Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

Bild:
<< vorherige Seite

[Spaltenumbruch]

Gem
ses ist eine Art von Zauberey, die uns zwinget, Dinge,
die ihrer Natur nach unendlich verschieden sind, für
(*) S.
Aehnlich-
keit.
einerley zu halten (*), und die uns das volle Leben
in dem völlig Leblosen zeiget. Hätte man das We-
sen der schönen Künste blos in Erwekung angeneh-
mer Empfindungen zu suchen, so würde die Mah-
lerey auch blos des Mechanischen halber, einen an-
sehnlichen Rang unter ihnen behaupten.

Man kann also das Wesen des Gemähldes darin
setzen, daß es sichtbare Gegenstände, die vortheil-
haft auf das Gemüth würken, vermittelst Zeichnung
und Farben, als ob sie in der Natur vorhanden wä-
ren, darstelle. Was durch die vortheilhafte Wür-
kung auf das Gemüth zu verstehen sey, wird an-
(*) S.
Kunst.
derswo ausführlich erkläret (*). Hieraus lassen sich
nun die Eigenschaften des Gemähldes herleiten.

Der Jnhalt muß einen Gegenstand vorstellen,
der seiner Natur nach intressant ist, der lebhafte
Vorstellungen in uns erweket; diese Vorstellungen
aber müssen auf etwas Gutes abzielen, so daß der,
der diesen Gegenstand mit Aufmerksamkeit betrach-
tet, etwas dabey gewinnt.

Die Anordnung der Theile muß so beschaffen
seyn, daß nur eine einzige bestimmte Hauptvorstel-
lung aus dem Gemähld entsteht, wozu jeder Theil
nach seiner Beschaffenheit das seinige beyträgt.
Das Aug muß ohne Ungewißheit so gleich auf die
Hauptsache, als den Mittelpunkt der ganzen Vor-
stellung geleitet werden, und die Theile müssen eine
solche Abhänglichkeit und Unterordnung unter einan-
der haben, daß jeder die Vorstellungskraft zum Be-
huf des Ganzen unterstützet, und in der vortheilhaf-
testen Ordnung von einem zum andern leitet. Es
muß nirgend etwas Müßiges, oder Ueberflüßiges,
viel weniger etwas, das die klare und bestimmte
Vorstellung des Ganzen schwächet oder hindert,
vorhanden seyn.

Die Bearbeitung des Gegenstandes so wol in
Zeichnung, als in Farbe muß so seyn, daß das Aug,
so viel immer möglich, getäuscht wird, und wahrhafte
natürliche Gegenstände vor sich zu haben glauben
muß. Alles was irgend die Aufmerksamkeit von
dem Gegenstand ableiten oder die Empfindung des
Unnatürlichen oder gar des Unmöglichen erweken
könnte, muß auf das sorgfältigste vermieden seyn.
So wol das Ganze, als jeder einzele Theil, muß,
jedes in seiner Art, den wahrhaften Charakter der
Natur an sich haben.

[Spaltenumbruch]
Gem

Wenn man nach diesen etwas strengen Grund-
sätzen der höchsten Vollkommenheit die Bildergal-
lerien durchsieht, so findet man freylich nicht viel
Gemählde, welche die Probe ganz aushalten. Sehr
selten trift man auf eines, das alle Eigenschaften
in sich vereiniget. Man schätzet schon diejenigen
hoch, in denen einer der verschiedenen zur Vollkom-
menheit gehörigen Theile vorhanden ist; und man
kann nicht in Abrede seyn, daß ein Gemählde, das
in der Erfindung groß ist, wenn gleich Anordnung
und Bearbeitung mangelhaft sind, höchst schätz-
bar sey. Denn wo die Vorstellungkraft durch die
Größe und Lebhaftigkeit der Gegenstände gerührt
ist, da giebt man weniger auf das Fehlerhafte der
Anordnung, oder der Bearbeitung Achtung; die
Einbildungskraft, die einmal ins Feuer gesetzt ist,
ersetzt das mangelhafte. So übersieht man in Ra-
phaels Verklärung Christi die Fehler gegen die Ein-
heit der Handlung und gegen die Anordnung, weil
man allein von der Größe der Gedanken gerührt
wird; so wie man beym Laocoon vergißt, daß das
würkliche Leben dem Marmor fehlet. Gemählde
von großer Erfindung thun schon in ihrer ersten An-
lage, oder ohne Farben in Kupferstichen, fürtreff-
liche Würkung.

Jn den Gemählden, wie in andern Werken der
Kunst, därf nur etwas vorhanden seyn, das die
Vorstellungskraft, oder die Empfindung mit großer
Lebhaftigkeit angreift, um die Phantasie zu reizen,
das übrige zu ersetzen. Denn wie ein Verliebter,
der durch irgend eine Art des Reizes in Leidenschaft
gesetzt worden, an seiner Schönen jede andre Schön-
heit zu sehen glaubt, so leihet auch ein Liebhaber
dem Gemählde Schönheiten, die es nicht hat, wenn
nur etwas darin ist, das seine Einbildungskraft hin-
länglich gereizt hat. Wer empfindet nicht bey den
von Homer gezeichneten Gemählden unendlich mehr,
als die Worte würklich ausdrüken?

Hieraus folget, daß ein Gemähld, wenn nur die
Hauptsache hinlängliche Kraft hat, so wol in der
Anordnung, als in Ausführung merkliche Fehler
verträgt.

Dieses soll aber nicht gesagt seyn, um die Nach-
läßigkeit der Künstler, oder ihr Unvermögen, in ei-
nigen Theilen der Kunst, zu entschuldigen; in einem
vollkommenen Gemählde muß auch der geringste
Theil der Kunst beobachtet seyn. Die Absicht dieser
Anmerkungen ist, dem Künstler einen Wink zu ge-

ben,
Erster Theil. L l l

[Spaltenumbruch]

Gem
ſes iſt eine Art von Zauberey, die uns zwinget, Dinge,
die ihrer Natur nach unendlich verſchieden ſind, fuͤr
(*) S.
Aehnlich-
keit.
einerley zu halten (*), und die uns das volle Leben
in dem voͤllig Lebloſen zeiget. Haͤtte man das We-
ſen der ſchoͤnen Kuͤnſte blos in Erwekung angeneh-
mer Empfindungen zu ſuchen, ſo wuͤrde die Mah-
lerey auch blos des Mechaniſchen halber, einen an-
ſehnlichen Rang unter ihnen behaupten.

Man kann alſo das Weſen des Gemaͤhldes darin
ſetzen, daß es ſichtbare Gegenſtaͤnde, die vortheil-
haft auf das Gemuͤth wuͤrken, vermittelſt Zeichnung
und Farben, als ob ſie in der Natur vorhanden waͤ-
ren, darſtelle. Was durch die vortheilhafte Wuͤr-
kung auf das Gemuͤth zu verſtehen ſey, wird an-
(*) S.
Kunſt.
derswo ausfuͤhrlich erklaͤret (*). Hieraus laſſen ſich
nun die Eigenſchaften des Gemaͤhldes herleiten.

Der Jnhalt muß einen Gegenſtand vorſtellen,
der ſeiner Natur nach intreſſant iſt, der lebhafte
Vorſtellungen in uns erweket; dieſe Vorſtellungen
aber muͤſſen auf etwas Gutes abzielen, ſo daß der,
der dieſen Gegenſtand mit Aufmerkſamkeit betrach-
tet, etwas dabey gewinnt.

Die Anordnung der Theile muß ſo beſchaffen
ſeyn, daß nur eine einzige beſtimmte Hauptvorſtel-
lung aus dem Gemaͤhld entſteht, wozu jeder Theil
nach ſeiner Beſchaffenheit das ſeinige beytraͤgt.
Das Aug muß ohne Ungewißheit ſo gleich auf die
Hauptſache, als den Mittelpunkt der ganzen Vor-
ſtellung geleitet werden, und die Theile muͤſſen eine
ſolche Abhaͤnglichkeit und Unterordnung unter einan-
der haben, daß jeder die Vorſtellungskraft zum Be-
huf des Ganzen unterſtuͤtzet, und in der vortheilhaf-
teſten Ordnung von einem zum andern leitet. Es
muß nirgend etwas Muͤßiges, oder Ueberfluͤßiges,
viel weniger etwas, das die klare und beſtimmte
Vorſtellung des Ganzen ſchwaͤchet oder hindert,
vorhanden ſeyn.

Die Bearbeitung des Gegenſtandes ſo wol in
Zeichnung, als in Farbe muß ſo ſeyn, daß das Aug,
ſo viel immer moͤglich, getaͤuſcht wird, und wahrhafte
natuͤrliche Gegenſtaͤnde vor ſich zu haben glauben
muß. Alles was irgend die Aufmerkſamkeit von
dem Gegenſtand ableiten oder die Empfindung des
Unnatuͤrlichen oder gar des Unmoͤglichen erweken
koͤnnte, muß auf das ſorgfaͤltigſte vermieden ſeyn.
So wol das Ganze, als jeder einzele Theil, muß,
jedes in ſeiner Art, den wahrhaften Charakter der
Natur an ſich haben.

[Spaltenumbruch]
Gem

Wenn man nach dieſen etwas ſtrengen Grund-
ſaͤtzen der hoͤchſten Vollkommenheit die Bildergal-
lerien durchſieht, ſo findet man freylich nicht viel
Gemaͤhlde, welche die Probe ganz aushalten. Sehr
ſelten trift man auf eines, das alle Eigenſchaften
in ſich vereiniget. Man ſchaͤtzet ſchon diejenigen
hoch, in denen einer der verſchiedenen zur Vollkom-
menheit gehoͤrigen Theile vorhanden iſt; und man
kann nicht in Abrede ſeyn, daß ein Gemaͤhlde, das
in der Erfindung groß iſt, wenn gleich Anordnung
und Bearbeitung mangelhaft ſind, hoͤchſt ſchaͤtz-
bar ſey. Denn wo die Vorſtellungkraft durch die
Groͤße und Lebhaftigkeit der Gegenſtaͤnde geruͤhrt
iſt, da giebt man weniger auf das Fehlerhafte der
Anordnung, oder der Bearbeitung Achtung; die
Einbildungskraft, die einmal ins Feuer geſetzt iſt,
erſetzt das mangelhafte. So uͤberſieht man in Ra-
phaels Verklaͤrung Chriſti die Fehler gegen die Ein-
heit der Handlung und gegen die Anordnung, weil
man allein von der Groͤße der Gedanken geruͤhrt
wird; ſo wie man beym Laocoon vergißt, daß das
wuͤrkliche Leben dem Marmor fehlet. Gemaͤhlde
von großer Erfindung thun ſchon in ihrer erſten An-
lage, oder ohne Farben in Kupferſtichen, fuͤrtreff-
liche Wuͤrkung.

Jn den Gemaͤhlden, wie in andern Werken der
Kunſt, daͤrf nur etwas vorhanden ſeyn, das die
Vorſtellungskraft, oder die Empfindung mit großer
Lebhaftigkeit angreift, um die Phantaſie zu reizen,
das uͤbrige zu erſetzen. Denn wie ein Verliebter,
der durch irgend eine Art des Reizes in Leidenſchaft
geſetzt worden, an ſeiner Schoͤnen jede andre Schoͤn-
heit zu ſehen glaubt, ſo leihet auch ein Liebhaber
dem Gemaͤhlde Schoͤnheiten, die es nicht hat, wenn
nur etwas darin iſt, das ſeine Einbildungskraft hin-
laͤnglich gereizt hat. Wer empfindet nicht bey den
von Homer gezeichneten Gemaͤhlden unendlich mehr,
als die Worte wuͤrklich ausdruͤken?

Hieraus folget, daß ein Gemaͤhld, wenn nur die
Hauptſache hinlaͤngliche Kraft hat, ſo wol in der
Anordnung, als in Ausfuͤhrung merkliche Fehler
vertraͤgt.

Dieſes ſoll aber nicht geſagt ſeyn, um die Nach-
laͤßigkeit der Kuͤnſtler, oder ihr Unvermoͤgen, in ei-
nigen Theilen der Kunſt, zu entſchuldigen; in einem
vollkommenen Gemaͤhlde muß auch der geringſte
Theil der Kunſt beobachtet ſeyn. Die Abſicht dieſer
Anmerkungen iſt, dem Kuͤnſtler einen Wink zu ge-

ben,
Erſter Theil. L l l
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0461" n="449"/><cb/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Gem</hi></fw><lb/>
&#x017F;es i&#x017F;t eine Art von Zauberey, die uns zwinget, Dinge,<lb/>
die ihrer Natur nach unendlich ver&#x017F;chieden &#x017F;ind, fu&#x0364;r<lb/><note place="left">(*) S.<lb/>
Aehnlich-<lb/>
keit.</note>einerley zu halten (*), und die uns das volle Leben<lb/>
in dem vo&#x0364;llig Leblo&#x017F;en zeiget. Ha&#x0364;tte man das We-<lb/>
&#x017F;en der &#x017F;cho&#x0364;nen Ku&#x0364;n&#x017F;te blos in Erwekung angeneh-<lb/>
mer Empfindungen zu &#x017F;uchen, &#x017F;o wu&#x0364;rde die Mah-<lb/>
lerey auch blos des Mechani&#x017F;chen halber, einen an-<lb/>
&#x017F;ehnlichen Rang unter ihnen behaupten.</p><lb/>
          <p>Man kann al&#x017F;o das We&#x017F;en des Gema&#x0364;hldes darin<lb/>
&#x017F;etzen, daß es &#x017F;ichtbare Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde, die vortheil-<lb/>
haft auf das Gemu&#x0364;th wu&#x0364;rken, vermittel&#x017F;t Zeichnung<lb/>
und Farben, als ob &#x017F;ie in der Natur vorhanden wa&#x0364;-<lb/>
ren, dar&#x017F;telle. Was durch die vortheilhafte Wu&#x0364;r-<lb/>
kung auf das Gemu&#x0364;th zu ver&#x017F;tehen &#x017F;ey, wird an-<lb/><note place="left">(*) S.<lb/>
Kun&#x017F;t.</note>derswo ausfu&#x0364;hrlich erkla&#x0364;ret (*). Hieraus la&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ich<lb/>
nun die Eigen&#x017F;chaften des Gema&#x0364;hldes herleiten.</p><lb/>
          <p>Der Jnhalt muß einen Gegen&#x017F;tand vor&#x017F;tellen,<lb/>
der &#x017F;einer Natur nach intre&#x017F;&#x017F;ant i&#x017F;t, der lebhafte<lb/>
Vor&#x017F;tellungen in uns erweket; die&#x017F;e Vor&#x017F;tellungen<lb/>
aber mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en auf etwas Gutes abzielen, &#x017F;o daß der,<lb/>
der die&#x017F;en Gegen&#x017F;tand mit Aufmerk&#x017F;amkeit betrach-<lb/>
tet, etwas dabey gewinnt.</p><lb/>
          <p>Die Anordnung der Theile muß &#x017F;o be&#x017F;chaffen<lb/>
&#x017F;eyn, daß nur eine einzige be&#x017F;timmte Hauptvor&#x017F;tel-<lb/>
lung aus dem Gema&#x0364;hld ent&#x017F;teht, wozu jeder Theil<lb/>
nach &#x017F;einer Be&#x017F;chaffenheit das &#x017F;einige beytra&#x0364;gt.<lb/>
Das Aug muß ohne Ungewißheit &#x017F;o gleich auf die<lb/>
Haupt&#x017F;ache, als den Mittelpunkt der ganzen Vor-<lb/>
&#x017F;tellung geleitet werden, und die Theile mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en eine<lb/>
&#x017F;olche Abha&#x0364;nglichkeit und Unterordnung unter einan-<lb/>
der haben, daß jeder die Vor&#x017F;tellungskraft zum Be-<lb/>
huf des Ganzen unter&#x017F;tu&#x0364;tzet, und in der vortheilhaf-<lb/>
te&#x017F;ten Ordnung von einem zum andern leitet. Es<lb/>
muß nirgend etwas Mu&#x0364;ßiges, oder Ueberflu&#x0364;ßiges,<lb/>
viel weniger etwas, das die klare und be&#x017F;timmte<lb/>
Vor&#x017F;tellung des Ganzen &#x017F;chwa&#x0364;chet oder hindert,<lb/>
vorhanden &#x017F;eyn.</p><lb/>
          <p>Die Bearbeitung des Gegen&#x017F;tandes &#x017F;o wol in<lb/>
Zeichnung, als in Farbe muß &#x017F;o &#x017F;eyn, daß das Aug,<lb/>
&#x017F;o viel immer mo&#x0364;glich, geta&#x0364;u&#x017F;cht wird, und wahrhafte<lb/>
natu&#x0364;rliche Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde vor &#x017F;ich zu haben glauben<lb/>
muß. Alles was irgend die Aufmerk&#x017F;amkeit von<lb/>
dem Gegen&#x017F;tand ableiten oder die Empfindung des<lb/>
Unnatu&#x0364;rlichen oder gar des Unmo&#x0364;glichen erweken<lb/>
ko&#x0364;nnte, muß auf das &#x017F;orgfa&#x0364;ltig&#x017F;te vermieden &#x017F;eyn.<lb/>
So wol das Ganze, als jeder einzele Theil, muß,<lb/>
jedes in &#x017F;einer Art, den wahrhaften Charakter der<lb/>
Natur an &#x017F;ich haben.</p><lb/>
          <cb/>
          <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#g">Gem</hi> </fw><lb/>
          <p>Wenn man nach die&#x017F;en etwas &#x017F;trengen Grund-<lb/>
&#x017F;a&#x0364;tzen der ho&#x0364;ch&#x017F;ten Vollkommenheit die Bildergal-<lb/>
lerien durch&#x017F;ieht, &#x017F;o findet man freylich nicht viel<lb/>
Gema&#x0364;hlde, welche die Probe ganz aushalten. Sehr<lb/>
&#x017F;elten trift man auf eines, das alle Eigen&#x017F;chaften<lb/>
in &#x017F;ich vereiniget. Man &#x017F;cha&#x0364;tzet &#x017F;chon diejenigen<lb/>
hoch, in denen einer der ver&#x017F;chiedenen zur Vollkom-<lb/>
menheit geho&#x0364;rigen Theile vorhanden i&#x017F;t; und man<lb/>
kann nicht in Abrede &#x017F;eyn, daß ein Gema&#x0364;hlde, das<lb/>
in der Erfindung groß i&#x017F;t, wenn gleich Anordnung<lb/>
und Bearbeitung mangelhaft &#x017F;ind, ho&#x0364;ch&#x017F;t &#x017F;cha&#x0364;tz-<lb/>
bar &#x017F;ey. Denn wo die Vor&#x017F;tellungkraft durch die<lb/>
Gro&#x0364;ße und Lebhaftigkeit der Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde geru&#x0364;hrt<lb/>
i&#x017F;t, da giebt man weniger auf das Fehlerhafte der<lb/>
Anordnung, oder der Bearbeitung Achtung; die<lb/>
Einbildungskraft, die einmal ins Feuer ge&#x017F;etzt i&#x017F;t,<lb/>
er&#x017F;etzt das mangelhafte. So u&#x0364;ber&#x017F;ieht man in Ra-<lb/>
phaels Verkla&#x0364;rung Chri&#x017F;ti die Fehler gegen die Ein-<lb/>
heit der Handlung und gegen die Anordnung, weil<lb/>
man allein von der Gro&#x0364;ße der Gedanken geru&#x0364;hrt<lb/>
wird; &#x017F;o wie man beym Laocoon vergißt, daß das<lb/>
wu&#x0364;rkliche Leben dem Marmor fehlet. Gema&#x0364;hlde<lb/>
von großer Erfindung thun &#x017F;chon in ihrer er&#x017F;ten An-<lb/>
lage, oder ohne Farben in Kupfer&#x017F;tichen, fu&#x0364;rtreff-<lb/>
liche Wu&#x0364;rkung.</p><lb/>
          <p>Jn den Gema&#x0364;hlden, wie in andern Werken der<lb/>
Kun&#x017F;t, da&#x0364;rf nur etwas vorhanden &#x017F;eyn, das die<lb/>
Vor&#x017F;tellungskraft, oder die Empfindung mit großer<lb/>
Lebhaftigkeit angreift, um die Phanta&#x017F;ie zu reizen,<lb/>
das u&#x0364;brige zu er&#x017F;etzen. Denn wie ein Verliebter,<lb/>
der durch irgend eine Art des Reizes in Leiden&#x017F;chaft<lb/>
ge&#x017F;etzt worden, an &#x017F;einer Scho&#x0364;nen jede andre Scho&#x0364;n-<lb/>
heit zu &#x017F;ehen glaubt, &#x017F;o leihet auch ein Liebhaber<lb/>
dem Gema&#x0364;hlde Scho&#x0364;nheiten, die es nicht hat, wenn<lb/>
nur etwas darin i&#x017F;t, das &#x017F;eine Einbildungskraft hin-<lb/>
la&#x0364;nglich gereizt hat. Wer empfindet nicht bey den<lb/>
von Homer gezeichneten Gema&#x0364;hlden unendlich mehr,<lb/>
als die Worte wu&#x0364;rklich ausdru&#x0364;ken?</p><lb/>
          <p>Hieraus folget, daß ein Gema&#x0364;hld, wenn nur die<lb/>
Haupt&#x017F;ache hinla&#x0364;ngliche Kraft hat, &#x017F;o wol in der<lb/>
Anordnung, als in Ausfu&#x0364;hrung merkliche Fehler<lb/>
vertra&#x0364;gt.</p><lb/>
          <p>Die&#x017F;es &#x017F;oll aber nicht ge&#x017F;agt &#x017F;eyn, um die Nach-<lb/>
la&#x0364;ßigkeit der Ku&#x0364;n&#x017F;tler, oder ihr Unvermo&#x0364;gen, in ei-<lb/>
nigen Theilen der Kun&#x017F;t, zu ent&#x017F;chuldigen; in einem<lb/>
vollkommenen Gema&#x0364;hlde muß auch der gering&#x017F;te<lb/>
Theil der Kun&#x017F;t beobachtet &#x017F;eyn. Die Ab&#x017F;icht die&#x017F;er<lb/>
Anmerkungen i&#x017F;t, dem Ku&#x0364;n&#x017F;tler einen Wink zu ge-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#fr">Er&#x017F;ter Theil.</hi> L l l</fw><fw place="bottom" type="catch">ben,</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[449/0461] Gem Gem ſes iſt eine Art von Zauberey, die uns zwinget, Dinge, die ihrer Natur nach unendlich verſchieden ſind, fuͤr einerley zu halten (*), und die uns das volle Leben in dem voͤllig Lebloſen zeiget. Haͤtte man das We- ſen der ſchoͤnen Kuͤnſte blos in Erwekung angeneh- mer Empfindungen zu ſuchen, ſo wuͤrde die Mah- lerey auch blos des Mechaniſchen halber, einen an- ſehnlichen Rang unter ihnen behaupten. (*) S. Aehnlich- keit. Man kann alſo das Weſen des Gemaͤhldes darin ſetzen, daß es ſichtbare Gegenſtaͤnde, die vortheil- haft auf das Gemuͤth wuͤrken, vermittelſt Zeichnung und Farben, als ob ſie in der Natur vorhanden waͤ- ren, darſtelle. Was durch die vortheilhafte Wuͤr- kung auf das Gemuͤth zu verſtehen ſey, wird an- derswo ausfuͤhrlich erklaͤret (*). Hieraus laſſen ſich nun die Eigenſchaften des Gemaͤhldes herleiten. (*) S. Kunſt. Der Jnhalt muß einen Gegenſtand vorſtellen, der ſeiner Natur nach intreſſant iſt, der lebhafte Vorſtellungen in uns erweket; dieſe Vorſtellungen aber muͤſſen auf etwas Gutes abzielen, ſo daß der, der dieſen Gegenſtand mit Aufmerkſamkeit betrach- tet, etwas dabey gewinnt. Die Anordnung der Theile muß ſo beſchaffen ſeyn, daß nur eine einzige beſtimmte Hauptvorſtel- lung aus dem Gemaͤhld entſteht, wozu jeder Theil nach ſeiner Beſchaffenheit das ſeinige beytraͤgt. Das Aug muß ohne Ungewißheit ſo gleich auf die Hauptſache, als den Mittelpunkt der ganzen Vor- ſtellung geleitet werden, und die Theile muͤſſen eine ſolche Abhaͤnglichkeit und Unterordnung unter einan- der haben, daß jeder die Vorſtellungskraft zum Be- huf des Ganzen unterſtuͤtzet, und in der vortheilhaf- teſten Ordnung von einem zum andern leitet. Es muß nirgend etwas Muͤßiges, oder Ueberfluͤßiges, viel weniger etwas, das die klare und beſtimmte Vorſtellung des Ganzen ſchwaͤchet oder hindert, vorhanden ſeyn. Die Bearbeitung des Gegenſtandes ſo wol in Zeichnung, als in Farbe muß ſo ſeyn, daß das Aug, ſo viel immer moͤglich, getaͤuſcht wird, und wahrhafte natuͤrliche Gegenſtaͤnde vor ſich zu haben glauben muß. Alles was irgend die Aufmerkſamkeit von dem Gegenſtand ableiten oder die Empfindung des Unnatuͤrlichen oder gar des Unmoͤglichen erweken koͤnnte, muß auf das ſorgfaͤltigſte vermieden ſeyn. So wol das Ganze, als jeder einzele Theil, muß, jedes in ſeiner Art, den wahrhaften Charakter der Natur an ſich haben. Wenn man nach dieſen etwas ſtrengen Grund- ſaͤtzen der hoͤchſten Vollkommenheit die Bildergal- lerien durchſieht, ſo findet man freylich nicht viel Gemaͤhlde, welche die Probe ganz aushalten. Sehr ſelten trift man auf eines, das alle Eigenſchaften in ſich vereiniget. Man ſchaͤtzet ſchon diejenigen hoch, in denen einer der verſchiedenen zur Vollkom- menheit gehoͤrigen Theile vorhanden iſt; und man kann nicht in Abrede ſeyn, daß ein Gemaͤhlde, das in der Erfindung groß iſt, wenn gleich Anordnung und Bearbeitung mangelhaft ſind, hoͤchſt ſchaͤtz- bar ſey. Denn wo die Vorſtellungkraft durch die Groͤße und Lebhaftigkeit der Gegenſtaͤnde geruͤhrt iſt, da giebt man weniger auf das Fehlerhafte der Anordnung, oder der Bearbeitung Achtung; die Einbildungskraft, die einmal ins Feuer geſetzt iſt, erſetzt das mangelhafte. So uͤberſieht man in Ra- phaels Verklaͤrung Chriſti die Fehler gegen die Ein- heit der Handlung und gegen die Anordnung, weil man allein von der Groͤße der Gedanken geruͤhrt wird; ſo wie man beym Laocoon vergißt, daß das wuͤrkliche Leben dem Marmor fehlet. Gemaͤhlde von großer Erfindung thun ſchon in ihrer erſten An- lage, oder ohne Farben in Kupferſtichen, fuͤrtreff- liche Wuͤrkung. Jn den Gemaͤhlden, wie in andern Werken der Kunſt, daͤrf nur etwas vorhanden ſeyn, das die Vorſtellungskraft, oder die Empfindung mit großer Lebhaftigkeit angreift, um die Phantaſie zu reizen, das uͤbrige zu erſetzen. Denn wie ein Verliebter, der durch irgend eine Art des Reizes in Leidenſchaft geſetzt worden, an ſeiner Schoͤnen jede andre Schoͤn- heit zu ſehen glaubt, ſo leihet auch ein Liebhaber dem Gemaͤhlde Schoͤnheiten, die es nicht hat, wenn nur etwas darin iſt, das ſeine Einbildungskraft hin- laͤnglich gereizt hat. Wer empfindet nicht bey den von Homer gezeichneten Gemaͤhlden unendlich mehr, als die Worte wuͤrklich ausdruͤken? Hieraus folget, daß ein Gemaͤhld, wenn nur die Hauptſache hinlaͤngliche Kraft hat, ſo wol in der Anordnung, als in Ausfuͤhrung merkliche Fehler vertraͤgt. Dieſes ſoll aber nicht geſagt ſeyn, um die Nach- laͤßigkeit der Kuͤnſtler, oder ihr Unvermoͤgen, in ei- nigen Theilen der Kunſt, zu entſchuldigen; in einem vollkommenen Gemaͤhlde muß auch der geringſte Theil der Kunſt beobachtet ſeyn. Die Abſicht dieſer Anmerkungen iſt, dem Kuͤnſtler einen Wink zu ge- ben, Erſter Theil. L l l

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/461
Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 449. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/461>, abgerufen am 22.11.2024.