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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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All
blos die Unsterblichkeit an, sondern auch, daß die
Seele erst denn in ihr rechtes Leben komme, nach-
dem sie die Hülle des Körpers abgelegt hat. Das
allegorische Bild der Gerechtigkeit mit verbundenen
Augen und der Waage in der Hand drükt nicht
blos das Wort Gerechtigkeit aus, sondern auch
die Eigenschaft derselben, daß sie sich durch kein An-
sehen und keinen Schein verblenden lasse, daß sie
nicht voreilig sey, sondern das Recht auf das Ge-
naueste abwäge.

Daß diese Bilder jenen weit vorzuziehen seyen,
darf nicht erinnert werden. Eine wichtigere Be-
merkung aber ist es, daß der Künstler, dem es nicht
an Genie fehlt, einem an sich wenig bedeutenden
Bilde durch Anbringung charakteristischer Züge,
eine natürliche Bedeutung geben könne. So hat
Poußin auf eine geistreiche Art den Nil bezeichnet,
indem er ihm den Kopf in Schilf verstekt hat, um
anzuzeigen, daß sein Ursprung noch nicht entdekt
worden. Bilder von Sachen die sinnliche Eigen-
schaften haben, von Ländern, Städten, Flüssen,
können auf diese Weise durch Zusätze bedeutender
gemacht werden. Es geht auch mit solchen an,
die blos abgezogene Begriffe vorstellen. So hat
ein griechischer Künstler, Namens Buphalus, die
Fortuna, oder das Glük auf diese viel bedeutende
Art abgebildet, daß er ihr eine Sonnenuhr oder
einen Gnomon auf den Kopf und ein Horn des Ue-
(*) Pausa-
nias. L. IV.
berflusses in die Hand gegeben. (*) Unter den ge-
schnittenen Steinen, die Mariette herausgegeben hat,
ist einer mit einem Bilde, das für eine viel bedeu-
tende Allegorie der Dichtkunst kann gebraucht wer-
den. Ein Genius sieht auf einen Gryph; die rech-
te Hand lehnt sich auf eine Leyer, die auf einem,
auf einen Würfel gesetzten, Dreyfuß steht. Der
Würfel kann die Richtigkeit der Gedanken, der
Dreyfuß die Begeisterung, die Leyer die Harmonie
bedeuten; die drey wesentlichen Eigenschaften eines
(*) Mari-
ette. Pler-
res gra-
vees n.
17.
Gedichts. (*)

Diejenigen allegorischen Bilder, die aus menschli-
chen Figuren bestehen, können durch Stellung,
Charakter und Handlung die höchste allegorische
Vollkommenheit erreichen. Durch dieses Mittel
können die an sich so wenig bedeutenden Allegorien
der Städte und Länder, sobald sie bey besondern
Gelegenheiten gebraucht werden, höchst nachdrük-
lich seyn, wenn der Künstler den Ausdruk in sei-
ner Gewalt hat, wenn etwas von dem Geist in
[Spaltenumbruch]

All
ihm wohnt, durch welchen Aristides geführt, den
Charakter des atheniensischen Volks in einer einzi-
gen Figur ausgedrükt hat. Wie grosse und man-
nigfaltige Kraft liegt nicht in dem Bild der Ver-
läumdung, das Apelles gemahlt hat? (*) Und(*) S. Lu-
cians Be-
schreibung
davon.

wie höchst fürchterlich ist nicht das Bild des Krie-
ges beym Aristophanes, (*) da Mars, ein sonst
wenig bedeutendes Bild, in einem ungeheuren Mör-(*) Jn dem
Lustspiel
der Friede.

sel Städte und ganze Länder zermalmet?

Freylich gehört zu dergleichen Bildern ein Genie
das nur Künstlern vom ersten Range zu Theil ge-
worden. Unter der unzählbaren Menge allegori-
scher Bilder auf den Münzen der Alten finden sich
nur wenige, unter denen die Winkelmann in seinem
Werk von der Allegorie in ein Verzeichnis gesam-
melt hat, kein einziges, von grosser ästhetischer
Kraft. Das höchste in dieser Gattung trift man
in den Bildern der Gottheiten an, die einigerma-
ßen unter die allegorischen Bilder können gerechnet
werden. (*) Des Phidias Jupiter war nichts an-(*) S. Sta-
tuen.

ders, als ein allegorisches Bild der Gottheit; und der
berühmte Apollo in Belvedere, was ist er anders,
als eine vollkommene Allegorie der Sonne, deren
immerwährende Jugend, deren reizende Lieblichkeit
und niemals ermüdende Würksamkeit, in diesem
wundervollen Bilde dem Auge zu sehen gegeben
wird?

Künstler sollen hieraus lernen, wie selbst solche
Bilder, die an sich von schwacher Bedeutung sind,
durch das wahre Genie zum höchsten Ausdruk kön-
nen erhoben werden. Sie sollen aber zugleich er-
kennen, daß die Bilder diese hohe Kraft nicht durch
schwache Zeichen, die man attributa nennet, erhal-
ten. Sie sollen lernen, daß es nicht genung ist der
Gerechtigkeit die Waage in die Hand zu geben; son-
dern die Themis mit dem ihr eigenen göttlichen
Charakter zu bezeichnen, wie Jupiter und Apollo
in jenen erhabenen Bildern, mit dem ihrigen be-
zeichnet worden. Nicht der witzige Künstler, der
kleine und subtile Aehnlichkeiten bemerket, sondern
der grosse Geist, der jede Eigenschaft des Geistes,
jede Empfindung der Seele sichtbar machen kann,
ist in solchen Erfindungen glüklich.

Zwar gehört auch das kleinere der Zeichenkunst,
zur glüklichen Allegorie, um auf das wesentliche
zu führen, und die Deutung zu erleichtern. Wir
wollen das Bild des Mondes auf der Stirne der
Diana nicht verwerfen; es leitet uns auf die

Deutung;

[Spaltenumbruch]

All
blos die Unſterblichkeit an, ſondern auch, daß die
Seele erſt denn in ihr rechtes Leben komme, nach-
dem ſie die Huͤlle des Koͤrpers abgelegt hat. Das
allegoriſche Bild der Gerechtigkeit mit verbundenen
Augen und der Waage in der Hand druͤkt nicht
blos das Wort Gerechtigkeit aus, ſondern auch
die Eigenſchaft derſelben, daß ſie ſich durch kein An-
ſehen und keinen Schein verblenden laſſe, daß ſie
nicht voreilig ſey, ſondern das Recht auf das Ge-
naueſte abwaͤge.

Daß dieſe Bilder jenen weit vorzuziehen ſeyen,
darf nicht erinnert werden. Eine wichtigere Be-
merkung aber iſt es, daß der Kuͤnſtler, dem es nicht
an Genie fehlt, einem an ſich wenig bedeutenden
Bilde durch Anbringung charakteriſtiſcher Zuͤge,
eine natuͤrliche Bedeutung geben koͤnne. So hat
Poußin auf eine geiſtreiche Art den Nil bezeichnet,
indem er ihm den Kopf in Schilf verſtekt hat, um
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worden. Bilder von Sachen die ſinnliche Eigen-
ſchaften haben, von Laͤndern, Staͤdten, Fluͤſſen,
koͤnnen auf dieſe Weiſe durch Zuſaͤtze bedeutender
gemacht werden. Es geht auch mit ſolchen an,
die blos abgezogene Begriffe vorſtellen. So hat
ein griechiſcher Kuͤnſtler, Namens Buphalus, die
Fortuna, oder das Gluͤk auf dieſe viel bedeutende
Art abgebildet, daß er ihr eine Sonnenuhr oder
einen Gnomon auf den Kopf und ein Horn des Ue-
(*) Pauſa-
nias. L. IV.
berfluſſes in die Hand gegeben. (*) Unter den ge-
ſchnittenen Steinen, die Mariette herausgegeben hat,
iſt einer mit einem Bilde, das fuͤr eine viel bedeu-
tende Allegorie der Dichtkunſt kann gebraucht wer-
den. Ein Genius ſieht auf einen Gryph; die rech-
te Hand lehnt ſich auf eine Leyer, die auf einem,
auf einen Wuͤrfel geſetzten, Dreyfuß ſteht. Der
Wuͤrfel kann die Richtigkeit der Gedanken, der
Dreyfuß die Begeiſterung, die Leyer die Harmonie
bedeuten; die drey weſentlichen Eigenſchaften eines
(*) Mari-
ette. Pler-
res gra-
vées n.
17.
Gedichts. (*)

Diejenigen allegoriſchen Bilder, die aus menſchli-
chen Figuren beſtehen, koͤnnen durch Stellung,
Charakter und Handlung die hoͤchſte allegoriſche
Vollkommenheit erreichen. Durch dieſes Mittel
koͤnnen die an ſich ſo wenig bedeutenden Allegorien
der Staͤdte und Laͤnder, ſobald ſie bey beſondern
Gelegenheiten gebraucht werden, hoͤchſt nachdruͤk-
lich ſeyn, wenn der Kuͤnſtler den Ausdruk in ſei-
ner Gewalt hat, wenn etwas von dem Geiſt in
[Spaltenumbruch]

All
ihm wohnt, durch welchen Ariſtides gefuͤhrt, den
Charakter des athenienſiſchen Volks in einer einzi-
gen Figur ausgedruͤkt hat. Wie groſſe und man-
nigfaltige Kraft liegt nicht in dem Bild der Ver-
laͤumdung, das Apelles gemahlt hat? (*) Und(*) S. Lu-
cians Be-
ſchreibung
davon.

wie hoͤchſt fuͤrchterlich iſt nicht das Bild des Krie-
ges beym Ariſtophanes, (*) da Mars, ein ſonſt
wenig bedeutendes Bild, in einem ungeheuren Moͤr-(*) Jn dem
Luſtſpiel
der Friede.

ſel Staͤdte und ganze Laͤnder zermalmet?

Freylich gehoͤrt zu dergleichen Bildern ein Genie
das nur Kuͤnſtlern vom erſten Range zu Theil ge-
worden. Unter der unzaͤhlbaren Menge allegori-
ſcher Bilder auf den Muͤnzen der Alten finden ſich
nur wenige, unter denen die Winkelmann in ſeinem
Werk von der Allegorie in ein Verzeichnis geſam-
melt hat, kein einziges, von groſſer aͤſthetiſcher
Kraft. Das hoͤchſte in dieſer Gattung trift man
in den Bildern der Gottheiten an, die einigerma-
ßen unter die allegoriſchen Bilder koͤnnen gerechnet
werden. (*) Des Phidias Jupiter war nichts an-(*) S. Sta-
tuen.

ders, als ein allegoriſches Bild der Gottheit; und der
beruͤhmte Apollo in Belvedere, was iſt er anders,
als eine vollkommene Allegorie der Sonne, deren
immerwaͤhrende Jugend, deren reizende Lieblichkeit
und niemals ermuͤdende Wuͤrkſamkeit, in dieſem
wundervollen Bilde dem Auge zu ſehen gegeben
wird?

Kuͤnſtler ſollen hieraus lernen, wie ſelbſt ſolche
Bilder, die an ſich von ſchwacher Bedeutung ſind,
durch das wahre Genie zum hoͤchſten Ausdruk koͤn-
nen erhoben werden. Sie ſollen aber zugleich er-
kennen, daß die Bilder dieſe hohe Kraft nicht durch
ſchwache Zeichen, die man attributa nennet, erhal-
ten. Sie ſollen lernen, daß es nicht genung iſt der
Gerechtigkeit die Waage in die Hand zu geben; ſon-
dern die Themis mit dem ihr eigenen goͤttlichen
Charakter zu bezeichnen, wie Jupiter und Apollo
in jenen erhabenen Bildern, mit dem ihrigen be-
zeichnet worden. Nicht der witzige Kuͤnſtler, der
kleine und ſubtile Aehnlichkeiten bemerket, ſondern
der groſſe Geiſt, der jede Eigenſchaft des Geiſtes,
jede Empfindung der Seele ſichtbar machen kann,
iſt in ſolchen Erfindungen gluͤklich.

Zwar gehoͤrt auch das kleinere der Zeichenkunſt,
zur gluͤklichen Allegorie, um auf das weſentliche
zu fuͤhren, und die Deutung zu erleichtern. Wir
wollen das Bild des Mondes auf der Stirne der
Diana nicht verwerfen; es leitet uns auf die

Deutung;
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[36/0048] All All blos die Unſterblichkeit an, ſondern auch, daß die Seele erſt denn in ihr rechtes Leben komme, nach- dem ſie die Huͤlle des Koͤrpers abgelegt hat. Das allegoriſche Bild der Gerechtigkeit mit verbundenen Augen und der Waage in der Hand druͤkt nicht blos das Wort Gerechtigkeit aus, ſondern auch die Eigenſchaft derſelben, daß ſie ſich durch kein An- ſehen und keinen Schein verblenden laſſe, daß ſie nicht voreilig ſey, ſondern das Recht auf das Ge- naueſte abwaͤge. Daß dieſe Bilder jenen weit vorzuziehen ſeyen, darf nicht erinnert werden. Eine wichtigere Be- merkung aber iſt es, daß der Kuͤnſtler, dem es nicht an Genie fehlt, einem an ſich wenig bedeutenden Bilde durch Anbringung charakteriſtiſcher Zuͤge, eine natuͤrliche Bedeutung geben koͤnne. So hat Poußin auf eine geiſtreiche Art den Nil bezeichnet, indem er ihm den Kopf in Schilf verſtekt hat, um anzuzeigen, daß ſein Urſprung noch nicht entdekt worden. Bilder von Sachen die ſinnliche Eigen- ſchaften haben, von Laͤndern, Staͤdten, Fluͤſſen, koͤnnen auf dieſe Weiſe durch Zuſaͤtze bedeutender gemacht werden. Es geht auch mit ſolchen an, die blos abgezogene Begriffe vorſtellen. So hat ein griechiſcher Kuͤnſtler, Namens Buphalus, die Fortuna, oder das Gluͤk auf dieſe viel bedeutende Art abgebildet, daß er ihr eine Sonnenuhr oder einen Gnomon auf den Kopf und ein Horn des Ue- berfluſſes in die Hand gegeben. (*) Unter den ge- ſchnittenen Steinen, die Mariette herausgegeben hat, iſt einer mit einem Bilde, das fuͤr eine viel bedeu- tende Allegorie der Dichtkunſt kann gebraucht wer- den. Ein Genius ſieht auf einen Gryph; die rech- te Hand lehnt ſich auf eine Leyer, die auf einem, auf einen Wuͤrfel geſetzten, Dreyfuß ſteht. Der Wuͤrfel kann die Richtigkeit der Gedanken, der Dreyfuß die Begeiſterung, die Leyer die Harmonie bedeuten; die drey weſentlichen Eigenſchaften eines Gedichts. (*) (*) Pauſa- nias. L. IV. (*) Mari- ette. Pler- res gra- vées n. 17. Diejenigen allegoriſchen Bilder, die aus menſchli- chen Figuren beſtehen, koͤnnen durch Stellung, Charakter und Handlung die hoͤchſte allegoriſche Vollkommenheit erreichen. Durch dieſes Mittel koͤnnen die an ſich ſo wenig bedeutenden Allegorien der Staͤdte und Laͤnder, ſobald ſie bey beſondern Gelegenheiten gebraucht werden, hoͤchſt nachdruͤk- lich ſeyn, wenn der Kuͤnſtler den Ausdruk in ſei- ner Gewalt hat, wenn etwas von dem Geiſt in ihm wohnt, durch welchen Ariſtides gefuͤhrt, den Charakter des athenienſiſchen Volks in einer einzi- gen Figur ausgedruͤkt hat. Wie groſſe und man- nigfaltige Kraft liegt nicht in dem Bild der Ver- laͤumdung, das Apelles gemahlt hat? (*) Und wie hoͤchſt fuͤrchterlich iſt nicht das Bild des Krie- ges beym Ariſtophanes, (*) da Mars, ein ſonſt wenig bedeutendes Bild, in einem ungeheuren Moͤr- ſel Staͤdte und ganze Laͤnder zermalmet? (*) S. Lu- cians Be- ſchreibung davon. (*) Jn dem Luſtſpiel der Friede. Freylich gehoͤrt zu dergleichen Bildern ein Genie das nur Kuͤnſtlern vom erſten Range zu Theil ge- worden. Unter der unzaͤhlbaren Menge allegori- ſcher Bilder auf den Muͤnzen der Alten finden ſich nur wenige, unter denen die Winkelmann in ſeinem Werk von der Allegorie in ein Verzeichnis geſam- melt hat, kein einziges, von groſſer aͤſthetiſcher Kraft. Das hoͤchſte in dieſer Gattung trift man in den Bildern der Gottheiten an, die einigerma- ßen unter die allegoriſchen Bilder koͤnnen gerechnet werden. (*) Des Phidias Jupiter war nichts an- ders, als ein allegoriſches Bild der Gottheit; und der beruͤhmte Apollo in Belvedere, was iſt er anders, als eine vollkommene Allegorie der Sonne, deren immerwaͤhrende Jugend, deren reizende Lieblichkeit und niemals ermuͤdende Wuͤrkſamkeit, in dieſem wundervollen Bilde dem Auge zu ſehen gegeben wird? (*) S. Sta- tuen. Kuͤnſtler ſollen hieraus lernen, wie ſelbſt ſolche Bilder, die an ſich von ſchwacher Bedeutung ſind, durch das wahre Genie zum hoͤchſten Ausdruk koͤn- nen erhoben werden. Sie ſollen aber zugleich er- kennen, daß die Bilder dieſe hohe Kraft nicht durch ſchwache Zeichen, die man attributa nennet, erhal- ten. Sie ſollen lernen, daß es nicht genung iſt der Gerechtigkeit die Waage in die Hand zu geben; ſon- dern die Themis mit dem ihr eigenen goͤttlichen Charakter zu bezeichnen, wie Jupiter und Apollo in jenen erhabenen Bildern, mit dem ihrigen be- zeichnet worden. Nicht der witzige Kuͤnſtler, der kleine und ſubtile Aehnlichkeiten bemerket, ſondern der groſſe Geiſt, der jede Eigenſchaft des Geiſtes, jede Empfindung der Seele ſichtbar machen kann, iſt in ſolchen Erfindungen gluͤklich. Zwar gehoͤrt auch das kleinere der Zeichenkunſt, zur gluͤklichen Allegorie, um auf das weſentliche zu fuͤhren, und die Deutung zu erleichtern. Wir wollen das Bild des Mondes auf der Stirne der Diana nicht verwerfen; es leitet uns auf die Deutung;

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/48>, abgerufen am 29.03.2024.