
net er ſich der angenehmſten Bilder, um ſeine Em-
pfindung recht lebhaft zu ſchildern. Dieſe, zur Leb-
haftigkeit der Vorſtellung dienenden, Gleichniſſe ſetzen
allemal eine etwas erhitzte Phantaſie voraus, die
von dem Gegenſtande ſtark geruͤhrt, ſo gleich aͤhnliche
Bilder entdeket, die ihr das Verweilen auf dem Ge-
genſtand erleichtern.
Aus dieſer Luſt ſich auf dem Gegenſtande zu ver-
weilen und ihn recht voͤllig zu genießen, entſteht
eben die Ausfuͤhrlichkeit der Vergleichung, wodurch
ſie zum Gleichnis wird. Dieſes ſetzt alſo allemal,
wie ſchon oben angemerkt worden, einen etwas ru-
higen Zuſtand des Gemuͤthes voraus, darin man
das, was man ſieht, recht genießen will. Wenn aber
der Menſch in Umſtaͤnden iſt, wo er nicht Zeit hat
zu betrachten, ſondern wuͤrkſam und handelnd ſeyn
muß, wo er Entſchließungen zu faſſen und ſie aus-
zufuͤhren hat, wo ſein Geiſt in Geſchaͤffte verwikelt
iſt, da hat keine Betrachtung, kein Genuß der ange-
nehmen oder unangenehmen Gegenſtaͤnde ſtatt. Wer
bey auszufuͤhrenden Geſchaͤfften, da er ſich wuͤrkſam
zu zeigen hat, ſich bey vorkommenden Gegenſtaͤnden
der Betrachtung aufhalten wollte, der wuͤrde ſo wie
der, welcher moraliſirt, wo er handeln ſoll, ſich als ei-
nen ſchwachen Kopf und als einen Thoren zeigen.
Daher koͤmmt es alſo, daß der epiſche Dichter,
wenn er die handelnden Perſonen redend einfuͤhrt,
ihnen da, wo ſie in Ausfuͤhrung der Geſchaͤffte be-
griffen ſind, weder Gleichniſſe, noch irgend andre
den Fortgang der Handlung unterbrechende Reden
in den Mund legen kann; und daß im Drama das
Gleichnis nicht vorkommen kann, es ſey denn in
ruhigern Scenen, da die Handlung ſtille ſteht und
die Perſonen die Lage der Sachen mit einiger Ruhe
uͤberſehen; wo das Herz ruhig, und die Phantaſie
erhitzt iſt. Ueberhaupt hemmet jeder unruhiger Ge-
muͤthszuſtand die Betrachtung.
Wer dieſe, in der Natur ſelbſt gegruͤndete, An-
merkung wol uͤberlegt, der wird nie in den Fehler
verfallen zur Unzeit Gleichniſſe anzubringen. Es
zeiget einen gaͤnzlichen Mangel der Beurtheilung,
wenn man bey ſehr lebhaften Scenen, da es blos
darum zu thun iſt, zu ſehen, wie die Menſchen
handeln, und wie ſie ſich betragen werden, die Auf-
merkſamkeit auf einmal von dem, was geſchehen
ſoll, ablenket, und die Phantaſie mit Gemaͤhlden un-
terhaltet. Wo ſich Leidenſchaften von der heftigen
Art aͤuſſern, da werden die Gegenſtaͤnde der Phan-
taſie unmerkbar; ja ſo gar die aͤuſſern Sinnen ver-
lieren alsdenn ihre Kraft zu ruͤhren. Wer von
Zorn, oder Furcht, oder von irgend einer andern
ſtark wuͤrkenden Leidenſchaft ergriffen wird, der hoͤrt
und ſieht nichts; um ſo viel weniger wird er ſich mit
Bildern der Phantaſie unterhalten.
Dieſes ſey von dem Zuſtande der redenden Per-
ſon in Abſicht auf den Ort, wo die Gleichniſſe na-
tuͤrlich oder unnatuͤrlich werden, geſagt.
Nur eine einzige Nebenanmerkung wollen wir
hinzufuͤgen. Man hat verſchiedentlich als etwas be-
ſonderes angemerkt, daß Homer im erſten Buche der
Jlias und ſogar in den drey erſten Buͤchern der
Odyſſee ſich der Gleichniſſe enthalten hat, die her-
nach ſo haͤufig vorkommen. Es laͤßt ſich hiervon
ein ganz natuͤrlicher Grund angeben, der aus der
vorher gemachten Anmerkung fließt, daß das Gleich-
nis alsdann natuͤrlicher Weiſe entſteht, wenn das
Herz etwas ruhig, hingegen die Phantaſie erhitzt
iſt. Dieſe Erhitzung der Phantaſie geſchieht allmaͤh-
lig, ein geſetzter Kopf wird nicht ſogleich erhitzt, er
muß vorher ſeinen Gegenſtand eine Zeitlang behan-
delt, und das Jntreſſante deſſelben recht empfunden
haben. Je mehr Ueberlegung ein Menſch hat, je
langſamer geht es mit dieſer Erhitzung zu. Hiezu
koͤmmt noch der andre Umſtand, daß im Anfange
der Handlung die Neugierde, die Scene voͤllig eroͤf-
net und die Handlung bis auf einem gewiſſen Punkt
fortgeruͤkt zu ſehen, dem Geiſte den ruhigen Genuß
der Gegenſtaͤnde nicht erlaubet. Wenn uns auf
einmal eine Menge in lebhafter Handlung begriffene
Menſchen vor Augen kaͤmen, ſo waͤre im Anfang
die Neugierde, zu wiſſen, was ſie vorhaben, und
wie weit etwa der Handel gekommen iſt, zu groß,
als daß wir einen oder den andern derſelben beſon-
ders ins Geſicht faßen, oder ſeine Phyſionomie beob-
achten koͤnnten. Aber alsdenn, wenn die erſte Neu-
gierd etwas befriediget iſt, werden wir ruhigere
Zuſchauer. Alſo waͤr es wuͤrklich unnatuͤrlich, wenn
uns der epiſche Dichter gleich anfaͤnglich, ehe wir an
dem Orte ſtehen, von weichem wir der Handlung
etwas ruhig zu ſehen koͤnnen, und ehe die Phantaſie
Zeit gehabt ſich zu erhitzen, mit ſo beſonders ge-
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