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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Geg Gei
in dem Hauptsatz Pausen vorkommen; denn da in
der Fuge der Gesang, wie ein Strohm, in einem
fortfließen muß, so muß das Stillschweigen der
Hauptstimmen durch eine Zwischenstimme bedekt
werden. 4. Wenn in dem Hauptsatz, vornehm-
lich im Anfang, öftere Bindungen vorkommen; denn
weil dadurch die Bewegung des Gesanges einiger-
maaßen gestöhret oder verdunkelt wird, so kann
dieselbe durch einen Gegensatz wieder merklich und
bestimmt gemacht werden.

Jeder Gegensatz muß sich so wol durch die Melo-
die, als durch die Bewegung von dem Hauptsatz
merklich unterschieden; er muß den Hauptsatz nicht
nachahmen, wie der Gefährte, doch muß er aus
dem Hauptsatz genommen seyn, weil sonst keine
wahre Einheit in dem Stük wäre. Auch muß er
so beschaffen seyn, daß er sich in mehr als einen
Contrapunkt versetzen lasse, damit man bey jeder
Wiederholung des Hauptsatzes eine hinlängliche Ab-
ändrung mit dem Gegensatz machen könne.

Geistreich.
(Redende Künste.)

Man kann sich dieses Worts bedienen, wo das
Wort witzig, wegen seiner Zweydeutigkeit, nicht be-
stimmt genug ist. Man hat den Witz in den reden-
den Künsten so oft übertrieben oder gemißbraucht,
daß der Ausdruk witzig, wenn man ihn von der
Schreibart braucht, bisweilen einen Tadel enthält.
Das Wort Geistreich scheinet von diesem Fleken noch
völlig frey zu seyn, und kann für witzig gebraucht
werden, wenn man die gute Anwendung des Wi-
zes anzeigen will.

Diesemnach wäre dasjenige Geistreich zu nen-
nen, an dem man in einzeln kleinen Theilen viel
scharfsinnige, feine Gedanken und Wendungen ent-
dekt, wodurch die Aufmerksamkeit auch bey Betrach-
tung des Einzelen beständig gereitzt und angenehm
unterhalten wird. Das Geistreiche macht einen
besondern Charakter in den Werken der Kunst aus,
so wie das Pathetische. Nicht jedes schöne Werk
der Kunst ist Geistreich, so wie nicht jedes Pathetisch
ist. Vorstellungen, die in ihrem Wesen groß sind,
und stark auf die Vorstellungs- oder Empfindungs-
kräfte würken, dürfen nicht geistreich seyn. Dieser
Charakter schikt sich für Werke von gemäßigtem Jn-
halt, der mehr die Einbildungskraft und den Geist,
als das Herz beschäftigen soll. Durch das Geistrei-
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Gek
che bekommen sie einen mehrern Reiz. Eine Comö-
die, ein Lehrgedicht, eine Satyre, auch ein Lied,
dem leichten Vergnügen gewiedmet, und andre Werke
von dieser Art, können Geistreich seyn. Aber eine
geistreiche Tragödie oder Elegie würde aus dem
Charakter ihrer Art heraustreten.

Gekünstelt.
(Schöne Künste.)

Man nennt dasjenige gekünstelt, darin die Kunst
übertrieben, oder zur Unzeit angebracht ist; es sey
daß das Uebertriebene in Ueberfluß von Zierrathen,
in erzwungenen Schönheiten, oder in zu weit getrie-
benem Fleiß bestehe. Jn jedem Werke der Kunst,
das einen Werth haben soll, muß uns ein Gegen-
stand dargestellt werden, der seiner Natur nach un-
sre Aufmerksamkeit reitzt. Wir müssen durch den
Gegenstand gerührt oder ergötzt werden. Die Kün-
ste stellen uns diese Gegenstände entweder durch ge-
wisse Zeichen dar, nämlich durch Worte und Töne;
oder sie bilden einen Gegenstand nach der Aehnlichkeit
des natürlichen. Jn allen Fällen kann man sagen, daß
die Künste uns Zeichen darstellen, welche in uns die
Vorstellungen der bezeichneten Sachen erweken sol-
len. Also sind in einem Kunstwerk nicht die Zei-
chen, sondern die bezeichnete Sache dasjenige, was
unsre Vorstellungskraft beschäftigen soll. Jn Wer-
ken, die man Gekünstelt nennt, ist mehr in dem Zei-
chen, als zur Bezeichnung der Sache nöthig ist.
Daher wird die Aufmerksamkeit bey solchen Werken
von der Sache auf das Zeichen gelenkt, welches der
Absicht und Natur der Kunst entgegen ist.

So ist eine Rede gekünstelt, wenn die Gedanken,
der Ausdruk, und der Ton der Worte mehr Zier-
lichkeit, Witz und Wolklang haben, als man na-
türlicher Weise von einem Menschen, der seine Ge-
danken und Empfindungen in denselben Umständen
ausdrüken würde, erwarten könnte. Denn das
was darin zu viel ist, verräth den Künstler, welcher
über die Natur hat heraus gehen wollen. Die
wahre Kunst ist der richtige Ausdruk der schönen
Natur; das Uebertriebene der Kunst oder Gekün-
stelte giebt der Natur einen Zusatz, der ihr wahres
Wesen verstellt.

Weil man also beym Gekünstelten nicht so wol
die Natur, als den ihr angehängten Schmuk gewahr
wird, so thut es dem Zwek des Werks großen Scha-
den, und wird deswegen wiedrig. Es hemmt die

wesent-

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Geg Gei
in dem Hauptſatz Pauſen vorkommen; denn da in
der Fuge der Geſang, wie ein Strohm, in einem
fortfließen muß, ſo muß das Stillſchweigen der
Hauptſtimmen durch eine Zwiſchenſtimme bedekt
werden. 4. Wenn in dem Hauptſatz, vornehm-
lich im Anfang, oͤftere Bindungen vorkommen; denn
weil dadurch die Bewegung des Geſanges einiger-
maaßen geſtoͤhret oder verdunkelt wird, ſo kann
dieſelbe durch einen Gegenſatz wieder merklich und
beſtimmt gemacht werden.

Jeder Gegenſatz muß ſich ſo wol durch die Melo-
die, als durch die Bewegung von dem Hauptſatz
merklich unterſchieden; er muß den Hauptſatz nicht
nachahmen, wie der Gefaͤhrte, doch muß er aus
dem Hauptſatz genommen ſeyn, weil ſonſt keine
wahre Einheit in dem Stuͤk waͤre. Auch muß er
ſo beſchaffen ſeyn, daß er ſich in mehr als einen
Contrapunkt verſetzen laſſe, damit man bey jeder
Wiederholung des Hauptſatzes eine hinlaͤngliche Ab-
aͤndrung mit dem Gegenſatz machen koͤnne.

Geiſtreich.
(Redende Kuͤnſte.)

Man kann ſich dieſes Worts bedienen, wo das
Wort witzig, wegen ſeiner Zweydeutigkeit, nicht be-
ſtimmt genug iſt. Man hat den Witz in den reden-
den Kuͤnſten ſo oft uͤbertrieben oder gemißbraucht,
daß der Ausdruk witzig, wenn man ihn von der
Schreibart braucht, bisweilen einen Tadel enthaͤlt.
Das Wort Geiſtreich ſcheinet von dieſem Fleken noch
voͤllig frey zu ſeyn, und kann fuͤr witzig gebraucht
werden, wenn man die gute Anwendung des Wi-
zes anzeigen will.

Dieſemnach waͤre dasjenige Geiſtreich zu nen-
nen, an dem man in einzeln kleinen Theilen viel
ſcharfſinnige, feine Gedanken und Wendungen ent-
dekt, wodurch die Aufmerkſamkeit auch bey Betrach-
tung des Einzelen beſtaͤndig gereitzt und angenehm
unterhalten wird. Das Geiſtreiche macht einen
beſondern Charakter in den Werken der Kunſt aus,
ſo wie das Pathetiſche. Nicht jedes ſchoͤne Werk
der Kunſt iſt Geiſtreich, ſo wie nicht jedes Pathetiſch
iſt. Vorſtellungen, die in ihrem Weſen groß ſind,
und ſtark auf die Vorſtellungs- oder Empfindungs-
kraͤfte wuͤrken, duͤrfen nicht geiſtreich ſeyn. Dieſer
Charakter ſchikt ſich fuͤr Werke von gemaͤßigtem Jn-
halt, der mehr die Einbildungskraft und den Geiſt,
als das Herz beſchaͤftigen ſoll. Durch das Geiſtrei-
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Gek
che bekommen ſie einen mehrern Reiz. Eine Comoͤ-
die, ein Lehrgedicht, eine Satyre, auch ein Lied,
dem leichten Vergnuͤgen gewiedmet, und andre Werke
von dieſer Art, koͤnnen Geiſtreich ſeyn. Aber eine
geiſtreiche Tragoͤdie oder Elegie wuͤrde aus dem
Charakter ihrer Art heraustreten.

Gekuͤnſtelt.
(Schoͤne Kuͤnſte.)

Man nennt dasjenige gekuͤnſtelt, darin die Kunſt
uͤbertrieben, oder zur Unzeit angebracht iſt; es ſey
daß das Uebertriebene in Ueberfluß von Zierrathen,
in erzwungenen Schoͤnheiten, oder in zu weit getrie-
benem Fleiß beſtehe. Jn jedem Werke der Kunſt,
das einen Werth haben ſoll, muß uns ein Gegen-
ſtand dargeſtellt werden, der ſeiner Natur nach un-
ſre Aufmerkſamkeit reitzt. Wir muͤſſen durch den
Gegenſtand geruͤhrt oder ergoͤtzt werden. Die Kuͤn-
ſte ſtellen uns dieſe Gegenſtaͤnde entweder durch ge-
wiſſe Zeichen dar, naͤmlich durch Worte und Toͤne;
oder ſie bilden einen Gegenſtand nach der Aehnlichkeit
des natuͤrlichen. Jn allen Faͤllen kann man ſagen, daß
die Kuͤnſte uns Zeichen darſtellen, welche in uns die
Vorſtellungen der bezeichneten Sachen erweken ſol-
len. Alſo ſind in einem Kunſtwerk nicht die Zei-
chen, ſondern die bezeichnete Sache dasjenige, was
unſre Vorſtellungskraft beſchaͤftigen ſoll. Jn Wer-
ken, die man Gekuͤnſtelt nennt, iſt mehr in dem Zei-
chen, als zur Bezeichnung der Sache noͤthig iſt.
Daher wird die Aufmerkſamkeit bey ſolchen Werken
von der Sache auf das Zeichen gelenkt, welches der
Abſicht und Natur der Kunſt entgegen iſt.

So iſt eine Rede gekuͤnſtelt, wenn die Gedanken,
der Ausdruk, und der Ton der Worte mehr Zier-
lichkeit, Witz und Wolklang haben, als man na-
tuͤrlicher Weiſe von einem Menſchen, der ſeine Ge-
danken und Empfindungen in denſelben Umſtaͤnden
ausdruͤken wuͤrde, erwarten koͤnnte. Denn das
was darin zu viel iſt, verraͤth den Kuͤnſtler, welcher
uͤber die Natur hat heraus gehen wollen. Die
wahre Kunſt iſt der richtige Ausdruk der ſchoͤnen
Natur; das Uebertriebene der Kunſt oder Gekuͤn-
ſtelte giebt der Natur einen Zuſatz, der ihr wahres
Weſen verſtellt.

Weil man alſo beym Gekuͤnſtelten nicht ſo wol
die Natur, als den ihr angehaͤngten Schmuk gewahr
wird, ſo thut es dem Zwek des Werks großen Scha-
den, und wird deswegen wiedrig. Es hemmt die

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[444/0456] Geg Gei Gek in dem Hauptſatz Pauſen vorkommen; denn da in der Fuge der Geſang, wie ein Strohm, in einem fortfließen muß, ſo muß das Stillſchweigen der Hauptſtimmen durch eine Zwiſchenſtimme bedekt werden. 4. Wenn in dem Hauptſatz, vornehm- lich im Anfang, oͤftere Bindungen vorkommen; denn weil dadurch die Bewegung des Geſanges einiger- maaßen geſtoͤhret oder verdunkelt wird, ſo kann dieſelbe durch einen Gegenſatz wieder merklich und beſtimmt gemacht werden. Jeder Gegenſatz muß ſich ſo wol durch die Melo- die, als durch die Bewegung von dem Hauptſatz merklich unterſchieden; er muß den Hauptſatz nicht nachahmen, wie der Gefaͤhrte, doch muß er aus dem Hauptſatz genommen ſeyn, weil ſonſt keine wahre Einheit in dem Stuͤk waͤre. Auch muß er ſo beſchaffen ſeyn, daß er ſich in mehr als einen Contrapunkt verſetzen laſſe, damit man bey jeder Wiederholung des Hauptſatzes eine hinlaͤngliche Ab- aͤndrung mit dem Gegenſatz machen koͤnne. Geiſtreich. (Redende Kuͤnſte.) Man kann ſich dieſes Worts bedienen, wo das Wort witzig, wegen ſeiner Zweydeutigkeit, nicht be- ſtimmt genug iſt. Man hat den Witz in den reden- den Kuͤnſten ſo oft uͤbertrieben oder gemißbraucht, daß der Ausdruk witzig, wenn man ihn von der Schreibart braucht, bisweilen einen Tadel enthaͤlt. Das Wort Geiſtreich ſcheinet von dieſem Fleken noch voͤllig frey zu ſeyn, und kann fuͤr witzig gebraucht werden, wenn man die gute Anwendung des Wi- zes anzeigen will. Dieſemnach waͤre dasjenige Geiſtreich zu nen- nen, an dem man in einzeln kleinen Theilen viel ſcharfſinnige, feine Gedanken und Wendungen ent- dekt, wodurch die Aufmerkſamkeit auch bey Betrach- tung des Einzelen beſtaͤndig gereitzt und angenehm unterhalten wird. Das Geiſtreiche macht einen beſondern Charakter in den Werken der Kunſt aus, ſo wie das Pathetiſche. Nicht jedes ſchoͤne Werk der Kunſt iſt Geiſtreich, ſo wie nicht jedes Pathetiſch iſt. Vorſtellungen, die in ihrem Weſen groß ſind, und ſtark auf die Vorſtellungs- oder Empfindungs- kraͤfte wuͤrken, duͤrfen nicht geiſtreich ſeyn. Dieſer Charakter ſchikt ſich fuͤr Werke von gemaͤßigtem Jn- halt, der mehr die Einbildungskraft und den Geiſt, als das Herz beſchaͤftigen ſoll. Durch das Geiſtrei- che bekommen ſie einen mehrern Reiz. Eine Comoͤ- die, ein Lehrgedicht, eine Satyre, auch ein Lied, dem leichten Vergnuͤgen gewiedmet, und andre Werke von dieſer Art, koͤnnen Geiſtreich ſeyn. Aber eine geiſtreiche Tragoͤdie oder Elegie wuͤrde aus dem Charakter ihrer Art heraustreten. Gekuͤnſtelt. (Schoͤne Kuͤnſte.) Man nennt dasjenige gekuͤnſtelt, darin die Kunſt uͤbertrieben, oder zur Unzeit angebracht iſt; es ſey daß das Uebertriebene in Ueberfluß von Zierrathen, in erzwungenen Schoͤnheiten, oder in zu weit getrie- benem Fleiß beſtehe. Jn jedem Werke der Kunſt, das einen Werth haben ſoll, muß uns ein Gegen- ſtand dargeſtellt werden, der ſeiner Natur nach un- ſre Aufmerkſamkeit reitzt. Wir muͤſſen durch den Gegenſtand geruͤhrt oder ergoͤtzt werden. Die Kuͤn- ſte ſtellen uns dieſe Gegenſtaͤnde entweder durch ge- wiſſe Zeichen dar, naͤmlich durch Worte und Toͤne; oder ſie bilden einen Gegenſtand nach der Aehnlichkeit des natuͤrlichen. Jn allen Faͤllen kann man ſagen, daß die Kuͤnſte uns Zeichen darſtellen, welche in uns die Vorſtellungen der bezeichneten Sachen erweken ſol- len. Alſo ſind in einem Kunſtwerk nicht die Zei- chen, ſondern die bezeichnete Sache dasjenige, was unſre Vorſtellungskraft beſchaͤftigen ſoll. Jn Wer- ken, die man Gekuͤnſtelt nennt, iſt mehr in dem Zei- chen, als zur Bezeichnung der Sache noͤthig iſt. Daher wird die Aufmerkſamkeit bey ſolchen Werken von der Sache auf das Zeichen gelenkt, welches der Abſicht und Natur der Kunſt entgegen iſt. So iſt eine Rede gekuͤnſtelt, wenn die Gedanken, der Ausdruk, und der Ton der Worte mehr Zier- lichkeit, Witz und Wolklang haben, als man na- tuͤrlicher Weiſe von einem Menſchen, der ſeine Ge- danken und Empfindungen in denſelben Umſtaͤnden ausdruͤken wuͤrde, erwarten koͤnnte. Denn das was darin zu viel iſt, verraͤth den Kuͤnſtler, welcher uͤber die Natur hat heraus gehen wollen. Die wahre Kunſt iſt der richtige Ausdruk der ſchoͤnen Natur; das Uebertriebene der Kunſt oder Gekuͤn- ſtelte giebt der Natur einen Zuſatz, der ihr wahres Weſen verſtellt. Weil man alſo beym Gekuͤnſtelten nicht ſo wol die Natur, als den ihr angehaͤngten Schmuk gewahr wird, ſo thut es dem Zwek des Werks großen Scha- den, und wird deswegen wiedrig. Es hemmt die weſent-

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 444. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/456>, abgerufen am 22.11.2024.