Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.[Spaltenumbruch] Gek wesentlichen Vorstellungen, und ist wie Unkraut an-zusehen, das die nützliche Saat erstikt, und darum nicht weniger schadet, wenn es schön und frisch (*) In proem. L. VIII.wächst. Nam illa, sagt Quintilian (*), quae cu- ram fatentur et ficta atque composita videri etiam volunt, nec gratiam consequuntur, et fidem amittunt, propter id quod sensus obumbrant et velut laeto gra- mine sata strangulant. Man verfällt aber in das Gekünstelte, so wol Gek Sed mihi naturam intuenti, nemo non vir, spadoneformosior erit. (*) Die wenigsten Redner erreichen(*) Quint. Inst. die Vollkommenheit, das, was zur Ueberzeugung dienet, deutlich, kurz und angemessen vorzutragen: mehrentheils verdunkeln sie die wahre Vorstellung der Sache, da sie auf schöne Perioden, oder auf einen witzigen Ausdruk, oder auf eine Musterung und Ab- wiegung der Sylben und Buchstaben sehen (*).(*) S. Sextus Emp. ad- vers. Ma them. p. 74. Das Gekünstelte in allen Theilen der Künste ist Gekuppelt. (Baukunst.) Gekuppelte Säulen nennt man diejenigen Säulen, Vermuthlich sind sie ausgedacht worden, um die vier K k k 3
[Spaltenumbruch] Gek weſentlichen Vorſtellungen, und iſt wie Unkraut an-zuſehen, das die nuͤtzliche Saat erſtikt, und darum nicht weniger ſchadet, wenn es ſchoͤn und friſch (*) In prœm. L. VIII.waͤchſt. Nam illa, ſagt Quintilian (*), quæ cu- ram fatentur et ficta atque compoſita videri etiam volunt, nec gratiam conſequuntur, et fidem amittunt, propter id quod ſenſus obumbrant et velut læto gra- mine ſata ſtrangulant. Man verfaͤllt aber in das Gekuͤnſtelte, ſo wol Gek Sed mihi naturam intuenti, nemo non vir, ſpadoneformoſior erit. (*) Die wenigſten Redner erreichen(*) Quint. Inſt. die Vollkommenheit, das, was zur Ueberzeugung dienet, deutlich, kurz und angemeſſen vorzutragen: mehrentheils verdunkeln ſie die wahre Vorſtellung der Sache, da ſie auf ſchoͤne Perioden, oder auf einen witzigen Ausdruk, oder auf eine Muſterung und Ab- wiegung der Sylben und Buchſtaben ſehen (*).(*) S. Sextus Emp. ad- verſ. Ma them. p. 74. Das Gekuͤnſtelte in allen Theilen der Kuͤnſte iſt Gekuppelt. (Baukunſt.) Gekuppelte Saͤulen nennt man diejenigen Saͤulen, Vermuthlich ſind ſie ausgedacht worden, um die vier K k k 3
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Man uͤbertreibt<lb/> aber dieſe Vollkommenheit, wenn man ihm die<lb/> Schoͤnheit eines Frauenzimmers geben will; und man<lb/> zerſtoͤhrt ſie ganz, wenn man ihm durch Beraubung<lb/> der Mannheit ein ſchoͤneres Anſehen giebt. Dieſes<lb/> thut der Kuͤnſtler, der ſeine Werke gekuͤnſtelt macht.<lb/> Hierbey druͤkt ſich Quintilian in folgender Stelle,<lb/> die ſo wol auf andre Kuͤnſte, als auf die Beredſam-<lb/> keit paßt, fuͤrtrefflich aus. <hi rendition="#aq">Declamationes ‒ ‒ ‒<lb/> olim jam ab illa vera imagine orandi receſſerunt<lb/> atque ad ſolam compoſitæ voluptatem, nervis ca-<lb/> rent, non alio medius fidius vitio dicentium, quam<lb/> quo mancipiorum negociatores formæ puerorum,<lb/> virilitate exciſa, lenocinantur. 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Gek
Gek
weſentlichen Vorſtellungen, und iſt wie Unkraut an-
zuſehen, das die nuͤtzliche Saat erſtikt, und darum
nicht weniger ſchadet, wenn es ſchoͤn und friſch
waͤchſt. Nam illa, ſagt Quintilian (*), quæ cu-
ram fatentur et ficta atque compoſita videri etiam
volunt, nec gratiam conſequuntur, et fidem amittunt,
propter id quod ſenſus obumbrant et velut læto gra-
mine ſata ſtrangulant.
(*) In
prœm. L.
VIII.
Man verfaͤllt aber in das Gekuͤnſtelte, ſo wol
wenn man den Endzwek der Kuͤnſte blos im Ergoͤtzen
und Gefallen ſetzet, als wenn man die Graͤnzen des
Aeſthetiſchen uͤberſchreiten will, und niemal genug
haben kann. Wer alles auf das Ergoͤtzen hinfuͤhren
will, der uͤberſieht den eigentlichen Gebrauch der
Dinge, und macht Gegenſtaͤnde, die in ihrer einfa-
chen Natur ſchaͤtzbar ſind und deswegen gefallen wuͤr-
den, zu Spielſachen und zu Gegenſtaͤnden der bloßen
Einbildungskraft, die alsdenn natuͤrlich denkenden
Menſchen nicht mehr gefallen koͤnnen. Die wahren
Graͤnzen des Aeſthetiſchen werden dadurch beſtimmt,
daß jede Sache dasjenige ſinnlich vollkommen ſey,
was ſie ſeyn ſoll; und ſie werden uͤberſchritten, wenn
man einer Sache Annehmlichkeiten anhaͤngen will,
die ihr Weſen nicht nur nicht vollkommener machen,
ſondern wol gar verderben. Zu einer vollkomme-
nen Mannsperſon gehoͤrt allerdings, außer der
Maͤnnlichkeit und Staͤrke des Leibes und Gemuͤths,
auch ein gewiſſes gutes Anſehen. Man uͤbertreibt
aber dieſe Vollkommenheit, wenn man ihm die
Schoͤnheit eines Frauenzimmers geben will; und man
zerſtoͤhrt ſie ganz, wenn man ihm durch Beraubung
der Mannheit ein ſchoͤneres Anſehen giebt. Dieſes
thut der Kuͤnſtler, der ſeine Werke gekuͤnſtelt macht.
Hierbey druͤkt ſich Quintilian in folgender Stelle,
die ſo wol auf andre Kuͤnſte, als auf die Beredſam-
keit paßt, fuͤrtrefflich aus. Declamationes ‒ ‒ ‒
olim jam ab illa vera imagine orandi receſſerunt
atque ad ſolam compoſitæ voluptatem, nervis ca-
rent, non alio medius fidius vitio dicentium, quam
quo mancipiorum negociatores formæ puerorum,
virilitate exciſa, lenocinantur. Nam ut illi robur
atque lacertos, barbamque ante omnia et alia quæ
natura propria maribus dedit, parum exiſtimant de-
cora: quæque ſortia, ſi liceret, forent, ut dura
molliunt: ita nos habitum ipſum orationis virilem,
et illam vim ſtricte robuſteque dicendi, tenera qua-
dam elocutionis arte operimus, et dum levia ſint
ac nitida, quantum valeant, nihil intereſſe arbitramur.
Sed mihi naturam intuenti, nemo non vir, ſpadone
formoſior erit. (*) Die wenigſten Redner erreichen
die Vollkommenheit, das, was zur Ueberzeugung
dienet, deutlich, kurz und angemeſſen vorzutragen:
mehrentheils verdunkeln ſie die wahre Vorſtellung
der Sache, da ſie auf ſchoͤne Perioden, oder auf einen
witzigen Ausdruk, oder auf eine Muſterung und Ab-
wiegung der Sylben und Buchſtaben ſehen (*).
(*) Quint.
Inſt.
Das Gekuͤnſtelte in allen Theilen der Kuͤnſte iſt
ein Fehler, in den die Alten, vornehmlich die Grie-
chen, unendlich ſeltener gefallen ſind, als die Neuern.
Es iſt unter den roͤmiſchen Kayſern, ſo wol in den
redenden als bildenden Kuͤnſten aufgekommen, nach-
dem eine bis zur Abſcheulichkeit uͤbertriebene Ueppig-
keit in der Lebensart, dieſe Herren der ganzen Welt
uͤberall von dem natuͤrlichen Gebrauch der Dinge
abgefuͤhrt hatte. So wie man damals bey den
Mahlzeiten kaum mehr daran dachte, dem Leib eine
gute Nahrung zu geben, ſondern den Geſchmak auf
die mannigfaltigſte Art zu kuͤtzeln, ſo gieng es bey
gar allen natuͤrlichen Beduͤrfniſſen. Den Gebrauch
der ſchoͤnen Kuͤnſte verlohr man ganz, und machte
ſie ebenfalls zu Handlangerinen der Ueppigkeit.
Die natuͤrliche Schoͤnheit, Vollkommenheit und
Staͤrke jedes. Gegenſtandes der Kunſt, wurde durch
den gekuͤnſtelten Schmuk verdraͤngt, und viele neh-
men ietzo viel lieber dieſe verfallene Kunſt zum Mu-
ſter, als die edle Einfalt der alten Griechen.
Gekuppelt.
(Baukunſt.)
Gekuppelte Saͤulen nennt man diejenigen Saͤulen,
die ſo nahe an einander ſtehen, daß ſie mit ihren
Captiteelen und Fuͤßen einander beruͤhren. Die al-
ten griechiſchen Baumeiſter hatten gewiſſe Saͤulen-
weiten feſtgeſetzt, welche ſie fuͤr die verſchiedenen
Faͤlle, wo Saͤulen angebracht werden, fuͤr die be-
ſten hielten. Die geringſte war von fuͤnf Modeln,
ſo daß von einem Stamm der Saͤule zum andern
allemal mehr, als eine Saͤulendike Zwiſchenraum
war. Die gekuppelten Saͤulen ſind alſo ein Einfall
der Neuern.
Vermuthlich ſind ſie ausgedacht worden, um die
Einfoͤrmigkeit einer Saͤulenſtellung zu unterbrechen.
Die Baumeiſter moͤgen gedacht haben, es ſey ſchoͤ-
ner, wenn man anſtatt ſechs oder acht Saͤulen in
gleicher Weite aus einander zuſtellen, allemal zwey
zuſammenſetze, und alſo uͤberhaupt nur drey oder
vier
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